Ein in einem Wiener Spital liegender verletzter Palästinenser erzählt aus seinem Leben
Anfang Mai 2001 ist eine weitere Gruppe von Verletzten aus Palästina zur Behandlung in Wien angekommen. Es handelt sich um drei 15-Jährige, zwei aus Rafah im Gaza-Streifen und einer aus Jenin im Westjordanland.
Hilal aus Jenin ist von einer Kugel im Gesicht getroffen worden, die ihm den Kiefer zerbrach und den Mittelohrbereich beschädigte. Mohammed wurde auf dem Weg zur Schule von einem Geschoss, der sein rechtes Bein durchbrach und in sein linkes eindrang, getroffen. Das Projektil wurde ihm aus dem linken Bein entfernt, wobei eine physikalische Therapie nötig ist, damit sich die zerstörten Nerven im rechten Bein regenerieren. Mahdi war im gleichen Zeitraum von einer Patrone von einem Panzer-MG800 (20 mm) im rechten Bein getroffen worden. Eine Nerventransplantation aus dem linken Bein war nötig, damit sich der gelähmte Unterbereich des Beines wieder bewegen kann.
Wir besuchten Mahdi Omar nach der Operation im Wiener AKH, wo er eine Woche verbrachte, bevor die physikalische Therapie beginnen soll. Es ist nicht leicht, einen fünfzehnjährigen Helden zu interviewen. Wir lassen Mahdi über sein Leben im Gaza-Streifen erzählen. Seine spontanen Aussagen sind der beste Ausdruck dafür, wie ein Mensch mit fünfzehn Jahren zum Helden wird.
Er erzählte über den Beginn der Intifada, und wir er verletzt wurde: „Es hat Anfang Oktober 2000 begonnen, als die Nachricht über das Massaker im Haram in Jerusalem eintraf. Nach dem Eindringen von Sharon in die Moschee sind fünf Personen bei den Protesten umgebracht worden. Die Demonstrationen fingen im Norden des Gaza-Streifens an und verbreiteten sich in den Süden. Es war am Nachmittag und ich war zu Hause. Die Burschen gingen zum Saladdin-Tor [Grenzübergang nach Ägypten, die Red.] und bewarfen die Soldaten mit Steinen. Dort hat es schon einen Schusswechsel gegeben und der erste aus Rafah ist gefallen. Er hieß Saleh Riad. Wir gingen täglich zu dieser Stelle, um gegen die Besatzungssoldaten zu demonstrieren. Dort gibt es ein Gebäude, das früher ein arabisches Haus war und weil es gleich an der Grenze lag nach dem Oslo-Abkommen von den Israelis besetzt wurde. Die meisten Demonstranten griffen dort an. Ich ging mit meinen Freunden zum Brasil-Viertel östlich des Tores und wir warfen Steine auf die Panzer auf der Hauptstrasse, die zwischen zwei Zäunen liegt und uns von Ägypten trennt. Wir waren täglich dort und die Panzer antworteten mit den MG`s. Die Panzer fuhren vorbei und schossen ununterbrochen, bis sie verschwanden. Dort sind viele Burschen gefallen oder wurden verletzt. Ich kam am 18. Februar 2001 dran. Ich stand mit meinen Freunden auf einer Betonmauer, die von der Straße durch ein Gebüsch getrennt ist. Der Panzer fing schon von der Ferne an zu schießen. Ich wurde getroffen, bevor ich den ersten Stein werfen konnte. Ich fiel ins Gebüsch und meine Freunde konnten entfliehen. Der Panzer hielt an und schoss zwanzig Minuten lang und ich blieb im Gebüsch versteckt. Hätten sie mich gesehen, wäre ich heute nicht hier. Mein Bein blutete stark, weil – wie man später feststellte – eine Hauptader gerissen war. Ich zerriss mein Hemd und verband das Bein fest, um die Blutung zu verlangsamen. Als sich der Panzer nach 20 Minuten entfernte, kamen meine Freunde zurück und trugen mich zum Spital. Dort herrschte ein Notzustand, weil an dem Tag viele Verletzte eingeliefert worden waren. Der Bursche, der mich zum Spital getragen hatte, ist an dem Tag gefallen, an dem ich in Wien angekommen bin. Er hieß Mahmoud Aqel und war 18 Jahre alt. Er wurde um drei Uhr in der Früh bei einem Hubschrauberangriff getötet“.
Erinnerungen an die erste Intifada 1987-1993
Mahdi ist 1986 geboren. Er war 6 Jahre alt, als das Oslo-Abkommen geschlossen wurde. Er kann sich noch an die Tage der ersten Intifada erinnern. „Ich kann mich noch an die Demonstrationen nach der Schule erinnern. Die oberen Klassen haben täglich gegen die Besatzung demonstriert. Wir haben auch damals mitgemacht. Mehrmals wurde Tränengas auf die Schule geschossen. Zwei oder drei Mal wurde die Schule von Siedlern angegriffen, die in die Schule schossen oder Schüler schlugen“. Wie die meisten Kinder der ersten Intifada, hat er in Erinnerung, wie er von Soldaten verprügelt wurde. „Nachts herrschte eine Ausgangssperre. Sie fing bei Sonnenuntergang an und endete am Morgen. Kurz nach Sonnenuntergang bin ich zum Laden gegangen, um Zigaretten für meinen Vater zu kaufen. Man schickte damals Frauen oder Kinder zum Einkaufen, weil die Soldaten auf die Männer automatisch schossen oder sie verhafteten, wenn sie zu solchen Zeiten draußen waren. Auf dem Rückweg begegnete ich Soldaten. Sie befahlen mir anzuhalten. Ich bekam Angst und lief in die andere Richtung, aber dort waren auch welche und sie konnten mich fangen. Sie fragten wie mein Vater heiße und wo ich wohne. Sie brachten mich nach Hause. Als wir ins Haus reinkamen fingen sie an, mich vor der Familie zu schlagen. Nach den ersten Ohrfeigen fiel ich auf den Boden. Sie traten mich dann mit den Füßen. Zum Glück haben sie mir nichts gebrochen“. Damals wurde er auch schon als Sechsjähriger verletzt, als ein Militärjeep über seinen Fuß fuhr. „Es hat einen Überwachungsturm im Zentrum der Stadt gegeben, der vor allem die nächtliche Ausgangssperre überwachte und den Leuten über Lautsprecher Befehle erteilte. Einige gesuchte Männer, die nicht in Rafah lebten und nichts von diesem Turm wussten, wurden von Soldaten verfolgt und liefen genau in seine Richtung. Ich war dort und warnte sie vor dem Turm. Soldaten, die in der Nähe einen Hinterhalt vorbereiteten, verstanden das und liefen in unsere Richtung. Die Burschen liefen davon und ich auch. Ein Soldat schlug mich von hinten und ich fiel auf den Boden. Bevor ich mich entfernen konnte, ist ein Militärjeep über meinem Fuß gefahren. Der Fahrer hatte mich gesehen und ich bin sicher es war absichtlich. Im Spital brauchte die Wunde 16 Nähte“.
Mahdi erinnert sich auch an den Tag des Jahres 1993, als Arafat nach Gaza kam: „Es kamen viele Leute aus dem ganzen Gaza-Streifen, um Arafat beim Grenzübergang in Rafah zu empfangen. Die Israelis sind in der Nacht abgezogen, damit sie nicht mit Steinen verabschiedet werden“.
Die Tunnel-Intifada 1996
Der damals 10-jährige Mahdi nahm am Aufstand teil, der 1996 nach der Eröffnung des Tunnels unter der Aqsa-Moschee ausgebrochen war. „Damals war der Militärposten neben Rafah noch nicht gebaut worden. Wir gingen ca. 15 km, um vor der Militärsperre vor der Siedlung Dschorasch zu demonstrieren“.
Mein Vater konnte mich nicht daran hindern, an der Intifada teilzunehmen
Auf die Frage, wie sich sein Vater zu seiner Teilnahme an der Intifada verhielt, antwortet Mahdi: „Mein Vater hat es mir verboten, an Demos teilzunehmen. Ich bin trotzdem nach der Schule mit meinen Freunden hingegangen. Die Lehrer versuchten uns aufzuhalten, aber wenn die Nachricht über eine Demonstration kam, stürmten wir die Schultore und sind hingegangen. Dort versuchten die palästinensischen Polizisten uns zurückzudrängen. Die Masse durchbrach aber die Polizistenkette und setzte sich mit den israelischen Soldaten auseinander. Mein Vater, der als Taxifahrer arbeitet, kam immer zum Ort, um mich zu suchen und abzuholen. Ich ging aber immer zurück und am Ende hat er es aufgegeben.“
Mahdi erzählt auch, dass bisher zwei Kollegen seiner Schulklasse gefallen sind. Karam El-Kurd und Husni Najjar sind in den ersten Monaten der Intifada gefallen.
Mahdi will Flugingenieur werden
Im gespannten Alltag im Gaza-Streifen gibt es immer noch Raum für Träume von Menschen, die um ihre Menschlichkeit täglich kämpfen müssen. Mahdi träumt davon, Flugingenieur zu werden. „Mein Cousin arbeitet als Mechaniker im Flughafen. Ich war oft bei ihm und seine Arbeit faszinierte mich immer“.
Mahdi ist Mitglied im Folklore-Tanzverein. „Ich konnte seit der Kindheit gut tanzen. Ich bin seit 1997 Mitglied im Tanzverein. Die Leute in Rafah kennen mich als den kleinsten Tänzer der Gruppe. Ich habe im letzten Sommer vor der Intifada angefangen, im Klub „Zukunft´ Klavier zu lernen. Fußball habe ich auch im Jugendclub von Rafah gespielt“. Es ist noch nicht klar, ob Mahdi bald wieder tanzen oder Fußball spielen kann. Die Ärzte meinen jedenfalls, die Nerventransplantation würde nur begrenzt Erfolg haben. Ironisch lächelt Mahdi und fügt hinzu: „Gut, dass ich auch gut Tischtennis spielen kann“.