Site-Logo
Site Navigation

Deir Yassin 1948, Sabra und Shatila 1982, Jenin 2002

23. Mai 2002


Zehn Tage lang dauerte die „Militäroperation“ im Flüchtlingslager Jenin im Norden des von Israel seit 1967 besetzten Westjordanlandes. Hunderte von Häusern wurden zerstört und dem Erdboden gleichgemacht, unzählige Menschen wurden getötet und verletzt. Unvorstellbares ist unter den tatenlosen Augen der Weltöffentlichkeit geschehen.
In dem Flüchtlingslager Jenin leben Flüchtlinge, die 1948 im Zuge der Nakba, der Katastrophe von 1948, wie der Grossteil der palästinensischen Bevölkerung aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sie stehen unter der Betreuung der UNRWA, die damals zur Betreuung der Vertriebenen etabliert wurde. Offiziell 13.055, wahrscheinlich bis zu 15.000 Menschen leben in dem Lager auf einer beengten Fläche von nur etwas mehr als einem Quadratkilometer. Man kann sich also vorstellen, wie extrem die zivile Bevölkerung unter den Ausmaßen der jüngsten Angriffe durch die israelische Armee leiden musste.
Nachdem ein Großteil schon aufgrund wirtschaftlicher Folgen der zweiten Intifada sowie Ausgangssperren etc. unter die Armutsgrenze gefallen waren und kaum mehr Zugang zu finanzieller Unterstützung seitens des Sozialministeriums der PNA, der UNRWA und NGOs hatten und nur noch um das buchstäbliche tägliche Brot kämpfen mussten, verloren jetzt viele auch noch ihr Zuhause, ihre Familienangehörigen und Freunde.
Was ist passiert?
Die Bombardierungen kamen im Schlaf. Um zwei Uhr am Morgen des 3. April, ohne jegliche Vorwarnung, wurde das Lager wahllos mit Raketen von Apache-Helikoptern beschossen, nachdem tagsüber die Stadt Jenin samt Flüchtlingslager von mehr als 60 Panzern umzingelt wurde und in die Stadt eingedrungen waren. Die Menschen waren in ihren eigenen Häusern gefangen, in der Gefahr, bei Verlassen der Häuser erschossen oder unter den Trümmern ihres eigenen Hauses begraben zu werden.
Begründet wurde der Angriff von offizieller israelischer Seite damit, dass Selbstmordattentäter aus dem Flüchtlingslager Jenin kamen und deshalb „die Infrastruktur des Terrors zerstört“ werden sollte. Was jedoch geschah, lässt einen anderen Schluss zu.
Die Attacken dauerten Tag und Nacht an, mit Panzern, die in das Camp eindrangen, Raketenbeschuss und später bis an die Zähne bewaffneten Soldaten, denen 80 bis 100 bewaffnete Bewohner verzweifelt Widerstand zu leisten versuchten. Es wurde auf alles geschossen, was sich bewegte, gleichgültig, ob bewaffnet oder unbewaffnet, jung oder alt, Frau, Mann oder Kind, Behinderte oder Verletzte. Es wurde, unter größter Verletzung internationalen Völkerrechts (aber das war ja die ganze „Operation“ an sich), nicht einmal die Möglichkeit gegeben, Verwundete einzusammeln und zu behandeln. Am 5. April musste der letzte Krankenwagen unverrichteter Dinge den Schauplatz verlassen. Bis zum 15. April war es keinem Rettungsteam mehr möglich, Verwundete zu versorgen. Menschen mussten sterben, weil ihnen jegliche Hilfe versagt wurde. Sie verbluteten mitten auf der Strasse, vor den Augen der hilflosen Angehörigen.
Die Telefonleitungen, Wasser- und Stromversorgung wurden unterbrochen, keine Nahrungsmittellieferungen waren ab dem Zeitpunkt mehr möglich.
Am sechsten April begannen Bulldozer, Häuser systematisch zu zerstören und dem Erdboden gleichzumachen, während Tränengas über dem Lager verstreut wurde. Viele Menschen wurden dabei in ihrem Haus überrascht, da von seiten der israelischen Armee kaum Vorwarnungen kamen. Zahlreiche Tragödien spielten sich ab, Menschen fanden den Tod unter den Trümmern des eigenen Hauses, weil ihnen nicht erlaubt wurde, das Haus zu verlassen, weil Angehörige ignoriert wurden, die darum bettelten, ihre behinderte Tanten oder Neffen vor der Zerstörung zu retten, weil auf sie geschossen wurde, als sie versuchten, sich in Sicherheit zu bringen.
Jamal al-Fayid, 37, war gelähmt und konnte deshalb nicht rechtzeitig von seiner Familie evakuiert werden, als ein Bulldozer am sechsten April sein Haus im Viertel Jurrat al-Dahab ins Visier nahm. Trotz der verzweifelten Bitten seiner Familie, ihn vorher aus dem Haus holen zu dürfen, wurde das Haus kaltblütig niedergerissen – Jamal starb unter den Trümmern seines Hauses.
Zu Mittag des siebten April wurde das dreistöckige Haus von Khadwa Samara, 35, von Raketen getroffen. Sie hielt sich mit ihren drei Kindern und zwölf weiteren Personen im Erdgeschoss auf. Dabei wurde der Wassertank beschädigt. Es kam schlimmer: Am Abend gegen 23.30 hörten sie einen herankommenden Bulldozer. Er zerstörte die einzige Tür, so dass alle Menschen im Haus gefangen waren. Sie flohen daraufhin ins Schlafzimmer, gaben Signale mit Laternen, um zu zeigen, dass das Haus bewohnt ist. Nach einer kurzen Pause wurde das zerstörerische Werk um fünf Uhr morgens fortgeführt – der Bulldozer stoppte erst bei dem letzten Zimmer, dem Schlafzimmer. Khadwa und die anderen konnten sich durch das Fenster zu den Nachbarn flüchten – jedoch nur für fünfzehn Minuten Verschnaufpause. Schon wurde auch dieses Haus in Angriff genommen! Mit vereinten Kräften schlug man mit allem, was man fand, Hämmern und Rohren, ein Loch in die Wand. Sie konnten zu ihrem Bruder fliehen, der in der Nachbarschaft wohnte. Am neunten April bekam Khadwa einen Telefonanruf von einem Verwandten aus Jordanien, der im Fernsehen verfolgt hatte, was geschah und überredete sie, zu fliehen. Tatsächlich hatte die Armee den Befehl gegeben, das Lager zu evakuieren, jedoch nicht in dem Viertel, in dem sie sich aufhielt. Mit weißen Flaggen ausgerüstet versuchten sie zu mittlerweile 24st, den Ort zu verlassen, wurden jedoch aufgehalten und aufgefordert, in ihre Häuser zurückzukehren. Nach stundenlangem Verharren wurde es ihnen schließlich erlaubt, das Camp zu verlassen.
Diejenigen Frauen und Kinder, die es schafften, rechtzeitig ihre Häuser zu verlassen, wurden auf einem zentralen Platz zusammengetrieben, die Männer wurden verhaftet. Die Frauen und Kinder wurden gezwungen, in die benachbarten Viertel der Stadt zu fliehen, wo sie entweder bei Verwandten oder völlig Unbekannten Zuflucht fanden, deren Häuser bereits völlig aus den Nähten platzten mit manchmal mehr als 50 Menschen in einem Raum, mit dem Problem, dass die Essensvorräte sich dem Ende neigten, überfordert, und dem gleichen Problem der zerstörten Wasser- und Stromleitungen, Ausgangssperre und militärischem Beschuss.
Nachdem auch israelische Soldaten aufgrund des andauernden Widerstandes am 9. April im Viertel Hawashin ums Leben kamen, kam es am 10. April im gesamten Lager, aber besonders in diesem Viertel zu Gewaltexzessen. Wie viele Menschen an dem Tag ums Leben kamen, kann zum jetzigen Zeitpunkt noch niemand sagen, aber dass Hawashin dem Erdboden gleichgemacht wurde und viele Leichen dadurch unter der Oberflächen verschwanden, ist längst kein Geheimnis mehr. Bis heute verpestet der Leichengeruch die Luft.
Das ganze Gebiet wurde zur „militärischen Sperrzone“ erklärt, um Journalisten, Menschenrechtsorganisationen und sogar Ambulanzen daran zu hindern, Hilfe zu leisten und dabei Zeugen des Grauens zu werden, das die israelischen Soldaten seit dem 3. April dort angerichtet hatte. Selbst nachdem der Widerstand gebrochen war, stand das Lager noch tagelang unter Ausgangssperre, niemand durfte hinein, niemand durfte hinaus.
Erst am 15. April durfte begrenzt damit begonnen werden, Verwundete und Tote einzusammeln.
Die Zeit wurde genutzt. Viele Augenzeugen bestätigen, dass in den Strassen liegende Leichen von der israelischen Armee eingesammelt und in Kühllastern abtransportiert wurden. Mindestens 200 sollen im nördlichen Jordantal, an einem geheimgehaltenen Ort, in einem Massengrab verscharrt werden, mit der Begründung, keinen „Märtyrerkult“ aufkommen lassen zu wollen. Wohl eher, um zu verschleiern, wer die Toten waren, nämlich nicht nur bewaffnete Widerstandskämpfer, die das Recht auf Selbstverteidigung in Anspruch genommen haben, sondern auch unbewaffnete Frauen, Männer und Kinder.
Und die Zeit arbeitet gegen Versuche, die Details dieses Massakers aufzudecken, auch wenn die Wahrheit nicht für immer verborgen bleiben kann. In der Zwischenzeit sind die Leichen verwest.
Wir müssen von sehr hohen Zahl an Toten ausgehen. Selbst die israelische Armee hatte zunächst von Hunderten Toten gesprochen, mittlerweile wurde das von der Sharon-Regierung natürlich relativiert und plötzlich nur noch von ca. 50 Toten gesprochen, wovon nur drei Zivilisten gewesen sein sollen. Die vielen Bilder von toten Kindern sprechen eine andere Sprache …
Erst bei Einbruch der Dunkelheit am 14. April bekamen erstmals jeweils ein Krankenwagen des Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes die Erlaubnis, Tote einzusammeln, die in Strassen und Häusern verrotteten. Unter erschwerten Bedingungen, da bis zu dem Zeitpunkt und noch lange danach kein Strom für Licht sorgen konnte, tagsüber jedoch israelische Scharfschützen lauern. Am Morgen des 15. April begann dann die erste Bergung von sieben Leichen, alle paar Meter behindert von israelischen Militärs und der Tatsache, das ohne schweres Gerät viele Leichen nicht aus dem Schutt der Häuser geborgen werden konnten.
Erst Tage später durften sich Journalisten nach und nach ein Bild machen von dem Ausmaß der Zerstörung. Langsam drangen die Berichte von Augenzeugen nach außen, Berichte über Kämpfer, die sich schon ergeben hatten und von israelischen Soldaten einfach über den Haufen geschossen wurden, von Menschen, die einen Blick aus dem Fenster wagten und sofort von Scharfschützen beschossen und getötet wurden, von Zivilisten, die an dem Versuch, sich und ihre Familien aus ihren beschossenen und von Bulldozern attackierten Häusern in Sicherheit zu bringen, gehindert und beschossen wurden. Menschen, die tagelang zu dreißigst in einem kleinen fensterlosen Badezimmer ausgeharrt hatten, ohne Nahrung, mit wenig Wasservorräten, während der Rest ihres Hauses zerstört wurde. Menschen, die ihrem Bruder, Vater oder Ehemann hilflos dabei zusehen mussten, wie sie auf der Strasse verbluteten, wissend, dass sie sofort ebenfalls beschossen würden, wenn sie es wagten, ihr Haus zu verlassen.
Bis zum 2. Mai wurden 52 Leichen geborgen und identifiziert, davon mindestens 22 Zivilisten, darunter Frauen, Kinder, Alte und Behinderte. Täglich werden weitere Leichen entdeckt. Viele Menschen werden noch vermisst, unklar, ob sie verhaftet oder tot sind.
Und nach wie zuvor steht die Anklage im Raum, dass 200 oder mehr Leichen von israelischen Soldaten in einem Massengrab verscharrt worden sind.
Mindestens 4.000 Menschen sind obdachlos geworden, ihre Häuser existieren nicht mehr oder sind unbewohnbar geworden. Es wird wohl noch lange dauern, bis die Menschen eines Tages ein normales Leben führen können.
Die Rolle der Welt: Zuschauen, Sanktionen in Betracht ziehen und verwerfen, relativieren, nachdem die Gräuel passiert sind, humanitäre Hilfe leisten, die die Freunde und Verwandten nie mehr wiederbringen können.
Die Toten sind noch lange nicht begraben, und Israels Unterstützer Bush bezeichnet Sharon als einen „Mann des Friedens“, verteidigt Israels brutale Vorgehensweise als „legitimes Selbstverteidigungsrecht“, wohlwissend, dass Israel in Jenin gegen alle relevanten Bestimmungen der 4. Genfer Konvention verstieß, zu denen es sich durch seine Ratifizierung verpflichtet hatte. Besonders erwähnenswert sind Artikel 16 und 20, die den Schutz von Verletzten und das Recht auf unbehinderten Zugang von medizinischer Versorgung beinhalten. Artikel 33 verbietet jegliche Form der kollektiven Bestrafung, Artikel 53 die Zerstörung von Besitz und Wohnhäusern der Zivilbevölkerung. Laut Artikel 55 und 59 ist die besatzende Militärmacht dazu verpflichtet, für eine adäquate Versorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten zu sorgen.
Dies sind nur einige der Menschenrechtsverletzungen, die begangen wurden. Auch nach dem Ende der stärksten Belagerung gibt es keine Sicherheit für die Menschen. Nur eine endgültige Lösung kann den Menschen die Freiheit geben, die sie in ihrem Leben nie besessen haben. Frei von Besatzung, frei von tagtäglichen Demütigungen, frei ihr eigenes Leben zu bestimmen.

Freiheit für Palästina!

Steffi Seidel

Quellen:
United Nations Relief And Works Agency for Palestine Refugees in the Near East
Human Rights Watch
Palestine Monitor: Tägliche Berichte
Justin Huggler, Phil Reeves: „Once upon a time in Jenin.What really happened in Jenin?“ The Independent, 25. April 2002
Rita Giacaman, Penny Johnson:“Who lives in Jenin Refugee Camp? A Brief Statistical Profile“. Birzeit University, 14. April 2002

Thema
Archiv