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Wafa` Idris: Die Antwort

16. März 2002

Porträt einer Palästinenserin, die für ihr Volk lebte und starb

Für den Herzinfarkt, den Polizeichef des besetzten Jerusalem am 27. Januar erlitten hat, gibt es mehrere Gründe. Einer von ihnen war wohl, dass all seine Maßnahmen gegen die Widerstandsaktionen der Palästinenser in seinem Viertel gescheitert sind. Das belegen eine Reihe von Operationen, in denen Palästinenser die Blockade der arabischen Städte sowie Dörfer und Jerusalems durchbrachen. Diese sind als Antwort auf die Morde, Zerstörungen und täglichen Erniedrigungen zu verstehen, die das Regime Scharons unserem Volk antut, um den Widerstand gegen die Besatzung zu erwürgen. Innerhalb der letzten Monate erfolgte eine Serie von Anschlägen unter anderem im gleichen Viertel in Westjerusalem und fast am gleichen Ort: Jaffa-Straße Ecke Ben-Jehuda-Straße.
Die 28-jährige Palästinenserin Wafa´ Idris sprengte sich am 27. Januar in die Luft, riss einen Israeli mit sich in den Tod und verletzte ein Duzend weitere. Sie brachte damit alle Kalküle der israelischen Sicherheit und Politik durcheinander.

Wer ist Wafa´ Idris?
„Meine Schwester beobachtete mit eigenen Augen, wie Menschen durch die Kugeln der Besatzungssoldaten erlegt wurden. Wenn sie nach Hause kam, sah sie im Fernsehen alle Repressions- und Mordarten, denen unser Volk ausgesetzt ist. Das muss sie beeinflusst haben, sodass sie beschloss, etwas zu unternehmen, um darauf eine Antwort zu geben“. So fasste der 35-jährige Chalil Idris, der Bruder von Wafa´ ihre Motive zusammen.
Wafa´ Idris gilt als die erste palästinensische Frau, die einen „Selbstmordanschlag“ unternommen hat. Wafa´ wurde im Flüchtlingslager Ama´ari bei Ramallah geboren. Ihre Familie ist eine der vielen, die im Jahr 1948 aus ihren Städten und Dörfern vertrieben wurden, als die Zionisten den Staat Israel in Palästina gründeten. Sie war noch ein Kind, als ihr Vater starb. Ihre Mutter hatte sie während der ersten Intifada (1987-1993) von der Schule ferngehalten, „damit sie nicht an den lebensgefährlichen Demonstrationen teilnimmt“. Sie war Mutter von drei Kindern, 1999 nach einer 10-jährigen Ehe geschieden und hatte ein Medizinstudium begonnen. Sie arbeitete seit damals als Freiwillige beim palästinensischen Roten Halbmond. Seit dem Neubeginn der Intifada am 28. September 2000 war sie im Rettungseinsatz tätig gewesen um Erste Hilfe für die unzähligen Verletzte zu leisten. Sie musste den Tod vieler Jugendlicher und sogar einiger Kollegen mit ansehen, die im Kugelhagel der Besatzungsarmee tödlich getroffen wurden. Auch sie selbst wurde bei einem Rettungseinsatz von einem Gummigeschoss getroffen. Am Sonntag, dem 27. Januar verließ sie ihre kleine Wohnung im Flüchtlingslager und sagte der Familie, sie werde sich verspäten. Es dauerte drei Tage bis bekannt wurde, dass der unidentifizierte weibliche Körper in der Jaffa-Straße jener von Wafa´ war. „Als ich in den Medien hörte, dass es eine Frau war, dachte ich gleich an sie. Denn nur das kann ihre Abwesenheit erklären. Meine Tochter ist eine Heldin, eine Märtyrerin“, sagte ihre Mutter den Journalisten. Obwohl die Aqsa-Brigaden (der militärische Flügel der Fatah-Bewegung) für die Operation die Verantwortung übernahmen, bezeugen die Verwandten von Wafa´, dass sie nicht Mitglied irgendeiner Organisation war, jedoch kann keiner erklären, wie sie zu dem Sprengstoff kam.
Wafa´ war nicht religiös. Laut ihrer Schwester Manal trug sie kein Kopftuch und sie betete auch nicht. „Sie war eine normale Person und hatte einen starken Charakter. Sie war zwar sehr aktiv, aber keiner hätte gedacht, dass sie so einen Anschlag unternehmen würde“ .
Die Aktion von Wafa´ Idris eröffnete sowohl im palästinensischen als auch im zionistischen Lager mehrere Debatten. Sie ist zunächst wiederum als Antwort auf die zunehmende israelische Repressionspolitik, die die Form von Kollektivstrafen annimmt, zu verstehen. Die Aktion zeigt, dass die Verschärfung der Blockaden und die kollektiven Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, die Morde an Aktivisten und das Bombardieren von Städten und Dörfer der Sicherheit der Israelis nicht dienen können, sondern diese eher gefährden. Denn mit der Eskalation der Repression nimmt auch die Zustimmung der Palästinenser zu solchen Widerstandsaktionen zu und es bieten sich weitere Bereiche der palästinensischen Gesellschaft für Selbstmordattacken an. Während alle früheren Selbstmordattentate von Aktivisten der Hamas oder des Dschihad durchgeführt wurden, gilt die Aktion von Wafa´ Idris als die erste, die von Fatah ausging. Am 16. Februar sprengte sich ein 22-jähriger Aktivist der linken PFLP in einer israelischen Siedlung im Westjordanland in die Luft, tötete zwei Siedler und verletzte weitere dreißig. Auch unter den Frauen nimmt die Zustimmung und die Bereitschaft zu diesen Aktionsformen zu: So zeigten letzte Umfragen, dass 96% der Universitätsstudentinnen die Selbstmordattentate befürworten. Dies erklärt sich durch den hohen Verlust an Verwandten, durch die Zerstörungen von Häusern und das Erlebnis von den täglichen Erniedrigungen an den Militärsperren.

Frauen im Widerstand
Dies eröffnete weiters eine palästinensische Debatte über die Art der Teilnahme der Frau am Widerstand. Während Ahmad Jassin, der geistliche Führer der Hamas-Bewegung sich wegen „religiöser Restriktionen hinsichtlich des Alleinreisens von Frauen“ dagegen aussprach, betrachteten andere politische Führungen der Palästinenser sowie viele weibliche Aktivistinnen die Teilnahme der Frauen an Selbstmordattacken als ein Teil des Rechts der Frau auf Widerstand. In einer Debatte im arabischen Sender al-Dschasira erklärte etwa Leila Chaled, dass die Rolle der Frau im Widerstand immer wichtig war, auch wenn sie nicht hervorgehoben wurde. Auf die religiösen Einwände Jassins antwortete sie: „Eine Frau, die am Widerstand teilnimmt, braucht keine männliche Begleitung, denn im Gefängnis wäre sie auch allein!“ Leila Chaled selbst führte im Jahr 1969 zwei Flugzeugentführungen durch, die die Medienaufmerksamkeit auf die Palästina-Frage lenken konnten. In der langen Kampfgeschichte der Palästinenser gab es eine Reihe von Frauen, die direkt am bewaffneten Kampf gegen die Besatzung und die Kolonialisierung des Landes teilnahmen. Am bekanntesten sind Fatima Ghazal, Muhiba und Arabija Chorshid (1947), Schadia Abu Ghazaleh (1967), Leila Chaled (1969), Dalal Mughrabi (1978), Itaf Junis (1979 verhaftet), Itaf Allajan (1984 verhaftet), Abir Wahidi (1992 verhaftet) und viele andere, die an allen Arten von Widerstandsaktionen teilgenommen haben. Ebenfalls erwähnenswert ist, dass die erste Selbstmordsattacke gegen israelische Besatzungssoldaten von Sanaa Muheidali durchgeführt wurde, einer linken libanesischen Frau, die 1983 mit einem mit Sprengstoff beladenen Auto gegen eine israelische Militärsperre im damals besetzten Südlibanon fuhr und mehrere Soldaten mit sich in den Tod riss. Diese Operation galt als die Geburt des libanesischen Widerstands gegen die Besatzung.
Israelische Debatte
Im israelischen Lager war die Debatte tiefgreifender. Es wurden Fragen gestellt, die früher in der israelischen Gesellschaft als Tabu galten.
Zunächst fand die übliche sicherheitspolitische Debatte über den Sinn der bisherigen Sicherheitsmaßnahmen zwischen denjenigen, die für schärfere Maßnahmen und sogar für Massenvertreibung plädieren, und denjenigen, die das Scheitern einer militärischen Lösung bereits einsehen und für eine politische stehen, statt. Während die ersten zunehmend auf Vergeltung und weniger auf umfassende Sicherheitspolitik setzen, was eine Verlängerung des Konfliktes durch Gegenvergeltung usw. bedeutet und dem israelischen Bürger keine echte Sicherheit bieten kann, begreifen die zweiten langsam, dass eine politische Lösung nur auf dem Ende der Besatzung der im Jahr 1967 besetzten Gebieten basieren kann. Das Wiedererwachen des Friedenslagers, das auf die zweite Variante setzt, hat lange auf sich warten lassen und entfaltet sich zu langsam, wird jedoch durch das Scheitern der militärischen Variante, also durch das Durchhalten des palästinensischen Widerstands und seine Fähigkeit dem Besatzer weitere Verluste zuzufügen, beschleunigt. Die Stimmen, die einen sofortigen einseitigen Rückzug aus den arabischen Gebieten (wie im Südlibanon) fordern, werden lauter. Es wird immer deutlicher zu sehen, dass die Lösung der Palästina-Frage nur eine politische sein kann und dass die Versuche den Konflikt als eine israelische Sicherheitsfrage darzustellen und zu lösen nur zu weiterem Schaden führen können.
Es wurde auch zum ersten Mal die Phrase vom „unteilbaren Jerusalem“ in Frage gestellt, zwar nicht im politischen Sinne, sondern als Sicherheitsmaßnahme. Israelische Politiker sprachen über die Trennung arabischer und jüdischer Viertel Jerusalems. Erst als man die politische Bedeutung dieses Vorschlags begriff, wurde dieser zurückgezogen.
Politische Bedeutung
Das Selbstmordattentat von Wafa´ Idris und das folgende der PFLP beweisen, dass der Kampf der Palästinenser auf der Erde und nicht um den Himmel abläuft. Es handelt sich nicht um religiöse Fanatiker, die sich und anderen umbringen, um ins Paradies zu gelangen, sondern um Menschen, die mit jedem Mittel gegen die Besatzung ihres Landes und gegen die unmenschlichen Umstände dieser Besatzung kämpfen. Die Verzweiflung der Methoden ist nur ein Ausdruck der Verzweiflung eines Volkes, dem jede Lebensgrundlage tagtäglich und systematisch entzogen wird. Die Kampfmotive sind nicht vorrangig religiös, sondern in erster Linie politisch und menschlich.

Ali Nasser (palästinensischer Aktivist in Wien)

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