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„Irak braucht keine Hilfe“

22. Mai 2002

Ärzte fordern politischen Druck im Westen zur Aufhebung des Embargos statt wohlmeinender Spenden

Vier Grünpflanzen in der Ecke welken vor sich hin. An der Wand vergilbt ein Kinderbild, selbstgemalt vor langer Zeit auf ein Blatt Papier. Mehr gibt es nicht in der Spielecke des Saddam-Hussein-Kinderkrankenhauses in Bagdad. Tristesse pur. Auf der Krebsstation im zweiten Stock regiert der Tod über das Leben, Schmerzensschreie und lautes Klagen hallen durch den Flur. Tränen der ausweglosen Verzweiflung rollen aus den Augen der Mütter, die am Bett ihrer Kleinen sitzen. Hier ist Endstation Hoffnung. In dem Hospital in der irakischen Hauptstadt liegen die schwersten Fälle aus dem ganzen Land. Es gilt als die beste Kinderklinik im Irak. Zumindest ist es die größte.
Doch das Saddam-Krankenhaus ist heute mehr Hospiz denn Hospital. Das vor knapp zwölf Jahren verhängte UN-Embargo hat es zum Sterbehaus werden lassen. 360 Betten hat die 1948 gebaute Klinik. Täglich werden 100 neue Patienten aufgenommen, etwa 1000 Kinder kommen am Tag zusätzlich zur ambulanten Behandlung. 30 Ober- und 70 Assistenzärzte tun ihr bestes und wissen doch, es ist nicht viel. „Bis Anfang der 90er Jahre waren die Zustände in dem Krankenhaus nahezu ideal, alle Systeme haben normal gearbeitet, die Patienten konnten adäquat behandelt werden“, erklärt mir der stellvertretende Direktor Dr. al-Dilaimi. Heute fehlt es an allem, an Untersuchungsgerät, Labormaterial und Medikamenten. Das zuständige Sanktionskomitee der Vereinten Nationen stellt sich immer wieder quer, die notwendigen Mittel in den Irak zu lassen. Der Verweis auf „Dual use“ reiche aus, etwa Nitroglycerin-Tabletten, ja selbst Bleistifte zurückzuhalten. Sie könnten für den Waffenbau Verwendung finden, heißt es lapidar. Doch auch harmlose Beutel und Filter für Infusionen kommen mitunter nicht an. Von Monat zu Monat werde willkürlich etwas anderes zur Einfuhr freigegeben oder eben zurückgehalten, eine vernünftige Planung, notwendig beispielsweise für eine Langzeittherapie, ist damit unmöglich, beklagt der Klinikobere.
Die Todesrate irakischer Kinder hat sich in der letzten Dekade vervierfacht. Starben 1991 noch 40 von 1000 Kindern unter fünf Jahren sind es jetzt 150 bis 160.
„Wir arbeiten unter sehr, sehr schwierigen Bedingungen in diesem Krankenhaus“, fährt Dr. al-Dilaimi beim Rundgang fort. „Wir müssen abgelaufene Medikamente verabreichen und Behandlungsmethoden anwenden, die eigentlich nicht adäquat sind.“ Auf die Frage, was sein Krankenhaus am dringendsten bräuchte, entgegnet der Arzt: „Irak ist ein reiches Land, wir könnten alles kaufen und uns selbst helfen. Lassen sie uns einfach alleine und in Ruhe.“ Das Hauptproblem sei politischer Natur. „Irak braucht keine Hilfe, keine gutgemeinte Charity, sondern Fairness und Gerechtigkeit“, sagt er müde. Oft schon hat Dr. al-Dilaimi das zu Besuchern und Delegationen aus dem Westen gesagt. „Wir brauchen niemanden, der für uns in Europa Medikamente sammelt, sondern Menschen, die auf ihre Regierung politischen Druck ausüben, damit die Sanktionen aufgehoben werden.“
Im zweiten Stock, im Krankenzimmer 203-267, liegt ein monströs aussehendes Kind. Der Kopf ist angeschwollen, der Bauch aufgedunsen, deformiert, der gesamte Körper seltsam verfleckt. Die Augen sind riesenhaft vergrößert und ausgetreten. Der Schädel ist kahl. Die Mutter, wie die meisten in einen schwarzen Abaya gehüllt, fächelt ihrem Jungen etwas frische Luft zu – eine Klimaanlage gibt es nicht, das Fenster zur Straße steht offen; draußen scheint bei milden 30 Grad die Sonne, es ist erst Frühling. Mehr Hilfe gibt es für den reglos Daliegenden nicht. Keine Infusionen, keine Schmerzmittel. Nichts. Auch ohne ärztliche Ausführung ist ersichtlich, dass Mohammed am Ende eines langen Leidens steht. Krebs und innere Blutungen. „Der Junge stirbt“, bestätigt mir Dr. Waad Edan Louis. Der Assistenzarzt auf der Kinderkrebsstation ist Anfang 30, hat an der Universität in Bagdad Medizin studiert. Statt zu helfen und zu heilen muss der Iraker meist hilflos dem Sterben der Kleinen zusehen. „60 Prozent vergleichbarer Fälle sind in Europa heilbar“, sagt Dr. Louis mit ruhiger Stimme am Krankenbett. „Bei uns sterben mittlerweile hingegen 90 Prozent.“
Im Bett gegenüber liegt Marwa Thar. Seit 1993 leidet das 14jährige Mädchen aus Bagdad an Leukämie. Insgesamt acht Patienten nebst ihren Müttern liegen in dem Krankenzimmer. Immer wieder kommen andere Familienangehörige zu Besuch, ein Arzt zur Visite. Privatsphäre gibt es nicht. „Wir haben unser Zuhause verloren. Alles mussten wir verkaufen“, klagt Marwas Mutter. „Wir brauchen endlich eine Lösung“, mahnt sie mich verbittert. Auch Ali Achmed hat Leukämie. Still liegt der achtjährige auf seinem Bett. „Wir können für die weitere Behandlung nicht bezahlen. Wir haben nichts mehr zu verkaufen“, sagt mir sein Vater, der gerade zu Besuch kommt, verzweifelt. Um die anderen fünf Kinder im Zimmer ist es nicht besser bestellt. Nicht nur die kleinen Patienten, auch deren Eltern leiden, können sie doch in den meisten Fällen nicht helfen. „Wir haben viele psychologische Probleme aufgrund der Situation“, hatte mir Dr. al-Dilaimi von der Direktion kurz vorher noch etwas allgemein klingend gesagt.
Der Krankenhausaufenthalt im Irak ist frei, nur wer über die notwendigen Mittel verfügt, muss umgerechnet zwei Dollar bezahlen. Ein Unterschied zwischen zahlenden und nicht zahlenden Patienten wird grundsätzlich nicht gemacht. Doch die Ärzte können meist nur die Medikamente, etwa für die Chemotherapie, verabreichen, die die Angehörigen mitbringen.
Wenige Tage vor meinem Besuch gab es im Saddam-Hospital einen riesigen Wasserschaden. Das gesamte Erdgeschoß stand unter Wasser. Jetzt muffeln die feuchten Wände vor sich hin. Behelfsmäßig liegen offene Stromkabel in den Fluren. Die Farbe blättert ab. Das beste Kinderkrankenhaus macht einen miserablen Eindruck. Der Fahrstuhl ist defekt. In der Klinik fehlt es an sterilen Räumen. Doch schon bei der einfachen Diagnose fangen die Probleme an. Bis die Ärzte genau wissen, was ihren Patienten fehlt, sind diese meist schon gestorben. Wenn nicht, fehlt es an den von der UNO blockierten Medikamenten. Die Prognosen auf der Krebsstation im Saddam-Kinderkrankenhaus sind unvergleichlich schlecht.
Die Kinder im Irak sind nicht einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort geboren. Es wäre ein leichtes, aus den Todeszellen anständige Krankenzimmer werden zu lassen. Erst im Januar haben die Abgeordneten des Deutschen Bundestages einen Antrag der PDS in Sachen Irakembargo selbstgefällig abgelehnt. Marwa Thar und Ali Achmed könnten wieder gesund werden, sagt mir Dr. Louis zum Abschied. Für den kleinen Mohammed ist alles zu spät.

Rüdiger Göbel, junge Welt, 8. April 2002

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