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Ineinander verwoben und voneinander getrennt

16. März 2002

Im israelisch-palästinensischen Mikrokosmos herrscht die Erste über die Dritte Welt auf engstem Raum

Im Nahen Osten leben auf engstem Raum zwei Völker – ebenso ineinander verwoben wie voneinander getrennt. Denn nichts erscheint den Ideologen eines exklusiv jüdischen Staates bedrohlicher als allein der Gedanke einer israelisch-palästinensischen Symbiose. Ein ausgeklügeltes System sichtbarer und unsichtbarer Grenzziehung soll verhindern, dass sich die Wege der beiden Völker kreuzen.
Die Straße, die zwischen West- und Ostjerusalem verläuft, ist ein sichtbares Symbol der Trennung. Jüdische Siedlungen auf der einen, palästinensische auf der anderen Seite. Hüben sichtbarer materieller Wohlstand, drüben unübersehbar das Elend. Westlich der Straße eine moderne Infrastruktur, Einkaufszentren, Krankenhäuser, Kindergärten, östlich davon Einrichtungen, die den Palästinensern das Leben schwer machen: die Zentrale der Grenzpolizei, das Hauptquartier der israelischen Polizei und das Zentralgefängnis. Doch immerhin ist das eine der ganz wenigen Straßen, auf der Israelis und Palästinenser, wenn auch nicht freundlich, miteinander verkehren, auf der sich eine israelisch-palästinensische Verkehrskarambolage ergeben kann. Ab dem Checkpoint, dem Übergang von Jerusalem zu den besetzten Gebieten, trennen sich die Wege. Über die Brücke führt eine „Bypass-Straße“, die die jüdischen Siedlungen verbindet, darunter führt der Weg in die Autonomiegebiete. Erstere repräsentiert die geschlossene Einheit von Israel und seinen Siedlungen, letztere verbindet Teile eines in Zonen mit unterschiedlichem Status zerstückelten Landes und bleibt damit unter israelischer Kontrolle.
Dieses Straßensystem verkörpert den Charakter des Landes. Es scheidet die Wege der beiden Völker, und es sichert die israelische Kontrolle über die Bewegungen der Palästinenser. An jedem Ort, wo Palästinenser und Israelis aufeinandertreffen könnten, werden umgehend Pläne für Umgehungsstraßen und Brücken erstellt. Die israelische Apartheidpolitik ist von wissenschaftlicher Präzision.
Strikte Separation
Jerusalem, so ein zionistisches Glaubensbekenntnis, sei die ewige, unteilbare Hauptstadt Israels. Doch die Unteilbarkeit folgt der Logik der Trennung. Es gibt keine Busrouten, die den westlichen mit dem östlichen Teil der Stadt verbinden. 30 Prozent der Bewohner Jerusalems sind Palästinenser, doch nur acht Prozent des städtischen Budgets fließen in die arabischen Wohnviertel. In der Altstadt kommen auf einen Israeli 15 Palästinenser, doch über deren Belange entscheidet ausschließlich die israelische Stadtverwaltung.
Die strikte Separation der Juden von den Palästinensern kommt keineswegs in einer scharfen Trennlinie zwischen West- und Ostjerusalem zum Ausdruck. Ostjerusalem wurde seit seiner Annexion 1967 zunehmend zu einem Teil Westjerusalems. Inzwischen leben 200.000 Juden im Ostteil der Stadt – bereits mehr als Araber. Das war keine spontane Bewegung, sondern eine zentral gesteuerte Besiedlungspolitik, die die Wanderbewegung von West nach Ost mit wirtschaftlichen Stimuli (billige Wohnungen auf hohem Standard) ankurbelte. Nach dem Sechstagekrieg 1967 wurde in Jerusalem rund ein Drittel arabischen Landes für den Bau von Siedlungen enteignet. 53 Prozent des verbliebenen Landes wurden zu Grünflächen umgewidmet. So grün wie Ostjerusalem ist keine andere Stadt der Welt. Ein Garten Eden. Doch für die Araber alles andere als das Paradies.
Auch die Osterweiterung Westjerusalems folgte den strengen Gesetzen der Apartheid. Zwei Lebenswelten, die einander nicht durchdringen, sondern sich in völliger Ausschließlichkeit gegenüberstehen. Die in der einen Welt leben, genießen die Vorrechte, die ihnen ein ideologisch hoch motivierter Staat einräumt; die jenseits davon darben, erleben den Staat nur in seiner repressiven Funktion. Nur selten verirrt sich die Müllabfuhr in die arabischen Viertel.
Die israelische Stadtplanung lässt deutlich erkennen, dass für die Palästinenser in Jerusalem keine Zukunft vorgesehen ist. Siedlungen mit einer hohen palästinensischen Bevölkerungskonzentration wurden aus Jerusalem ausgegliedert und von der Stadt abgeschnitten. Am schlimmsten aber wirkt sich das Bauverbot aus, das die israelischen Behörden für Palästinenser in Jerusalem verhängt haben. Jeff Halper vom Israeli Committee Against House Demolition wusste einiges zu erzählen. Auf ihren eigenen Grundstücken wird den Palästinensern keine Baugenehmigung erteilt. Bauen sie trotzdem, dann leben sie fortan in ständiger Angst vor dem Bulldozer, der schon morgen vor der Tür stehen kann. Es kann aber auch zehn Jahre dauern, bis die Schreckensvision einer arabischen Familie Wirklichkeit wird. Ständig auf Koffern zu sitzen, in ständiger Angst vor den Terroristen in den Planierraupen zu leben, dürfte kein sonderlich angenehmes Lebensgefühl sein. Auf einem Pulverfass lebt es sich kaum weniger komfortabel. Die Kosten für den Bulldozer-Einsatz werden von den Abrissfirmen nicht dem Staat berechnet, der dies in Auftrag gegeben hat, sondern den gerade ihres Hauses samt aller Einrichtungsgegenstände Enteigneten. Umgerechnet 11.500 Euro beträgt der Preis, der für die Beförderung in den Obdachlosenstatus zu entrichten ist.
Nirgendwo hat das Amt eines Wohnungsbauministers eine strategisch so bedeutsame Funktion wie in Israel. Das ist kein Amt für Sozialpolitiker und auch keines für Technokraten, das ist ein Amt für Militärstrategen, für Strategen der Landnahme und der „ethnischen Säuberung“. Als besonders berufen für diesen Posten erwies sich Ariel Scharon, der Ende der 1980er-Jahre die Weichen für die Judaisierung Ostjerusalems und der besetzten Gebiete stellte. Der Hardcore-Zionist wusste um die Grenzen ideologischen Engagements, sich auf fremdem Territorium niederzulassen um dort Erez Jisrael zu begründen. Die aktive Teilnahme an der jüdischen Besiedlung der Westbank sollte sich für die Eroberer auch rentieren.
Es entstanden äußerst komfortable Wohnviertel mit entwickelter Infrastruktur zu subventionierten Preisen. Inzwischen leben 400.000 jüdische Siedler in den von Israel 1967 eroberten Gebieten, 200.000 in Ostjerusalem und ebenso viele im Westjordanland. Doch nur 30 Prozent der Siedler, so Halper, seien dem ideologischen Motiv „Judäa und Samaria“ von den Arabern zu „befreien“ gefolgt. Neben den ideologischen Fanatikern haben sich zwei weitere Milieus in den Autonomiegebieten angesiedelt. Die ökonomisch motivierten Siedler und die Ultraorthodoxen. Letztere zählen zu den ärmsten Bevölkerungsschichten in Israel, da sie, die meiste Zeit im Gebet versunken, der Arbeit weitgehend entsagen. Ihnen, die erklärte Antizionisten sind, da sie die Gründung des Staates Israel noch vor der Ankunft des Messias als Gotteslästerung empfinden, ist keine andere Wahl geblieben, als sich auf die Westbank transferieren zu lassen.
Den Palästinensern kann es, sieht man davon ab, dass sie von den ideologisch Getriebenen in ihrer physischen Existenz unmittelbar bedroht werden, ziemlich gleichgültig sein, welche Motive die Siedler bewegen, die sie umzingeln. Herrisch auf Anhöhen thronend, antiken Zitadellen gleich, zieht sich der Siedlerwall durch palästinensisches Land, erdrosselt die Keimformen palästinensischer Unabhängigkeit und erniedrigt die Autonomiegebiete zu voneinander isolierten Bantustans.
Die Rechnung von Oslo
„Land für Frieden“ lautete die Formel von Oslo, die direkt in die – nach 1948 und 1967 – dritte palästinensische Katastrophe führte. Die Israelis wussten, dass es nicht um Land, sondern um die Kontrolle über das Land geht. Darauf beruhte ihre Verhandlungsstrategie. Nach dem Scheitern von Camp David erzählte der damalige israelische Premier Ehud Barak einer verdutzten Weltöffentlichkeit, dass er Arafat 95 Prozent der 1967 besetzten Territorien angeboten, dieser aber abgelehnt habe. Damit gab er zu verstehen, dass die Palästinenser, maßlos und kompromissunwillig, wie sie sind, eine historische Chance an lächerlichen fünf Prozent scheitern ließen. Abgesehen davon, dass 95 Prozent arg übertrieben sind, stellt sich auch die Frage nach der Qualität der fünf Prozent. Können fünf Prozent mitunter bedeutsamer sein als 95 Prozent? Jeff Halper verglich die Situation in den Autonomiegebieten mit der eines Gefängnisses. 95 Prozent des Raumes einer Strafanstalt werden von Häftlingen eingenommen und fünf Prozent von der Gefängnisadministration. Aber bedeutet das, dass die Häftlinge die Souveränität ausüben? Sind nicht diejenigen die souveränen Herrscher über die Anstalt, die die Gefangenen daran hindern, diesen Ort zu verlassen?
In Camp David hätte der Sack zugemacht werden sollen. Doch Arafat widerstand im letzten Augenblick der Versuchung Präsident eines Staates zu werden, dessen Souveränitätsrechte nur auf Leihbasis zu haben gewesen wären, eines Staates, der, verwoben mit den jüdischen Siedlungen als Elementen seiner ständigen Negation, über kein einheitliches Territorium verfügt und dessen Gewaltmonopol einer übergeordneten Macht unterstanden hätte. Die Gründung eines solchen Staates hätte einen unerträglichen Zustand dauerhaft festgeschrieben, einen während des siebenjährigen „Friedens“prozesses entstandenen Zustand, der sich als schlimmer erwiesen hatte als das Regime der uneingeschränkten militärischen Okkupation. In diesen Jahren hatte sich die Zahl der Siedler verdoppelt, war ein ausgeklügeltes Apartheidsystem entstanden, das in einem Straßennetz seine Vollendung fand, das den Israelis großzügige Umgehungsstraßen bietet, die die Autonomiegebiete durchschneiden und die Bewegungsfreiheit der Palästinenser im gleichen Ausmaß einschränken, wie sich der Siedlerverkehr entfaltet.
Auch wenn sich allein die Idee einer eigenständigen palästinensischen Staatlichkeit jahrzehntelang außerhalb der Vorstellungswelt der zionistischen Eliten befand: Einem unter Bedingungen palästinensischer Inferiorität entstandenen Staat hätten sie die Zulassung kaum verweigert. Er wäre aus ihrer Sicht die optimale Lösungsvariante des palästinensischen Problems gewesen, mit dem das zionistische Projekt von Beginn an konfrontiert war. Das palästinensische Problem, das sind drei Millionen Palästinenser, die der jüdische Staat nicht integrieren und nicht an seinen sozialen Dienstleistungen teilhaben lassen will. Das treibende Motiv, das Israel den Oslo-Weg beschreiten ließ, bestand in der weitgehenden Verdrängung des arabischen Elements aus der israelischen Gesellschaft. Gleichzeitig galt es zu verhindern, dass ein wirklich unabhängiger, lebensfähiger palästinensischer Staat entsteht. Ethnische Separation bei anhaltender israelischer Überlegenheit war und bleibt zionistischer Konsens. Noch nie war diese Überlegenheit so drückend wie jetzt.
Am Anfang der Verhandlungen von Oslo stand das mündliche Versprechen von Außenminister Peres an Arafat die jüdische Besiedlung einzufrieren. Der PLO-Vorsitzende beließ es dabei und machte die Siedlungen nicht zum Verhandlungsthema. In Wirklichkeit aber bildete Oslo den Auftakt zu einer zuvor kaum für möglich gehaltenen Siedler-Expansion. Um den Wortbruch nicht zu deutlich werden zu lassen, bediente sich die israelische Führung des äußerst fadenscheinigen Arguments vom „natürlichen Wachstum“. Wie schnell die Bevölkerung einer Siedlung auf natürliche Weise anwachsen kann, demonstrierte Halper am Beispiel von Kochav Ja…‘akov auf einem Hügel nahe Jerusalem, wo sich 1.500 Anhänger des rechtsextremen Blocks der Getreuen (Gusch Emunim) niedergelassen haben. So schnell, dass plötzlich Bedarf für den Bau einer Siedlung am benachbarten Hügel bestand, wo 30.000 Menschen angesiedelt werden sollen. Der Umstand, dass es sich bei diesen um Ultraorthodoxe, also um ein völlig anderes Siedlermilieu als die Getreuen handelt, macht es umso schwerer an ein „demographisches Wunder“ zu glauben.
„Metropolitan Jerusalem“
Die Einkreisung Ostjerusalems durch jüdische Siedlungen folgt dem Projekt Großjerusalem, dem sich besonders die „Links“zionisten von der Arbeitspartei verschrieben haben. Während Scharon und die Seinen unbeirrbar am Dogma von Jerusalem als der ewigen und unteilbaren Hauptstadt Israels festhalten, vertritt das zionistische „Friedenslager“ eine Position, die zwar weniger dogmatisch ist, in ihrem Kern aber ein noch aggressiveres Raumeroberungskonzept beinhaltet. Geben wir den Palästinensern doch Ostjerusalem und lassen sie dort in ihrem eigenen Dreck ersticken, lautet die Ausgangsthese der „Moderaten“. Das würde Israel von der Verpflichtung entbinden, den Arabern Jerusalems früher oder später das Recht auf Staatsbürgerschaft einzuräumen. Wichtiger als die territoriale Einheit des gegenwärtigen Stadtgebietes sei die Kontrolle über Großjerusalem. Dieses würde neben den jüdischen Siedlungen in Ostjerusalem auch die Siedlungen rund um die Hauptstadt umfassen. Das ergäbe summa summarum eine jüdische Mehrheit von 87 Prozent, während sie im eigentlichen Stadtgebiet nur 67 Prozent ausmacht. Und die Welt wäre endgültig vom israelischen Friedenswillen überzeugt.
Unter der Bezeichnung „Metropolitan Jerusalem“ greift das hegemonistische Projekt noch weit über Ostjerusalem hinaus, der Absicht folgend die anliegenden Autonomiegebiete als Arbeitskräftereservoire mit einzubeziehen. Rund um Jerusalem sind riesige Industriezonen entstanden, die billige arabische Arbeitskraft magisch anziehen. Zu den größten Investoren gehören prozionistische christliche Fundamentalisten aus den USA. Management und technisches Personal werden weitgehend von den Siedlern gestellt. Der Entwicklung einer eigenständigen palästinensischen Industrie wurde damit endgültig die Basis entzogen. Überzeugender hätte das südafrikanische Bantustan-System auf die palästinensischen Verhältnisse nicht übertragen werden können.
Die Ausbeutung arabischer Lohnarbeit entspricht nicht der ursprünglichen Absicht der zionistischen Kolonisation. Nicht die Ausbeutung arabischer Arbeitskraft, sondern deren Verdrängung war das ideologisch motivierte Ziel. So sollte Platz geschaffen werden für die Entwicklung einer spezifisch jüdischen Klassengesellschaft. Oder aber einer spezifisch jüdischen klassenlosen Gesellschaft, wie es Teilen der Kibbuz-Bewegung vorschwebte. Ob links oder rechts, dem kolonialistischen Modell einer exklusiv jüdischen Gesellschaft hingen beide Strömungen an. Allein dem realen Kapitalismus war es bislang vorbehalten, gewisse Dogmen der zionistischen Gründergeneration gründlich zu blamieren. Auch wenn der Markt seine Legenden zerstört und seine staatskapitalistischen Institutionen aus der Aufbauphase zersetzt hat, ist der Zionismus nicht schwächer geworden. Es mag schon stimmen, dass der Markt keine Ethnien kennt. Doch als Ort der Produktion und Reproduktion von Kapital produziert und reproduziert der Markt auch Herrschaftsverhältnisse, die von einer Klasse über die andere ausgeübt werden und im Weltmaßstab von herrschenden über unterdrückte Nationen. Im israelisch-palästinensischen Mikrokosmos herrscht die erste über die dritte Welt auf engstem Raum. Das erfordert eine Apartheid in höchster Perfektion.
Die Apartheid in Südafrika trennte Menschen mit weißer von Menschen mit schwarzer Hautfarbe. In Israel/Palästina gibt es hell- und dunkelhäutige Juden – der innerisraelische Rassismus ist ein Thema für sich – und ebenso hell- und dunkelhäutige Palästinenser. Hier manifestiert sich das System der Ausgrenzung in den unterschiedlichen Farben der Ausweispapiere. Die Bewohner Jerusalems haben blaue Dokumente und damit Bewegungsfreiheit im ganzen Land. Palästinenser, die jenseits der Stadtgrenzen leben, haben grüne oder orange Ausweise und keine Bewegungsfreiheit. Eine spezielle Genehmigung zum Überschreiten der Kontrollposten erhält nur, wer über 35, männlich und verheiratet ist, Kinder hat und noch nie mit den israelischen Sicherheitskräften in Berührung gekommen ist. Zudem muss der Arbeitgeber um die Erlaubnis nachsuchen. Wer – aus welchen Gründen auch immer – gefeuert wird, hat seine Arbeitserlaubnis verwirkt. So können die Unternehmer die Löhne beliebig festsetzen und ein unüberwindbares System der Abhängigkeit herstellen.
Ein dermaßen perfektes Unterdrückungssystem erfordert einen gigantischen Apparat. Die Unsummen, die er verschlingt, lassen sich nur ahnen. Der Nahost-Konflikt ließe sich entscheidend entschärfen, würde nur ein Teil davon in die Entwicklung Palästinas investiert werden. Doch dazu ist der zionistische Staat aus den Bedingungen seiner Existenz heraus weder fähig noch willens. Seine Aufgabe sieht er nicht darin die Emanzipation der Palästinenser zu fördern, sondern sie zu verhindern. Würde er anders handeln, wäre er nicht mehr er selbst.

Werner Pirker (Journalist in Wien)

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