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Eine Chronik leerer Gräber

23. Mai 2002


Es fällt schwer zu schreiben, wenn man weiß, dass Menschen, die ihre Liebsten verloren haben, diese Zeilen lesen könnten. Ihr Schmerz klingt mir in den Ohren.
Und doch finde ich es schwer zu schweigen. (…) Ich möchte die Geschichte von Ashraf erzählen. Dies soll weder eine Verurteilung noch eine Rechfertigung sein, sondern ein Monolog über einen angekündigten Tod. Hier sind die baren Fakten, statistisches Material für die Zukunft oder – wie Ashraf es nannte: „Eine Chronik leerer Gräber“.
Ashraf wurde 1979 in das Feuer der Besatzung hineingeboren. Er wollte Schauspieler werden. Wir trafen uns 1988 im Flüchtlingslager Jenin, als ich für das Theaterstück „The Children of Stone“ (Kinder der Steine) arbeitete. Ashraf wollte auch ein Stück schreiben. Er war ein intelligentes, von den Hemmungen, die die Unterdrückung begleiten, freies Kind. Morgens warf er Steine auf die Soldaten und nachts lernte er die Zeilen des Stückes auswendig, welches wir in dem Lager produzierten. Zu der Zeit war er erst neun Jahre alt. Sein Bruder wurde eingesperrt, weil er an der damaligen Intifada teilgenommen hatte. Sein Mutter ließ uns unter ihrem Dach proben. Sein Vater hasste die Straßensperren. Seine kleine Schwester saß immer in der Ecke und beobachtete uns ängstlich.
Ashraf wurde festgenommen und von den Grenzsoldaten verprügelt. Noch Tage später trug er seinen verletzten Arm mit Stolz. Sein Vater wurde gefeuert. Sein jüdischer Arbeitgeber konnte seine Abwesenheiten nicht länger ertragen. Ashraf ging los, um Geld für seine Familie zu verdienen. Die Proben gingen ohne ihn weiter. Seine Freunde sagten, dass sie ihn manchmal nachts und in Eile vorbeigehen sahen.
1992 trafen wir uns wieder. Da war er erst 13. Er sprach fließend und mit Charisma. Ashraf wollte ein Shahid (Arabisch für …‚Märtyrer´) sein. Seine Freunde machten sich über ihn lustig. Seine Eltern hielten dies für die typische Rebellion eines Teenagers. Aber er machte weiter. Seine kleine Schwester, die aufgehört hatte zu sprechen, nachdem Soldaten in ihr Haus eingebrochen waren und ihren Bruder festgenommen hatten, klammerte sich immer an seine Hose, um in seiner Nähe zu sein. Ihre Liebe hob seine Stimmung. Er nahm sie als Zeichen, dass er Recht hatte. Ashraf wollte sich im Namen aller rächen.
Die Leute um ihn herum waren von seinem eifernden Gerede und Geheimnistue amüsiert. Die Intifada hatte ihren Höhepunkt erreicht. Und dann passierte es. Sein Bruder wurde von einem Militärgericht zu acht Jahren Haft verurteilt. Ihr Haus wurde von der Armee in die Luft gejagt und total zerstört. Ashraf weinte. Ausländische Fernsehkameras zeichneten seine Tränen auf. „Ich will lieber auf den Füßen sterben, als auf den Knien leben,“ pflegte er zu sagen.
Es war ein schlechtes Zeichen. Ashraf starb nicht. Das Osloer Abkommen wurde von allen gefeiert. Er war angezogen wie ein Bräutigam. Ein Held der Nachbarschaft. Ein Gewinner. Seine Familie zog in das Haus seines Onkels.
Sowohl die Stadt Jenin wie auch das angrenzende Flüchtlingslager kamen zur Zone A. (also unter palästinensische Kontrolle, Anm. d. Ü.). Ashraf suchte nach Arbeit. Ich traf ihn bei einem meiner Besuche auf dem Markt in Jenin. Diesmal trug er eine Polizeiuniform und war stolz wie ein Pfau.
Ich verbarg mein Unbehagen nicht und erinnerte ihn daran, dass, wie das alte Sprichwort sagt, „Macht verdirbt“. Ein paar Monate später sagte er mir am Telefon, dass er die Polizei verlassen habe, dass sich nichts geändert habe und dass er mit der „Verschwörung“, wie er das Oslo-Abkommen jetzt nannte, nichts zu tun haben wolle. „Wir sind zu Subunternehmern Israels geworden“, sagte er. „Das Land meines Großvaters wurde konfisziert, um die Siedlung oberhalb von Jenin zu erweitern … und wir, die palästinensische Polizei, sollen die Siedler schützen … jeder Meter eine Straßensperre … ich arbeite in der Zone C, schleiche mich in Zone B und schlafe in Zone A. … Wie eine Kuh, die nach der Weide in den Stall kommt.“ „Eine doppelte Besatzung“, – das war gegen seinen Vater gerichtet, der in der Zwischenzeit auf dem örtlichen Markt Arbeit gefunden hatte.
Die Spannung in den [besetzten] Gebieten wuchs. Acht Jahre Oslo. Acht Jahre direkter und indirekter Besetzung. Die Territorien werden in Kantone eingeteilt. Die Straßensperren vervielfältigen sich. Die Zahl der Siedler verdoppelt sich. Land wird konfisziert. Umgehungsstraßen zerschneiden die Westbank. Von Norden nach Süden und von Westen nach Osten. „Wir werden betrogen“, schrie Ashraf ins Telefon. Ich lud ihn ein, mich in Haifa zu besuchen. Er schaffte es nicht. Sharon ging auf den Tempelberg. In den [besetzten] Gebieten war Ausgangssperre. Ashraf ging in den Untergrund.
Auf dem Höhepunkt der al-Aqsa-Intifada fuhr ich nach Jenin. Die Straßen, um die Stadt waren aufgerissen, um die Autos an der Durchfahrt zu hindern. Die Armee hatte weder die Kanalisation noch das Stromnetz verschont. Das Lager lag in totaler Finsternis. Mit der Hilfe eines Freundes aus einem Nachbardorf gelangte ich hinein. Ashrafs Mutter öffnete mir wie gewöhnlich die Tür und lud mich schnell ein. Ich hatte Angst. Es herrschte eine harte, lähmende Stimmung. Die Mutter zählte die Verletzten und die Verhafteten auf – die Toten wurden nicht erwähnt. „Ashraf ist weg“, sagte sie, „Er ging, um zu kämpfen.“
Sie war zäh und ließ weder das kleinste bisschen Sorge erkennen, noch beschwerte sie sich. Bei früheren Besuchen hatte ich mich wie zu Hause gefühlt. Ich achtete nicht auf meine Worte. Dieses Mal war es anders. Meine Gastgeber, die mein Unbehagen spürten, ersparten mir ihre Wut und ihren Zorn über die Besetzung nicht, als ob ich deren Repräsentant gewesen wäre. Sie fühlten sich erniedrigt, hungrig, kalt und saßen im Dunkeln. Ich bot meine Hilfe an, die aber wurde abgelehnt. Wir trennten uns. Ashraf sprengte sich im Süden in die Luft. Seine Leiche wurde nie begraben. Seinen Ausspruch: „Es ist besser im Stehen zu sterben, als auf Knien zu leben“ habe ich noch immer in den Ohren.

Guiliano Mar Kamis
(israelischer Friedensaktivist)
Haifa, 6. April 2002

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