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Das Massaker Sabra und Chatila

14. Mai 2001

Zum Verständnis des palästinensischen Widerstands, Teil 2

Die Besetzung Westbeiruts im Jahre 1982 wurde vom Ministerpräsidenten Menachem Begin und vom damaligen Verteidigungsminister Ariel Sharon beschlossen – ein eindeutiger Bruch des Waffenstillstandsabkommens, sowie der Zusage, die die Israelis an Reagan gegeben hatten, sie würden nach dem Abzug der PLO Westbeirut nicht mehr betreten. Die militärischen Aktionen gegen die Flüchtlingslager Sabra und Chatila wurden in engster Konsultation zwischen der Spitze des israelischen Heeres, das heißt dem Verteidigungsminister Sharon, dem Kommandeur der Region Nordisrael Drori, Generalstabschef Eitan und auf der anderen Seite den militärischen Führern der libanesischen Faschisten, der sogenannten „christlichen Milizen“, sowie dem Chef des libanesischen Geheimdienstes, der libanesischen Militärpolizei und anderen Kräften geplant und ausgeführt. Die Israelis steuerten arabischsprechende Sondereinheiten bei, sowie Ausrüstung, Waffen und Geld. Sie übernahmen beim Massenmord in den Lagern die Logistik, bombten und beschossen das Lager aus der Luft, während verschiedene faschistische Banden in den Lagern den Massenmord ausführten: eine klare militärische Arbeitsteilung. Die Israelis steuerten auch phasenweise den Rückzug der faschistischen Banden aus den Lagern, um es selbst unter Beschuß nehmen zu können, und deren erneutes Eindringen. In den Lagern wurden die Menschen nicht nur erschossen, ihnen wurden auch die Köpfe zerspalten, Körper wurden zersägt. Sharon ist einer der Hauptverantwortlichen für die Koordination (und ergo die Resultate) des Massenmordes. Damit ist die Lüge eines Kampfes „unter Arabern“ widerlegt.
18 Jahre danach erinnern sich die Leute daran, als ob es gestern gewesen wäre. Ebenso erinnerten sich die Leute bei Sharons provokativer Geste auf dem Harem ash-Sharif an Sabra und Chatila. Ja es war wohl beabsichtigt, daß sie sich daran erinnerten. Sie sollten sich daran erinnern und dadurch gedemütigt werden. Eine lupenreine zynisch-zionistische Strategie der psychologischen Kriegsführung. Sharon, der Schlächter von Beirut, hatte in ihr eine präzise Funktion. Im Folgenden ein neuerer Augenzeugenbericht über das Massaker von Sabra und Chatila, den wir aus dem manifesto übersetzt haben.

Das Massaker ist aktueller denn eh und je!

„Wir in den Flüchtlingslagern sind der lebendige Beweis für das Unrecht, das den Palästinensern angetan wurde und das darin seinen Ausdruck findet, daß heute die Mehrheit unseres Volkes, über 3, 5 Millionen Menschen, von ihrem Land getrennt im Exil zu leben hat. Wir haben das Recht auf Rückkehr, das wird uns von der UNO-Resolution 194 garantiert. Aber deshalb war es immer das Hauptbestreben der israelischen wie der amerikanischen Regierung, und der anderen Regierungen in der Region, die Flüchtlingslager mit Bomben, Belagerungen, Massakern, durch wirtschaftlichen Druck, mit dem Mittel des sozialen Verfalls und durch Assimilation zu zerstören. Wir wollen aber keine Libanesen, noch Iraker oder Kanadier werden und wir gehen von hier erst dann weg, wenn wir in unser Dorf in Palästina zurückkehren können, und wenn wir noch einmal 50 Jahre in dieser Hölle verbringen müßten.

Abu Kemal ist 65 Jahre alt, trägt eine Brille mit dicken Gläsern, und sitzt ganz mager auf einem Plastiksessel im Halbdunkel eines Ganges des ehemaligen Gaza-Spitals in Sabra. Er bittet uns in sein kleines Zimmer, in dem er mit seiner Frau zwei Kindern wohnt. Vier weitere Söhne schlafen im Zimmer nebenan, drei von ihnen sind arbeitslos, einer arbeitet schwarz in einer Kurzwarenfabrik. Er verdient halb so viel wie seine libanesischen Arbeitskollegen.

In einem Kasten sind Matratzen aufgestapelt, jeden Abend werden sie zwischen Gaskocher und Kredenz auf den Boden gelegt. Das Geschirr wird in einer dunklen Nische gewaschen, die sich in der Mitte des Ganges befindet. Diese Abwasch müssen sich alle 28 Familien teilen, die auf diesem Stockwerk leben. Alles Flüchtlinge ohne eigene Wohnung.

Es gibt nur fünf Toiletten. Spärliche Beleuchtung. Einige Glühbirnen hängen an einem Seil und beleuchten zur Not die Gänge jenes Gebäudes, das einst das modernste Krankenhaus des Palästinensischen Roten Halbmondes war. Stummer Zeuge des Massakers, das im September 1982 von den proisraelischen Milizen angerichtet wurde, von denen 2000 palästinensische und libanesische Bewohner des Stadtviertels ermordet wurden. Ebenso Zeuge der Angriffe, die in den Jahren 1985 bis 1987 gegen das Lager erfolgten, und bei denen es, diesmal von den prosyrischen schiitischen Amal-Milizen, in Brand gesteckt wurde. Bei diesen zwei Jahre lang andauernden Angriffen, während derer auch Bomben eingesetzt wurden, sind Sabra und Chatila ein zweites Mal, zu 80%, zerstört worden. Hunderte Menschen fanden dabei den Tod.

Die Geschichte von Abu Kemal, das ist die der mehr als 350 000 palästinensischen Flüchtlinge im Libanon. Er ist ein immer noch agiler alter Mann mit zwar ermatteten Augen, aber nach wie vor mit seiner ganzen überzeugenden politischen Schärfe und Gegenwärtigkeit, mit der er sich und die Seinen vor dem sicheren Tod gerettet hat. 1948 verjagten ihn die zionistische Truppen von seinem Wohnort in Nordgaliläa, aber es gelang ihm, durch die feindlichen Linien wieder durchzudringen und in sein (noch nicht völlig zerstörtes) Dorf zurückzugelangen, – anders als so vielen Jungen und weniger Jungen, die bei diesem Versuch ums Leben kamen; in der israelischen Presse wurden sie als Saboteure abgestempelt. Fünf Jahre lang kam er bei verschiedenen Verwandten unter.

Dann wurde er von der israelischen Polizei entdeckt und sofort nach Jordanien abgeschoben. Hier galt er erneut als „eingeschleuster Saboteur“ und verbrachte ohne Gerichtsverfahren vier Jahre in einem Gefängnis in der Nähe von Amman. Darauf wurde er buchstäblich aus dem Land geworfen und in den Libanon abgeschoben. Seit 1961 lebt er im Flüchtlingslager Chatila. Er kann es bezeugen, wie die Flüchtlinge in den Sechziger-und Siebzigerjahren zu militanten Widerstandskämpfern wurden, er kennt die Verfolgungen, die immer grausamer wurden und die Aufgabe hatten, die Palästinenser physisch und politisch zu liquidieren.

Seine Verwandten erzählen uns die Geschichte von der Einkesselung von Tal al Zaatar durch die christlichen Phalange-Milizen, die beschlossen hatten, im Zuge der ethnischen Säuberungen Beiruts die Palästinenser aus der Stadt zu entfernen. Mit dem Beiruter Hafenviertel Karanta war dies bereits zuvor geschehen: diejenigen, die sich nicht in Sicherheit bringen konnten, wurden zu Hunderten dahingemordet. Die Besetzung von Tal al Zaatar durch die Falangisten ereignete sich vor den Augen der syrischen Truppen, die die Falangisten im Kampf gegen die Linken und Palästinenser unterstützten.

„Wir hatten kein Wasser, kein Essen, die Sonne brannte auf uns, ununterbrochen gingen die Bomben nieder, in dieser Hölle sind mindestens zweitausend von uns gestorben sagte uns eine 60jährige Frau in traditioneller palästinensischer Kleidung „. „Dann hat sich das Lager übergeben, und von den Überlebenden sind an einem einzigen Tag tausend Menschen, zum großen Teil Alte, Frauen und Kinder verschwunden. Von ihnen hat man nie mehr etwas gehört.“

Abu Kemal aber ist einer der Überlebenden der schrecklichen Bombardements vom Sommer 1982, die während der israelischen Invasion stattfanden. Über die palästinensische und libanesische Zivilbevölkerung breitete sich ein Feuersturm aus Phosphorbomben … aus, von dem in Sekundenschnelle ganze Wohnblocks in Schutt und Asche gelegt wurden. Es waren natürlich vor allem die Stadtviertel mit starken palästinensischen Bevölkerungsanteil, die beschossen wurden: Sabra, Chatila, Bourje el Barajneh, Fakhani, das Unesco-Viertel, Bir Hassan, Bir al Abed. Das Endergebnis dieses Gemetzels: beinahe 3000 Tote und 6000 Verletzte innerhalb weniger Wochen.

„Ohne Erinnerung wird es niemals Frieden geben!“ sagt eine Nachbarin von Abu Kemal und erzählt von den schrecklichen Phosphorbombardements im Süden Beiruts. „Ich war damals im Krankenhaus von Barbir, ich glaube, es war der 29. Juli, da wurde eine vollzählige Familie eingeliefert. Sie brannten noch und brannten stundenlang weiter. Die Ärzte legten zwei ihrer Kinder ins Wasser, doch es half nichts. Als sie sie eine Stunde später wieder herausholten, brannten sie immer noch. Selbst in der Leichenhalle rauchten sie noch weiter. Etwas Vergleichbares hatten wir nicht gesehen. Es war wie die Hölle. Später bombardierten die Israelis das Waisenhaus, das in der Nähe von Chatila lag und sperrten 600 000 Bewohnern von Westbeirut Licht und Wasser ab.

Aber das Schlimmste sollte noch kommen…“Die Fedayin begannen, sich am 21. August aus Beirut zurückzuziehen „, berichtete Abu Kemal und bot uns dabei einen ausgezeichneten Kaffee an, „und von Washington, Paris und Rom wurde die Garantie gegeben, die internationalen Truppen würden die palästinensischen Flüchtlingslager Sabra, Chatila und Bourj el Barajneh schützen. Aber als sich nach der Wahl zum Präsidenten von Bechir Gemayel, dem Führer der mit Israel verbündeten Falange, am 23. August, und nach der Abreise von Arafat am 30.August die multinationalen Truppen bereits zwei Wochen vor dem eigentlichen Termin, nämlich am 11. September, zurückzogen, da war mir klar, daß wir in eine Falle geraten waren und daß Israel sein Versprechen gegenüber dem Sonderbeauftragten der USA Philip Habib, nicht in Westbeirut einzumarschieren, nicht einhalten würde … Als am 14. September Bachir Gemayel bei einem Attentat ums Leben kam, hatte ich die Gewißheit, daß auch unser Leben in Gefahr war. Die Israelis waren im Begriff, in Westbeirut einzumarschieren.“ Der alte Palästinenser erzählte uns dann, als wir am Rand des Lagers gingen, wo noch immer alles voller Trümmern und Schutt ist, wie er am Abend des 11. September, als er die ersten Panzer von zwei Seiten her auf das Lager zufahren sah, beschloß, seine Familie in Sicherheit zu bringen. Sie flohen durchs Stadtviertel von Sabra. Nur ein einziges Mal kehrte er mit seinem Sohn zurück, um Freunde und Verwandte zu warnen. Zur Essenszeit besetzten die israelischen Truppen an diesem Tag das Akka-Spital am Eingang des Lagers: „Von den meisten Ärzten, Krankenschwestern und Patienten, haben wir nichts mehr gehört.“ Als das Bombardement aufhörte, war der Himmel vom Raketenbeschuss des Heeres taghell erleuchtet, und es begann das Knattern der Maschinengewehre und Maschinenpistolen.

Am Abend des 16. September landete eine mit bewaffneten Männern vollgeladene israelische Hercules C-130 auf dem Flughafen von Beirut, der nicht weit von Chatila liegt. Einige Zeugen berichten, daß es sich dabei um Männer der „Armee des Freien Libanon“ des Major Haddad gehandelt habe. Sie wurden von den Falangisten empfangen, die unter dem Kommando von Elie Hobeika standen (der später ein Mann der Syrer wurde und schließlich in der vorletzten libanesischen Regierung Minister.) Ein Zug von 30 LKWs ging dann nach Chatila ab und da begann das blutrünstige Morden. Straße um Straße wurden die Leute niedergemetzelt, zu Dutzenden getötet, Frauen und Mädchen wurden vergewaltigt und dann mit Bajonetten umgebracht. Ebenso ging es den Kleinkindern. Sie wurden regelrecht in Stücke geschnitten und auf den Eßtischen der einfachen Lagerbewohner wieder zusammengeschichtet.

„Das Massaker dauerte den ganzen Freitag den 17. September an“, fährt ein anderer älterer Palästinenser fort, „die Israelis hielten das Lager weiterhin umstellt und verhinderten, daß irgendjemand fliehen konnte. Die ganze Nacht über erhellten sie die Straßen mit ihren Leuchtkugeln, um die Mörder zu unterstützen. Die Israelis nahmen mit nicht-libanesischen Söldnern, die weiß Gott woher kamen, unmittelbar an dem Massaker teil. Die eigentlichen Kriegsverbrecher, die auf die Anklagebank gehören, sind Begin, der inzwischen verstorbene damalige Ministerpräsident, der die Frechheit hatte zu sagen: „Wenn Nichtjuden Nichtjuden töten, was geht uns das an?“, der damalige Verteidigungsminister Ariel Sharon und der Oberbefehlshaber des Heeres Rafael Eitan und jene „demokratischen“ Intellektuellen wie Jane Fonda, die den Verbrechern ihre Solidarität aussprach, während unsere Kinder gerade von den Phosphorbomben verbrannt wurden.“

„2000 Menschen hatten hier im Gaza-Spital Schutz gesucht, doch sobald die ausländischen Ärzte verhaftet und am Abend des 18. September weggebracht worden waren“, erzählt ein ehemaliger Krankenpfleger von Sabra, „wurden die meisten Menschen, durch die Bank Frauen und Kinder, hier vor dem Spital erschossen. Die Gehsteige waren voller aufeinander liegender Leichen. Ein wenig später, kurz vor Eintreffen der Presse, gegen 7 Uhr 30 morgen, wurden ihre Körper mit Bulldozern abtransportiert und in ein Massengrab geschaufelt, dessen Existenz bis heute niemand offiziell bestätigen will. Es liegt beim alten Golfplatz zwischen hier und dem Flugplatz.“

„Was mit fast 1000 Leichen geschehen ist, davon hat man nichts mehr erfahren“, knüpft eine ältere Palästinenserin in tadellosem Englisch an, während sie uns zu dem jetzt von syrischen Truppen kontrollierten Ausgang begleitet. „Weitere hunderte Opfer befinden sich in einem Massengrab in der Nähe der kuwaitischen Botschaft.“ Es ist ein verlassener Platz, auf den heute die Abfälle des nahegelegenen Marktes geworfen werden. „Sie verachten uns, wenn wir noch am Leben sind, indem sie uns zwingen, praktisch einer auf dem anderen zu hausen, ohne Geld und ohne Arbeit, und nicht einmal als Tote haben wir das Recht auf ein angemessenes Begräbnis.“

So sprach sie, als wir gerade durch den Markt gingen, der bloß einige Schritte vom Massengrab entfernt liegt.

„Aber es wird ihnen nicht gelingen, uns aus der Erinnerung zu löschen, denn es ist wie Mahmoud Darwish geschrieben hat: Unsere Wurzeln reichen bis in den Abgrund und entspringen jenseits der Zeitläufte, ja jenseits der Zeit selbst … Wir hassen niemanden … aber hütet euch, hütet euch vor unserem Hunger, hütet euch vor unserem Zorn.“

Stefano Chiarini: Attualità  di un massacro, Manifesto; 28. 7. 2000

Übersetzung: Aug und Ohr, Gegeninformationsinitiative

Hervorhebungen von AuO

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