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Als der Panzer auf die Schule schoss

8. Februar 2002

Der Mord an der 10-jährigen Schülerin Riham Ward

Dies ist ein Augenzeugenbericht über das Bombardement einer Schule in der Stadt Dschenin im Norden des Westjordanlands während der neuerlichen Besetzung der Stadt durch die israelische Armee, die parallel zu Teilbesetzungen weiterer fünf Städte des Westjordanlands lief. Der Bericht wurde zum ersten Mal am 26. Oktober in der in London erscheinenden arabischen Zeitung al-Quds al-`Arabi veröffentlicht. Er basiert auf den Aussagen der Schuldirektorin, die miterlebte, wie die Schule beschossen wurde, und den Aussagen des Vaters Rihams, der bei der palästinensischen Polizei arbeitet und sich mit seiner Einheit während des Angriffes 500 Meter von der Schule entfernt befand. Seit 30. September 2000 sind 850 Palästinenser durch die israelische Besatzungsarmee bzw. durch die zionistischen Siedler getötet worden. Darunter sind 229 Minderjährige. Der Mord an Riham Ward ist kein Sonderfall, sondern ein typisches Beispiel eines palästinensischen Lebens – und Todes.

Ein schreckliches Bild bot sich am frühen Morgen des 18. Oktober 2001 in der Ibrahim-Volksschule für Mädchen. Blut, Schultaschen, Mädchenschuhe unter den gekippten Sesseln der 1B-Klasse. An der Tafel standen die Buchstaben der Englischstunde: „a, o, u, p, s“ und noch die Zahlen von 0 bis 9 aus der Rechenstunde. Unter den Zahlen und Buchstaben sah man die Einschusslöcher schwerer Maschinengewehre. Auf dem Boden waren große Blutflecken von Riham Ward und fünf weiteren Mädchen sowie der Lehrerin, die beim Beschuss der Volksschule verletzt worden waren. Dies war ein Teil der „Terrorbekämpfungs-Operation“, in der die israelische Besatzungsarmee sechs palästinensische Städte angriff und teilweise erneut besetzte.
Um 7:30 Uhr morgens drangen die israelischen Panzer in die Stadt Dschenin im Norden des Westjordanlands ein. Die Strassen waren voller Schüler und Zivilisten, die auf dem Weg zur Arbeit waren. Die palästinensischen Polizeieinheiten zogen sich 150 Meter in eine unbewohnte Zone zurück, um ein Feuergefecht zu vermeiden, das vielen Passanten das Leben kosten würde. Die israelischen Panzer schossen mit Maschinengewehren auf das Viertel, das am Rand der Stadt liegt. Die erste Schulstunde hatte noch nicht begonnen und alle Schüler waren noch im Schulhof. Ein Panzer näherte sich dem Schulgebäude und stand vor dem Tor der Schule. Der Panzer war mit zwei MG500 (12 mm) an den Seiten und einem MG800 (20 mm) vorne ausgerüstet. Zwei weitere Panzer standen ebenfalls jeweils 100 Meter entfernt. Als die Schüsse zu hören waren, liefen bzw. krochen alle in die Klassen. Die Schuldirektorin Wafa` Hamdan erzählt: „Um 6:30 Uhr morgens machte ich mich auf dem Weg zur Schule. Ich hatte davor in den Nachrichten über einen israelischen Angriff auf die Stadt gehört. Die ersten Mädchen trafen bei der Schule ein. Ich merkte, dass viele Mädchen nicht gekommen waren, was ich nach den Nachrichten über einen Angriff auf die Stadt erwartet hatte. Um 7:30 Uhr waren etwa hundert Schülerinnen auf dem Schulhof, als wir heftiges Schießen hörten. Die Schülerinnen begannen zu schreien. Ich kam mit den Lehrerinnen aus dem Büro und sah, wie die Mädchen versuchten, aus der Schule hinaus zu gelangen. Ich ging zum Haupttor, wo ich einen jungen Mann fand, der seine Schwester nach Hause bringen wollte. Er sagte mir, dass ein Panzer vor dem Schulgebäude steht. Da wies ich die Mädchen an, in die Klassenräume zu gehen. Kaum hatte ich ausgesprochen, begann der Panzer auf die Schule zu schießen und wir liefen im Kugelhagel. Alle liefen in Panik in die Klassen des Erdgeschoßes. Einige Mädchen stolperten und wurden von den anderen in der Panik überrannt. Riham ging mit ihrer Schwester Abir in die 1A-Klasse, aber sie flüchteten in den Raum der 1B, weil diese sich näher zum Ausgangstor befindet. Sie waren die letzten, die das Klassenzimmer betraten. In dem Moment, als sie den Raum betraten, wurde die Schülerin Tahrir Manasrah von einem Geschoß am Kopf getroffen. Sie fiel gleich bei der Tür zu Boden, wo Riham noch stand. Riham beugte sich zu ihr hinunter und versuchte, sie in die Klasse zu schleppen. In diesem Moment wurde Riham von einem Schuss in die Brust tödlich getroffen. Sie fiel auf ihre Kollegin. Sie hatte noch ein Bild dabei, das sie für die Schule auf Karton gezeichnet hatte. Der Karton war mit ihrem Blut getränkt.“
Abir, die jüngere Schwester Rihams erzählt: „Ich habe sie umarmt. Sie sah mich an und lächelte, dann kam das Blut aus ihrem Mund.“
Weiters wurden Sahar Sleit (12 Jahre) aus der sechsten Klasse am Hals, Samah Awad (12 Jahre) aus der sechsten Klasse von Geschoßen am Kopf und Auge, Randa Dab`i (7 Jahre) aus der zweiten Klasse von Geschoßen an der Brust, Dana Ardscha (10 Jahre) aus der vierten Klasse von Geschoßen im Gesicht und die Lehrerin Qamar Erscheid am Arm, während sie versuchte, den Verletzten zu helfen, verletzt.
Die Schuldirektorin erzählt weiter: „Der Panzer schoss 30 Minuten lang. Die Mädchen legten sich auf den Boden. In den Klassen flogen Bruchstücke von Fensterscheiben und durchschossenen Wände umher. Die Telefonleitung war zerstört. Viele Jugendliche eilten im Bombenhagel in die Schule, um die Verletzten zu retten. Wir evakuierten die Mädchen unter Beschuss aus den Klassenräumen zur hinteren Mauer. Wir rissen das Geländer des Treppenhauses heraus und machten daraus eine Leiter, mit der man über die Mauer in die benachbarte Pflasterfabrik gelangen konnte. Vor der Fabrik standen die Rettungswagen, die die Verletzten in die Spitäler brachten. Wir schickten die anderen Mädchen in die benachbarten Häuser, wo man die Familien anrufen konnte. Die Mädchen trauten sich erst am 22. Oktober wieder zur Schule zu kommen“.
Nabil Ward, der Vater Rihams, ein Polizist, dessen Gruppe sich 500 Meter von der Schule entfernt befand, erzählt: „Vier Tage vor ihrem Tod bat sie mich darum, ihr Karton und Farben zu kaufen. Sie wollte ein Bild für die Schule malen. Auf den Karton malte sie die Aqsa-Moschee von Jerusalem und Blumen. Sie malte gern. Eine Woche davor malte sie einen Panzer, der auf ihre Schule schießt!“.
Die „Schule der zwei Ibrahims“ ist nach zwei palästinensischen Freiheitskämpfer benannt, die im Jahr 1992 bei der ersten Intifada in einem Feuergefecht mit den Spezialeinheiten der Besatzungsarmee fielen. Ibrahim Zoreqi und Ibrahim Jalamneh gehörten der Widerstandsgruppe „Black Panther“ an. Sie verschanzten sich in einem Haus, das neben der heutigen Schule liegt. Das Gefecht dauerte die ganze Nacht lang an. Als die Schule im Jahr 1998 gebaut wurde, forderten die Anrainer, dass sie nach den beiden Freiheitskämpfern benannt würde.
Die Direktorin erzählt: „Die Eltern Abirs haben versucht, sie in eine andere Schule zu versetzen, die näher zu ihrem Haus war. Abir aber lehnte dies ab, weil für sie der Name der Schule viel bedeutete. Ihr Vater erzählte auch, dass sie zu Hause immer die Bilder der Gefallenen sammelt, um für sie in der Schule eine Gedenktafel zu errichten“.
Riham war nicht die erste, die die Familie Ward verlor: Die Familie wurde 1948 aus Akko in den Libanon vertrieben, wo sie lebte, bis der Vater im Jahr 1994 nach dem Oslo-Abkommen ins Westjordanland zurückkehrte und dort als Polizist arbeitete. Im Libanon verlor die Familie durch israelische Angriffe mehrere ihrer Mitglieder. Nabil Ward erzählt: „Riham ist nicht unsere erste Märtyrerin. Meine Schwester Na`mat (17 Jahre) starb ebenfalls in der Schule im Flüchtlingslager Ein el-Hilweh, als die Israelis uns im Jahr 1974 im Libanon bombardiert hatten. Mein Bruder Mustafa Ward (18 Jahre) starb im israelischen Bombardement von Beirut im Jahr 1976. Bei der israelischen Invasion im Libanon im Jahr 1982 wurde unser Haus am ersten Tag des Krieges von einer Bombe getroffen, die von einem israelischen Kriegsschiff abgeschossen wurde. Da starb mein Neffe Mustafa (12 Jahre). Mit Sharon und seinen Leuten haben wir schon eine zu lange Rechnung.“

Nasir Rimawi, al-Quds al-`Arabi

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