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Die Schlacht von Genua

19. August 2001

Eine politische Bilanz

Die Schlacht von Genua, von den Medien über die ganze Welt verbreitet, hat unter Revolutionären wie Antiimperialisten ein diffuses und verständliches Gefühl des Aufbruchs erzeugt. Dies ist zweifellos gut und richtig, es gilt aber die politische Analyse nicht aus den Augen zu verlieren. Die Ereignisse von Genua bedeuten einen Wendepunkt für die gesamte antikapitalistische Opposition, sie stellten eine Generalprobe dar. Nun ist der Zeitpunkt eine politische Bilanz zu ziehen, um für uns jene Strategie herauszufinden, die es zu verfolgen gilt.

Der König ist nackt

Der Mord an Carlo Giuliani, Freitag den 20. Juli, sowie die Gewaltorgie der Polizei beim Sturm auf das Zentrum des Genua Social Forum am 21. um Mitternacht repräsentieren die brutale Antwort eines Staates, der vor der nationalen und internationalen öffentlichen Meinung unter Druck geraten war.

Die Regierung hat Genua de facto unter Belagerungszustand gesetzt, hat eine Mauer von vielen Kilometern durch diese Stadt gezogen, hat die Grenzen dicht gemacht und die Schengen Verträge aufgehoben, hat eine Woche lang grundlegende verfassungsmäßige Rechte außer Kraft gesetzt, hat 20.000 uniformierte und zivile Polizisten in die Schlacht geschickt, hat sicherlich Provokateure in die Demonstration eingeschleust, hat eine systematische vorbeugende Repression gegen die revolutionäre Linke entwickelt, bei der zahlreiche Genossinnen und Genossen durchsucht und verhaftet wurden, hat schließlich gegen die Demonstranten von Genua eine Woge der Polizeigewalt losgelassen, wie man sie seit 20 Jahren nicht mehr erlebt hatte – das Resultat waren ein Toter, Hunderte Verhaftete und an die Tausend Verletzte.

Doch diese geballte Macht der Polizei und des Staates geriet nichts desto trotz ins Wanken, angesichts des Zorns von Tausenden Jugendlichen welche, nachdem sie in die sogenannte „Rote Zone“ nicht eindringen konnten, Teile der Innenstadt verwüsteten, wobei sie zwei Tage lang die Polizei in Kämpfe verwickelten und manchmal unter dieser jene Panik verbreiteten, die Schlagstöcke und Tränengas unter den Demonstranten auslösten.

Im Krieg ist der militärische Sieg die Vorbedingung des politischen. Im globalen Medienzirkus hat sich der militärische Sieg der Polizei in eine halbe politische Niederlage verwandelt. Sie wollten Ordnung und bekamen Chaos, sie haben Wind gesät und Sturm geerntet.

Niemand kann das Faktum ungeschehen machen, dass eine Stadt des reichen imperialistischen Westens anlässlich des Treffens der G8 in ein Schlachtfeld verwandelt wurde: Die Ruhe der Großen wurde sabotiert, die eigentlichen Inhalte ihrer Besprechungen nahmen in der Berichterstattung nur den dritten Platz ein. Wir wären Lügner würden wir behaupten dass und das missfällt.

Es ist logisch dass das System nun zur Verurteilung der Gewalt und des Vandalismus schreitet, dass Verantwortliche in „kleinen Gruppen von Provokateuren“ gesucht werden. Es ist normal, dass der Staat über seine Gerichte Rache an den Unglücklichen nimmt die ihm in die Hände gefallen sind. Es ist nicht normal, dass einige Führer der Proteste, nachdem sie bereits am Abend des 20. die Intervention der Polizei gegen die „gewalttätigen Elemente“ gefordert hatten, sich heute an der Hexenjagd beteiligen und die lächerliche These verbreiten, dass die Ereignisse von Genua einzig durch die Manipulationen einiger Anarchisten und Casseur (frz. für randalierende Jugendliche) ausgelöst wurden. Wir kennen diese schaurige Musik aus den 70er und 80er Jahren: Es ist dieselbe, welche die alte PCI spielte, um alle antikapitalistischen Aktivisten als „Terroristen“ zu bezeichnen, die die Strategie des „historischen Kompromisses“ mit der Bourgeoisie ablehnten.

Gegen Pazifismus und Opportunismus

Aber wenn wir dabei stehen bleiben – wenn wir uns darauf beschränken die Legitimität der Revolte gegen das Treffen jener Verbrecher zu verteidigen, die die Welt in den Abgrund führen – beschränken wir uns auf die Oberfläche. Nun müssen wir in die Tiefe gehen, eine politische Bilanz versuchen, und daraus die notwendigen strategischen und taktischen Lehren ziehen.

Wir haben bereits zuvor erklärt, dass das „Volk von Seattle“ – die Antiglobalisierungsbewegung – nicht unverändert aus den Mobilisierungen in Genua herauskommen wird. Wir haben uns nicht geirrt. Das GSF hat einige tiefe Schrammen abbekommen. Man hatte sich an die Spitze des Protestes gesetzt, um seinen friedlichen Verlauf sicherzustellen und hat ohnmächtig dabei zusehen müssen wie sich alles in eine Straßenschlacht verwandelte. Dafür gibt es drei wichtige Gründe: Nach Porto Alegre hat sich das GSF zum Führer der anti–G8 Proteste erklärt, mit Unterstützung der institutionellen Linken und der Medien. Die Teile der Bewegung, die den „zivilen Ungehorsam“ nicht als unverletzliches Prinzip akzeptierten wurden in den Hintergrund gedrängt und am Schluss glaubte man, mit einem gehörigen Schuss Arroganz, dass das GSF der Bewegung einfach seine Strategie aufzwingen könnte. Der zweite Grund: Das GSF hat Verhandlungen mit der Berlusconi Regierung geführt und deren beruhigenden Versprechen geglaubt – während sich der Staat für alle sichtbar auf die Schlacht vorbereitete. Der dritte Grund: Der Druck der Medien hat die selbsternannten Führer der Antiglobalisierungsbewegung dazu gebracht zu vergessen dass diese Bewegung von Anfang an – von Seattle über Prag, Nizza, Neapel und Götheborg – die Revolte und die Gewalt in ihrer politischen DNA trägt. Nur Dummköpfe konnten glauben das mit pazifistischen Exorzismen austreiben zu können.

Das GSF – das in der heterogenen Bewegung die interklassistische und ehrlich reformistische Mehrheit repräsentiert – hat mit dem Feuer gespielt und hat das Schicksal des Zauberlehrlings geteilt. Seit Monaten wurde das G8 Treffen in Genua und die Gegenbewegung zu einem fast mystischen Ereignis stilisiert, von dem wundersame und spektakuläre Ereignisse erwartet wurden. Der symbolische Höhepunkt dieser Stilisierung war das angekündigte Eindringen in die Rote Zone mit ausschließlich „defensiven Mitteln“ (!!) – diese Aktion wurde den „Tute Bianche“ übertragen, die dafür von den Medien zum Einsatzheer des „Volks von Seattle“ erklärt wurden und die tatsächlich den ernsthaftesten und entschlossensten Teil des GSF darstellten.

In diesem Geist wurden kriegerische Erklärungen abgegeben, die Realität mit einem Videospiel verwechselt, und der italienische Polizeistaat mit kleinen Soldaten aus einem Zeichentrickfilm. So ist es zu erklären dass viele, zu viele, nach Genua kamen mit der Illusion dass es möglich wäre die eiserne Mauer um die G8 mit pazifistischen Mitteln nicht nur zu belagern, sondern sogar zu durchbrechen. Es wurde geglaubt, dass es auch diesesmal möglich sein werde, statt einer echten eine simulierte Schlacht mit der Polizei auszufechten. Der Preis für diesen Irrtum waren Hunderte Verletzte, zahlreiche Verhaftete und auf freiem Fuß Angezeigte. Das GSF war Opfer der eigenen postmodernen Konzeptionen, glaubte dass die Medienpräsenz es immunisieren würde, dass die „fünfte Gewalt“ (die Medien) tatsächlich wichtiger wäre als die Erste (die Exekutive).

Diese Idee, dass es möglich wäre die chinesische Mauer um das Treffen der G8 mit friedlichen Mitteln zu überwinden, und die daraus abgeleitete Strategie bleibt die schwere Verantwortung der Führer des GSF und keine Verurteilung und Schuldzuweisung an den „Schwarzen Block“ kann davon ablenken.

Heute ist es allen klar: Die Sicherheitskräfte haben die Demonstrationszüge in Richtung der roten Zone präventiv angegriffen, sie zum Teil zerstreut und ihnen keine andere Wahl als die ungeordnete und unkoordinierte Selbstverteidigung gelassen.

Jene die wie wir gesagt haben, dass Genua nur eine Etappe ist, eine Etappe in einem langfristig anzulegenden Widerstand, die sowohl vor dem Abenteurertum wie auch dem Pazifismus gewarnt haben, wurden nicht gehört. Wir wurden auch nicht gehört als wir vorhersahen, dass der Antiglobalisierungsbewegung in Genua eine militärische Falle gestellt wird, dass bei dieser Gelegenheit die Polizei sich nicht aufs Spiel der begrenzten und abgesprochenen Zusammenstöße einlassen wird.
Nun sagen wir, dass die Polizei in Genua nicht nur einen Genossen getötet hat, sondern auch die Politik des moderaten Extremismus, des pazifistischen Maximalismus. Das ist der erste Eckpunkt einer politischen Bilanz. Mit dem Mord an Carlo Giuliani und dem Angriff auf den Sitz des GSF wurde die pazifistische Strategie des zivilen Ungehorsam zerstört, die Tausende Jugendliche entwaffnet und unvorbereitet der Polizeigewalt aussetzte. Tot ist die Illusion, dass der Antagonismus neue Wege entdeckt habe, denn die Regeln des Konflikts sind die gleichen geblieben. Tot ist die Illusion, dass die Mobilisierung der „Zivilgesellschaft“ mit der Nachsicht des kapitalistischen Staates rechnen könne, während dieser seinen Zwangsapparat aufrechterhält, bereit die bestehende Ordnung mit allen Mitteln zu verteidigen.

Gegen Abenteurertum und Nihilismus

In dieser Situation ist es nicht an uns die Aktionen der Stadtguerilla zu verurteilen, um so weniger als diese in vielen Fällen spontan waren oder den Charakter der Selbstverteidigung trugen, angesichts der gewalttätigen Angriffe der Polizei. Unsere politische Kritik an den Gruppen die sich seit Monaten auf den Zusammenstoß mit der Polizei vorbereitet hatten bleibt aber unverändert.

Wir haben seit Monaten darauf hingewiesen, dass in Genua eine Falle für die gesamte Bewegung gegen die Globalisierung vorbereitet wird, inklusive der pazifistischen und „ungehorsamen“ Teile. In dieser Situation haben wir offensive Aktionen, auch gegen die rote Zone, als Abenteurertum angesehen. Tatsächlich ist es auch niemandem gelungen in die rote Zone einzudringen, auch nicht dem „schwarzen Block“. (Das Gefühl der Ohnmacht angesichts dieser Unmöglichkeit hat nur zu verstreuten Angriffen und Zerstörungen in anderen Zonen der Stadt führen können, eine Tatsache die die militärischen Strategen des Staates als kleineres Übel betrachteten.)

Man zieht nicht in den Krieg ohne einen Schlachtplan und auch nicht in Situationen der völligen Unterlegenheit der eigenen Kräfte. Vor allem aber darf man – wenn der Feind über überlegene Kräfte verfügt – den Zusammenstoß nicht dann akzeptieren, wenn dieser die Form des Kampfes, das Schlachtfeld und den Zeitpunkt der Auseinandersetzung bestimmt.
Der Mord der Carabinieri kann nicht davon abhalten eine einfache Frage an die nihilistischen Kämpfer zu stellen: Habt ihr euch darauf vorbereitet Verwüstungen in weiten Teilen der Stadt anzurichten, Verwüstungen die in der Öffentlichkeit vorhersehbar als völlig willkürlich dargestellt worden sind? Oder sind diese Zerstörungen – wie wir es glauben – Ausdruck der eigenen Schwäche angesichts des übermächtigen Heeres des Feindes? Zum Kern der Frage: Ist es politisch sinnvoll für die revolutionäre Sache – nachdem es einmal feststeht dass das Eindringen in die Rote Zone nicht möglich sein wird – die Gewalt in einer solchen Art und Weise einzusetzen? Wir sagen nein.

Hier manifestiert sich eine historische Krankheit von wichtigen Teilen der antikapitalistischen Bewegung: der Subjektivismus, der glaubt dass die Gewalt ein reinigender und sich selbst genügender Akt sei, nicht ein politisches Instrument, das mit extremer Vorsicht und in Kenntnis eines bestimmten Zweckes einzusetzen ist. Auch die Legitimität des Prinzips der Vendetta bedeutet nicht das diese um jeden Preis und ohne Rücksicht auf die Umstände zu nehmen ist. Nichts ist weiter von der revolutionären kommunistischen Tradition als der anarchoide Subjektivismus, von dem nicht allein der „Schwarze Block“ beeinflusst ist. Mit dieser Strömung gilt es einen offenen politischen Kampf um den Einfluss in der radikalisierten Jugend zu führen. Diesen Kampf auf ein Problem von „Infiltrationen“ und „Provokationen“ zu reduzieren ist inakzeptabel und gefährlich, von dieser Konzeption ist es nicht mehr weit bis zur Bitte um Unterstützung bei der Polizei.

Ergebnisse und Perspektiven

Der Wahlsieg der Mitte-rechts Parteien vom 13. Mai hat das Bild eines Landes geliefert das nicht nur nach 10 Jahren Linksregierung resigniert und desillusioniert war, sondern auch tief konservativ. In diesem Zusammenhang stellt die Mobilisierung von Genua ein Gegengewicht dar, die Hoffnung auch diesesmal auf der Straße die neoliberale Normalisierung zu verhindern. Viele sind es die glauben dass genau das schon passiert ist. Wir wollen bescheidener sein. Auch wenn die Regierung einige Schwierigkeiten hat, sie scheint nicht ernsthaft zu wackeln. Die drei Tage von Genua zeigen dass es eine neue Bereitschaft zur sozialen Auseinandersetzung gibt, vor allem unter der Jugend, aber das ist nicht genug um den Charakter der aktuellen historischen Phase zu verändern, die von der Hegemonie des Neoliberalismus und der bürgerlichen Kräfte geprägt wird. Ein heißer Tag macht noch keinen Sommer. Dennoch stellt Genua einen Wendepunkt dar.

Genua zeigt dass der Feind nicht nur stärker und homogener ist als die antikapitalistische Bewegung, sondern auch entschlossen ist einen Weg des Konflikts mit dem gesamten sozialen Antagonismus zu führen, entschlossen jeden Versuch der Insubordination zu ersticken. Das beschränkt nicht nur die Manövrierfähigkeit des Reformismus in allen Varianten, sondern bedeutet auch eine schärfere politische und soziale Polarisierung. Die progressistischsten Sektoren der Bourgeoisie, die in den letzten Wochen ihre Augen auf das GSF gerichtet hatten, in der Hoffnung dem von Berlusconi dominierten sozialen Block etwas entgegenzusetzen, wenden sich nun erschrocken ab. Die antikapitalistische Opposition findet sich nun ohne solide Unterstützung aus dem Lager des Feindes und ohne institutionelle Deckung. Sie steht vor der Entscheidung: Entweder sie gibt der außerparlamentarischen Radikalisierung Hand und Stimme, oder sie lässt sich wieder auf Verhandlungen ein, auf einen neuen Kompromiss, nun aber unter Bedingungen unter denen sie faktisch zur Geisel der Regierung werden würde.

Die Schlacht von Genua hat den sozialen Konflikt ohne Zweifel beschleunigt, hat neue Energien hervorgebracht, eine neue frischere Luft. Aber die Bewegung liegt noch in der Wiege, ist schwach, läuft Gefahr wieder erstickt zu werden. Sie benötigt eine politische Perspektive und eine weitblickende Führung, beides fehlt im Augenblick. Ohne revolutionäre Führung wird sie Gefahr laufen in zwei Teile zu zerfallen: Den schwätzerischen Reformismus auf der einen Seite und die anarchoide Subversion auf der anderen. Das sind die beiden Pole zwischen denen die Bewegung auch heute schwingt, es handelt sich um zwei Seiten der gleichen Medaille. Es gilt nun einen dritten Pol aufzubauen, antiimperialistisch und revolutionär.
Die Partie ist offen, der Kampf erst am Anfang.

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