Site-Logo
Site Navigation

Palästinensische Verletzte in Wien

8. Februar 2002

Zwei Interviews mit Ahmad Faradsch und Naim Sanakreh

Mohammed Ahmad Farradsch, 23 Jahre, Flüchtlingslager Balata (Nablus), stammt aus Rantia, einem Dorf neben Jaffa, das im Jahr 1948 zerstört wurde.

Im „Haus der Intifada“, einer Wohnung in Wien, wo die palästinensischen Verletzte, die nach Wien zur Behandlung kommen, untergebracht werden, trafen wir Mohammed. Ein ruhiger intelligenter Mensch mit einem freundlichen Lächeln und einem Blick, der einem die Hoffnung auf ein besseres Leben für alle wiedergibt. Mohammed wurde am ersten Tag der Intifada verletzt: „Am ersten Tag der Intifada gingen wir auf eine Demonstration auf der Jerusalemstrasse zur Militärsperre. Als wir uns der Sperre näherten, fingen die Soldaten aus den Maschinengewehren zu schießen an, wobei ich ins Becken getroffen wurde. An dieser Demo sind Jihad Alul, der Sohn des Gouverneurs, und ein Polizist namens Amjad gefallen. Neben mir sind mehrere verletzt worden. Wir waren die ersten Verletzte aus Nablus. Ich merkte nicht, dass ich getroffen wurde und suchte mir ein Versteck zwischen geparkten Autos. Dort fiel ich zu Boden und blieb 10 Minuten lang, bis sie mich gefunden haben. Es gab viele Verletzte und es herrschte ein Panikzustand. Ich wurde zu einem Feldspital getragen, das in Eile neben dem Schauplatz der Demo errichtet wurde, dann zu einem anderen provisorischen Spital neben dem Rafidia-Spital in Nablus, das von Verletzten überfüllt war“. Mohammed wurde im Becken an einem Hauptnerv getroffen, was eine Lähmung im Fuß verursachte. Er wurde im Oktober 2000 zur Behandlung nach Jordanien geschickt, wo man nichts für ihn tun konnte. Er blieb einen Monat im Spital, dann kehrte er zurück. „An der Grenze wurde ich von den Israelis verhört. Sie machten Photos von mir und den anderen Verletzten“. In Palästina war nur die physikalische Therapie möglich, die aber keine Fortschritte brachte. Erst im Oktober 2001 wurde er nach Wien gebracht, um einer Nervenoperation unterzogen zu werden. „Hier haben sie den Nerv gebunden. Eine physikalische Therapie für anderthalb Jahre ist noch nötig und wir wissen noch nicht, ob die Operation erfolgreich war. Ich kehre in drei Tagen nach Palästina zurück, wo die physikalische Therapie weiterlaufen soll“.
In so einem kleinen Land wie Palästina, wo die Geschichte einen intensiven Ablauf nimmt, häufen sich die kleinen Geschichten von Einzelschicksalen, um ein Volksschicksal wiederzugeben: Der Vater Mohammeds, der vor dreißig Jahren von der Besatzungsbehörde aus dem Land deportiert wurde, erhielt endlich das Rückkehrrecht. Der Tag seiner Rückkehr fiel auf den Tag, wo der Sohn verletzt wurde. „Mein Vater kam von der Grenze direkt zum Spital. Er war einer der ersten Mitglieder der Fatah im Westjordanland. Er wurde im Jahr 1968 verhaftet und allen Sorten von Folter ausgesetzt: Elektroschocks, Drogen, Schläge usw. Sie hielten ihn nackt in der Zelle mit einem Hund, der ihn ständig angriff. Nach vier Jahren unter solchen Bedingungen lag er in Koma. Die Israelis deportierten ihn nach Jordanien, damit sie keine Behandlungskosten zu zahlen hatten. Er wurde in Jordanien und in anderen arabischen Ländern medizinisch behandelt und wiederhergestellt. Er nahm teil an einer Partisanenoperation im Jordantal und wurde von den Jordaniern gefangen, die ihm zum Tod verurteil haben. Er wurde nach vielen arabischen Interventionen amnestiert und machte sich in Jordanien sesshaft. Meine Mutter heiratete ihn dort und sie lebten in Jordanien. Aber sie kam immer nach Nablus, um die Kinder dort zu gebären, damit wir das Wohnrecht in Palästina nicht verlieren. Mein Vater arbeitete dort in einer Fabrik, bis sich seine psychische und körperliche Lage wegen den Gefängnisfolgen wieder verschlechterte. Danach mussten wir für den Unterhalt der Familie sorgen und dazu kamen auch die Kosten seiner Behandlungen in den Spitälern. Ich kehrte nach Palästina 1997 zurück und bereitete die Rückkehr meiner Mutter und Geschwister vor, die mir später folgten. Mein Vater kam an dem Tag zurück, wo ich verletzt wurde“.
Mohammed ist der zweitälteste von acht Geschwistern: „Wir sind acht. Vier Burschen und vier Mädchen. Ich bin der älteste der Burschen und habe eine ältere Schwester. Eine Schwester geht in die Krankenschwesterschule und die anderen sind verheiratet. Die Brüder gehen in die Schule und einer arbeitet in einer Fabrik in Nablus. Ich lernte Gastronomie in Jordanien, habe aber keine Arbeit gefunden. In Palästina arbeitete ich als Bauarbeiter und später als Rezeptzionist in einem Hotel. Ich bekam eine Arbeit im touristischen Dorf neben Jericho, aber ich wurde verletzt, bevor ich den Job annahm. Jetzt kann ich ihn nicht mehr ausführen, weil dieser Job langes Stehen erfordert, was wegen meiner Verletzung nicht mehr möglich ist. Diese Verletzung hat viele Sachen verändert. Ich will jedoch zurückkehren und würde in keinem anderen Ort leben.wollen. Ich habe momentan keine Zukunftspläne. Vielleicht setze ich meine Lehre fort, aber dafür bräuchte ich Geld, was die Familie aber momentan nicht besitzt“.
Die Demo, wo Mohammed verletzt wurde, war seine erste Teilnahme am Widerstand gegen die Besatzung. Über seine Motive und Gefühle bei dieser Demo erzählt er: „Wir warteten sehr lange und waren zu geduldig. Jetzt aber können wir es nicht mehr und müssen ein lautes Nein sagen, auch wenn dieses unseren Tod bedeutet. Ich bin ein einfacher Mensch und kein Organisationsmitglied, aber ich fühlte mich verpflichtet, hinzugehen. Auf dem Weg habe ich sicher Angst gehabt, aber etwas unbekanntes trieb mich nach Vorne. Vielleicht halten viele unsere Aktionen für sinnlos oder leichtsinnig, aber wir müssen es für die Geschichte und für die nächsten Generationen tun. Auch wenn wir keine Chance haben, die Soldaten zu besiegen, müssen sie zumindest daran erinnert werden, dass sie Besatzer sind und dass wir Widerstand gegen diese Besatzung leisten“. Neben Mohammed stand bei dieser Demo sein Freund Naim, der erst zwei Wochen danach verletzt wurde und ebenfalls heuer zur Behandlung in Wien angekommen ist. Naim half beim Transportieren Mohammeds ins Spital. Das Schicksal zeigte sich wieder ironisch und arrangierte ein Treffen der beiden in einem jordanischen Spital. „Vier Tage nach meiner Ankunft in Jordanien wachte ich im Spital durch die Stimme Naims auf. Er lag noch unter Narkose und sprach unzusammenhängend. Er war durch eine Explosion im Kopf und in beiden Händen getroffen worden und seine Lage war sehr kritisch. Er verbrachte ein paar Monate in Koma. Er wachte später in einem saudiarabischen Spital auf. Ich war ins Lager zurückgekehrt, als das Fernsehen ein Gespräch zwischen ihm und seiner Mutter im Lager sendete. Sie sprach zu ihm übers Telefon und das Fernsehen zeigte ihm beim Sprechen. Die Szene war sehr rührend und ich schwöre, dass alle Lagerbewohner in Tränen ausgebrochen sind“.
Zur palästinensischen Führung äußert sich Mohammed vorsichtig. Er hofft, dass „die Führung nach ihren langen Erfahrungen zwischen politischer Elastizität und nationalem Interesse balancieren kann“, jedoch glaubt er nicht fest daran, denn „scheinbar haben sie von den Fehlern nicht gelernt. Die gleichen Fehler, die unsere Opfer sinnlos machen. Diese Behörde ist 8 Jahre alt und hat im Laufe dieser Zeit überhaupt keine Vorbereitungen zu einer solchen Kriegssituation getroffen, was zu so vielen Verlusten führte“.
Wie die Mehrheit der Palästinenser sieht Mohammed in der Teilung Palästinas keine gerechte Lösung und für ihn ist Israel eine siedlerkoloniale Existenz. Jedoch ergänzt er: „Die Welt muss wissen, dass wir niemand hassen, nicht einmal die Juden oder die Israelis. Wir lieben den Frieden. Alles, was wir wollen, ist unser Recht auf unser Land nach zwei Vertreibungen. Die PLO ließ sich in den Käfig von Oslo zwängen, nachdem sie die Israelis falsch eingeschätzt hatte. Da war von Anfang an klar, dass der Friedensprozess an der israelischen expansionistischen Politik scheitern würde“.
Schließlich appelliert Mohammed an die Diaspora-Palästinenser:
„Viele träumen davon, nach Europa oder Amerika zu emigrieren. Aber dort im Flüchtlingslager ist eine neue Gesellschaft und eine neue Kultur entstanden. Ich liebe die Lagereinwohner mit ihrer Einfachheit und ihrer Solidarität. Wir lieben das Lager und werden dort bleiben, bis wir in die Dörfer und Städte zurückkehren, aus denen wir im Jahr 1948 vertrieben wurden. Die Palästinenser im Ausland haben viel Geld gespendet, aber Geld ist nicht genug. Sie müssen sich organisieren und der Welt unsere Sache vermitteln. Die Welt muss den Hintergrund unseres Kampfes begreifen und über diese Blockade, der unser Volk ausgesetzt wird, bescheid wissen. Auch unsere Religion ist eine Religion der Toleranz und darf nicht auf so eine Art diffamiert werden. Wir kämpfen für unsere Sache und unsere Prinzipien, aber wir hassen niemanden. Es gibt jedoch Grenzen, die wir niemandem zu überschreiten erlauben. Wir lehnen diese Demütigungen ab und ich glaube nicht, dass es irgendein Volk akzeptiert, so wie wir behandelt zu werden. Die Sache ist klar, auch wenn die Zionisten versuchen, sie zu verfälschen“.

****************

Naim Sanakra, 19 Jahre, Flüchtlingslager Balata (Nablus), stammt aus Jaffa

Naim kommt ebenfalls aus dem Flüchtlingslager Balata neben Nablus im Westjordanland, wo er seit seinem elften Lebensjahr als Tischler arbeitete. Er wurde am 20. Oktober 2000 bei einer Demonstration auf der Jerusalemstrasse verletzt. Er wurde von einem Explosivschuss getroffen, der ihn an beiden Händen und im Kopf verletzte. Er versuchte, einen getöteten Genossen wegzutragen, als er von den israelischen Maschinengewehren getroffen wurde. Er erzählt: „Ich kann mich nicht erinnern, wie es passiert ist. Ich eilte zu Amjad, dann wurde ich plötzlich getroffen und verlor das Bewusstsein. Als ich aufwachte, fand ich mich in einem Spital in Saudi Arabien wieder. Da sagte man mir, dass ich drei Monate in Koma lag“. Naim wurde im Kopf und an beiden Händen getroffen. Die Splitter verletzten auch sein rechtes Auge, mit dem er heute nur mehr begrenzt sehen kann. Die Kopfverletzung verursachte ein Koma und die Ärzte beschäftigten sich hauptsächlich mit dessen Behandlung. Die Explosivschüsse zerstörten auch die Knochen des rechten Arms. Die Nerven in beiden Händen wurden ebenfalls zerstört, was eine Lähmung in den Fingern der beiden Hände verursachte. In Saudi Arabien wurde ihm ein Platinimplantat im rechten Arm eingesetzt. In der linken Hand wurde nur die Blutung gestoppt – die Nerven wurden erst in Österreich behandelt. Im Auge wurde eine Operation zur Entfernung der Splitter und zur Implantierung von Silikon durchgeführt. Nach Monaten in der Intensivstation in Saudi Arabien ist er nach Palästina zurückgekehrt, wo er im März 2001 in Nablus operiert wurde. Dort wurde das linke Handgelenk mit Platinimplantaten gestützt.
Am 11. September 2001 ist Naim in Wien angekommen, um einer langen Behandlung unterzogen zu werden, die vermutlich bis April 2002 dauern wird. Es handelt sich um eine Nerventransplantation zur linken Hand, um die Beweglichkeit zu erhöhen, und einen Wechsel des Platinimplantats der rechten Hand, bei der wegen großer Zerstörung von Muskel und Nerven nur mehr wenig zu retten ist. Die Erfolgschancen der Nerventransplantation in der linken Hand liegen bei 60%.
Naim wird seinen Beruf als Tischler wahrscheinlich nicht mehr ausüben können. „Ich muss mich an die neuen Umstände gewöhnen. Ich liebte meinen Beruf, wo man etwas aus dem Nichts machen kann. Ich wollte ein guter Tischler sein und mir ein stabiles Leben aufbauen, damit ich mein Mädchen heiraten kann“. Die Verletzung rief eine radikale Änderung in seinem Leben hervor. Auf unsere Frage, ob er seine Teilnahme an den Protesten bereut, antwortet er: „Ich bereue nichts. Am liebsten wäre mir aber, wenn ich dabei getötet worden wäre“. Auf unser erstauntes Warum antwortet Naim: „Weil alles um uns ein Wahnsinn ist. Wir waren 9 Freunde. Ich bin der fünfte, der verletzt wurde. Viele meiner Bekannten sind tot. Ich fühle so eine Entfremdung in meiner eigenen Heimat und in mir selbst“.
Politisch teilt er die Meinung von Mohammed. Er wünscht, dass „die Israelis unser Land verlassen und alle Flüchtlinge in ihr Land zurückkehren können“. Das Oslo-Abkommen lehnt er ebenfalls ab, weil „Arafat allein gehandelt hat und mit diesem Abkommen, das den Palästinensern wenig einbrachte, die erste Intifada beendete und die Träume jedes Palästinensers zunichte machte. Die Israelis haben unser Land mit Waffengewalt besetzt und können auch nur so vertrieben werden“. Ein Ende der jetzigen Intifada sieht Naim nicht kommen, denn „solange die israelischen Provokationen fortgehen, und solange die Palästinenser täglich umgebracht werden, wird es nie Frieden geben. Die Palästinenser sollen sich und ihr Land mit allen Mittel verteidigen, bis die Besatzer vertrieben werden“.
AnsAuswandern denkt Naim nicht. Er hält zum Flüchtlingslager, in dem er geboren und aufgewachsen ist. „Ich bin im Lager geboren und aufgewachsen. Als ich mir meiner Existenz als Flüchtling bewusst wurde, ist mir auch klar geworden, dass meine Heimat mich braucht. Ich wünsche mir zwei Häuser: eins in Jaffa und eins im Lager. Das Lager ist ein Teil meiner Identität und diese gebe ich nie auf“.
Intifada: Glaubst du, dass die westlichen Staaten den Palästinensern helfen werden?
„Nein, weil der Staat Israel von den westlichen Staaten, Europa und den USA, gegründet wurde. Die israelischen Waffen, die auf die Palästinenser gerichtet sind, sind amerikanische Waffen. Ich empfehle den Europäern, nach Palästina zu kommen und den israelischen Faschismus mit eigenen Augen zu sehen. Sie müssen sehen, wie unsere Kinder kaltblütig getötet werden. Sie müssen sehen und dies ihren Mitbürgern und Regierungen erzählen“.
Über seine Familie erzählt Naim: „Wir sind sechs Burschen und zwei Mädchen. Mein Vater war gestorben, als ich acht Jahre alt war. Meine Mutter musste sich alleine um das Haus und die Kinder kümmern. Sie hat viel geopfert, damit wir ein Leben in Würde führen konnten. Ich musste die Schule früh verlassen, um ihr beizustehen. Sie zwang mich nicht dazu, aber ich wollte meinen Beitrag leisten“.
Intifada: Was erwartest du von einem freien Palästina?
Ich will ein Land, wo unsere Kinder ein gesundes Leben haben können. Alle Kinder der Welt haben Gärten und Spielplätze. Auch unsere haben das Recht auf Kindheit und auf eine Heimat, in der sie mit Würde und Sicherheit aufwachsen.
Intifada: Ein letztes Wort für die Völker der Welt?
Ich wünsche, dass jeder versteht, dass unser Kampf um die Freiheit und für die Verteidigung unserer Existenz kein Terror ist. Israel übt seit 50 Jahren Terror gegen uns aus. Die Menschen hier sollen sich vorstellen können, was der Verlust von Rechten und Heimat bedeutet. Wenn man so eine Frage beantworten kann, dann versteht man, was Freiheit bedeutet. Dann soll man sich in unsere Lage versetzen und ich möchte gerne wissen, was man da tun würde. Wie kann ein Mensch sich selbst finden, wenn ihm die Freiheit und die Selbstbestimmung geraubt wird?“

Thema
Archiv