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„Die Besatzung verfolgt uns überall hin“

16. März 2002

Ali Dschiddah – Vertreter des Nidal-Zentrums in der Altstadt von Jerusalem

Ali Dschiddah ist ein schwarzer Palästinenser. Ende der 60er-Jahre organisierte er sich zusammen mit seinem Cousin Mahmud Dschiddah in der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) und nahm auch an bewaffneten Aktionen teil. Wegen eines Bombenanschlags in Jerusalem, bei dem neun Israelis verletzt wurden, saßen er und sein Cousin 17 Jahre (von 1969 bis 1985) in verschiedenen Internierungslagern. Heute arbeitet er zusammen mit seinem Cousin im Nidal-Zentrum in Ostjerusalem. Dort versuchen sie die sozialen Auswirkungen auf die Palästinenser im besetzten Ostjerusalem aufzufangen und organisieren politische Führungen durch den Stadtteil.
Kannst Du vielleicht zu Beginn etwas über Deine persönliche Geschichte erzählen, wie Du dazu gekommen bist, Dich der PFLP anzuschließen?
Das begann 1967 kurz nach dem Sechstagekrieg, als die israelische Armee den Ostteil Jerusalems besetzte. Ich war damals noch Student an einer französischen Schule und träumte davon, später einmal als Akademiker Karriere zu machen. Mit der israelischen Besetzung änderte sich mein Leben schlagartig. Ich konnte nicht mehr weiter studieren, da mein Vater große finanzielle Probleme bekam. Gleichzeitig erlebte ich die permanenten Misshandlungen und Demütigungen durch israelische Soldaten und Siedler. Durch ihr arrogantes Auftreten als Besatzer war ein normales Leben nicht mehr möglich. So tat ich mich mit anderen Betroffenen zusammen, und wir überlegten, wie wir uns dagegen zur Wehr setzen können. Im Zuge dieser Diskussionen und Überlegungen fasste ich den Entschluss, mich der PFLP anzuschließen.
Du bist dann von den Israelis gefangen genommen worden und bist erst nach 17 Jahren wieder freigelassen worden. Wie kam es dazu?
1969 nahmen wir an einer bewaffneten Aktion teil, die als die „Nacht der Bomben“ in Jerusalem bekannt wurde. Zahlreiche Israelis wurden dabei getötet und verletzt. Am Tag davor hatte die israelische Armee mehrere jordanische Städte bombardiert. Die Aktion verstand sich als eine bewaffnete Antwort darauf. Sie sollte den israelischen Bürgern die Botschaft übermitteln: Solange ihr nichts gegen die Besatzungspolitik eurer Regierung tut, werdet ihr auch keinen Frieden haben.
Zu dieser Zeit gab es eine sehr große Gewaltspirale. Auch mein Cousin und ich waren unglücklicherweise Teil davon. Das heißt nicht, dass ich diese Aktion im Nachhinein bereue. Ich sehe uns da genauso, wie viele andere MitkämpferInnen und die durch meine Bombe verletzten neun Israelis als Opfer, dieser damals zugespitzten gewalterfüllten Situation. Heute würde ich eine solche Aktion nicht mehr machen. Nicht aus Angst vor dem Knast, diese liegt mir fern.
Es sind vielmehr zwei Gründe. Der erste Grund ist ein humanitärer: Wir haben Kinder und wollen nicht, dass denen etwas Derartiges passiert Wir wollen aber auch keine anderen unschuldigen Kinder oder Menschen umbringen. Viel zu viele Unschuldige werden in diesem Konflikt getroffen.
Der zweite Grund ist: Wir haben es satt. Wir haben das Verhalten der Israelis satt, wir haben es satt, so erniedrigend behandelt zu werden und unter der Besatzung leben zu müssen. Das heißt nicht, dass wir zu müde zum Kämpfen geworden sind. Es geht nicht darum, wie lange noch gekämpft wird, es geht um eine politische Lösung.
Ich habe einen Traum, wie damals Martin Luther King in seiner berühmten Ansprache „I have a dream“. Ich würde gerne schöne Träume haben, statt dessen habe ich Alpträume. Wenn ich morgens aufwache neben meiner Frau, sage ich zu ihr nicht „Guten Morgen“ oder etwas ähnliches. Meine erste Frage lautet: „Wo ist meine ID-Card“, also mein blauer israelischer Pass, der mich berechtigt, in Jerusalem zu wohnen. So geht das weiter den ganzen Tag: permanente Sorgen und Ängste, wenn die Kinder in der Schule oder unterwegs sind, Ängste um Freunde und Freundinnen, um meine Frau. Gerade Kinder leiden am meisten unter der Besatzung, und sie leiden völlig unschuldig. Schließlich konnten sie sich nicht aussuchen wo und unter welchen Umständen sie geboren werden.
Die Besatzung werden wir niemals los, sie verfolgt uns überall hin. Sie begleitet uns im Alltag, sie begleitet uns auf dem Klo, in unseren Träumen und sogar, wenn ich mit meiner Frau schlafe. Ein solches Leben haben wir endgültig satt. Unsere Kinder sollen ein anderes Leben haben. Ich habe viele Freunde in meiner Gefangenschaft sterben sehen, habe Misshandlungen und Folter gesehen und erlebt, aber ich muss dennoch feststellen, dass meine Zeit im Knast im Vergleich zu heute das reinste Fünf-Sterne-Hotel war. Nicht weil es da so komfortabel war, sondern weil wir hier – im großen Gefängnis – mit ganz anderen Sorgen und Ängsten gequält werden. In Gefangenschaft ist man damit nicht so unmittelbar konfrontiert, weil sich das Meiste auf die Situation in Gefangenschaft konzentriert. Draußen sind ganz andere – viel gravierendere Probleme zu bewältigen.
In Europa wird die israelische Unterdrückung und Besatzung in den Medien oft sehr verharmlosend dargestellt. Kritik an der israelischen Regierung wird nur sehr zurückhaltend geäußert. Ein Grund, der hierfür immer angeführt wird, ist die geschichtliche Erfahrung der Juden mit dem Antisemitismus in Europa, welcher im Holocaust und der Vernichtung von über sechs Millionen Jüdinnen und Juden gipfelte. Wie denkst Du über dieses Problem, kannst Du diese Haltung nachvollziehen?
Die Israelis sind Idioten. Sie lernen nichts aus der Geschichte. Nachdem sie im Holocaust die schlimmsten historischen Erfahrungen erleiden mussten, könnten sie die beliebteste Nation der Welt sein. In Wirklichkeit sind sie die aggressivste Nation der Welt. Die PalästinenserInnen haben nichts zu tun mit dem Holocaust. Wir sind die Opfer der Opfer. Das muss die Welt begreifen. Unser Kampf richtet sich nicht gegen die Juden sondern gegen den israelischen zionistischen Staat. Wenn ihr PalästinenserInnen wäret, würdet ihr auch kämpfen. Da bin ich mir sicher. Unter diesen Bedingungen gibt es keine andere Alternative.
Aber es geht um eine politische Lösung, und die beinhaltet für uns, endlich einen eigenen Staat zu haben, auf dem Gebiet, das 1967 von Israel besetzt wurde. Wir wollen die Trennung von den Israelis. Wir wollen keine Israelis mehr sehen, jedenfalls nicht als Besatzer. Im Moment gibt es für uns kein anderes Ziel, als für einen eigenen Staat zu kämpfen mit der Hauptstadt Ostjerusalem. Die Siedlungen müssen verschwinden und die Vertreibung der PalästinenserInnen muss endlich als Unrecht anerkannt werden. Sie müssen das Recht haben zurückzukehren.
Langfristig sehen wir allerdings die beste Lösung für alle in der Schaffung eines demokratischen säkularen Staates für alle hier lebenden Menschen. Aber das ist zur Zeit nicht vorstellbar. Dazu sind die Wunden zu tief und zu frisch.
Anfang 1992 fand in Venedig eine Konferenz statt, die in den italienischen Medien als Konferenz des internationalen Terrorismus bezeichnet wurde. 3.000 VertreterInnen aus den verschiedensten Befreiungsbewegungen der Welt trafen sich hier fünf Tage lang, um über die internationale Situation zu diskutieren und sich auszutauschen. Darunter waren Mitglieder der RAF, der Roten Brigaden, der FARC und anderer militanter Organisationen – auch wir. Am Ende zogen wir auf einer gemeinsamen Abschlussdemonstration mit einer großen Palästinafahne durch die Stadt und riefen gemeinsam: „Scharon – du Schlächter“.
Nach dem 11. September nutzen viele Staaten den Schrecken der Ereignisse, um ihre unliebsamen Gegner und jeglichen potentiellen Widerstand gegen ihre Politik auszuschalten. Auch die israelische Regierung führt seitdem einen offenen Krieg gegen das palästinensische Volk und bezeichnet Arafat als „unseren Bin Laden“, gegen den jedes Mittel eingesetzt werden dürfe. Hierzulande werden hingegen in den Medien und in der Öffentlichkeit in erster Linie sogenannte Selbstmordattentate verurteilt und der palästinensische Widerstand zum Verzicht auf Gewalt aufgefordert. Wie stehst Du zu dieser Haltung und wie schätzt Du die Politik in Europa diesbezüglich ein?
So wie sich die europäischen Regierungen verhalten, kann ich sie nur als Marionetten der USA bezeichnen. Sie werden systematisch aus den Verhandlungen herausgehalten und lassen sich das auch gefallen. Ihre Äußerungen haben also keine große Relevanz.
Was die Selbstmordattentate im israelischen Kernland angeht, so schädigen sie unser Ansehen in der internationalen Öffentlichkeit beträchtlich. Schließlich provoziert Scharon mit seiner Kriegspolitik genau solche Reaktionen, um damit den legitimen palästinensischen Widerstand gegen die Besatzung zu diffamieren. Legitim sind bewaffnete Aktionen aber allemal, gegen Soldaten, gegen die völkerrechtswidrig eingedrungenen Siedler in den besetzten Gebieten von 1967. Dies ist sogar in der Genfer Konvention festgesetzt, als legitimer antikolonialer Befreiungskampf gegen die Besatzung durch eine andere Nation.
Was erwartet Ihr von einer Solidarität in Europa, wie kann sie Euch unterstützen?
Wir setzen unsere Hoffnungen auf die bewussten Menschen in Europa und anderswo in der Welt. Wir hoffen, dass eines Tages der israelische Staat international so weit isoliert wird, dass er wie Südafrika schlussendlich die Apartheid beenden muss. Israel ist das letzte noch existierende Apartheidregime der Welt und das muss weltweit so begriffen werden. Hierzu war die Verurteilung der israelischen Politk durch die Antirassismuskonferenz in Durban ein wichtiger Schritt und es müssen weitere folgen.
Für uns hat jeder Mensch die gleichen Rechte. So machen wir auch in unserer sozialen Arbeit im Nidal-Zentrum keinen Unterschied in der Behandlung Betroffener. Wer in Not ist, bekommt unsere Hilfe, unabhängig von seiner politischen Einstellung. Wir sind alle nackt auf die Welt gekommen und wir werden sie genauso wieder verlassen. Egal welche Hautfarbe wir haben, in welchem Land wir geboren sind, ob wir Männer oder Frauen sind und welchem Glauben wir angehören. Das muss die Welt endlich begreifen. Dann werden auch keine Kriege mehr geführt und das hier verschwendete Geld kann für die Beseitigung der sozialen Ungerechtigkeiten und Missstände in der Welt genutzt werden.

Achim Schuster aus Hamburg (langjähriger Aktivist der Palästina-Solidaritätsbewegung)

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