von Rüdiger Göbel, junge Welt
aus: junge Welt, 24.Mai 2002
Proteste gegen US-Kriegspolitik in über 60 Städten. In Berlin erneut
zehntausende Demonstranten auf der Straße
Überschattet vom Bush-Besuch protestierten am Mittwoch abend in über
60 Städten zehntausende Menschen friedlich gegen die US-Kriegspolitik.
Die Friedens- und globalisierungskritische Bewegung hatte damit
pünktlich zur Landung der Airforce One auf dem Tegeler Flughafen in
Berlin ihre Aktionen auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet.
Kundgebungen und Demonstrationen fanden unter anderem in Kiel,
Hamburg, Bremen, Hannover, Frankfurt am Main, Heidelberg, Mannheim,
Saarbrücken, München, Leipzig, Halle, Magdeburg sowie in mehreren
Städten im Ruhrgebiet statt. In der Hauptstadt, wo US-Präsident George
W. Bush bis Donnerstag nachmittag abgeschirmt von der Bevölkerung
neben dem neu verhüllten Brandenburger Tor im Luxushotel Adlon hofiert
wurde, gingen nach Angaben der Veranstalter am Mittwoch 50000 Menschen
auf die Straße. Über 10000 Polizisten sowie 600 Sicherheitskräfte aus
den USA sorgten allerdings dafür, daß der hohe Gast von seinen lauten,
bunten und ausgelassenen Kritikern in Berlin-Mitte unbehelligt blieb.
„Herr Bush, öffnen Sie diese Mauer“, brüllte ein Berliner am
rot-weißen Absperrgitter an der Friedrichstraße, Ecke Unter den Linden
zur Belustigung einiger Schaulustiger und selbst der gutgelaunten
Polizisten. Vergeblich. Regierungsviertel und Tiergarten waren seit
dem frühen Nachmittag menschenleeres Sperrgebiet, in dem die
Gewerkschaft der Polizei rote Lutscher, Bananen und Skatkarten an ihre
Beamten verteilte. Nur wenige Berliner fanden sich am Abend ein, einen
fernen Blick auf „Dabbelju“ zu erhaschen. Stattdessen drängten sich
Wasserwerfer, Räumfahrzeuge und martialische Panzerwagen des BGS dicht
an dicht auf dem Prachtboulevar, an dessen Ende vor dem Berliner Dom
die Bush-Gegner eine Friedenskundgebung abhielten.
Zehntausende waren zuvor „bush-trommelnd“ um den Alexanderplatz
gezogen, am Straßenrand wurden derweil Bush-Brezeln angeboten.
Parolen, Plakate und Transparente auf der Demonstration waren deutlich
radikaler als bei der zentralen Kundgebung der Friedensbewegung am
Dienstag, die unter dem Motto „Wir wollen ihre Kriege nicht, Herr
Präsident“ stand. Auch war der Alterdurchschnitt der lautstarken
Protestteilnehmer am Mittwoch deutlich jünger. Nur wenige Dutzend
verharrten beim interkonfessionellen Gebet, während das Gros den Unmut
gegen die Arroganz der Macht auf die Straße tragen wollte – wenigstens
dort, wo es von der Polizei toleriert wurde. Immer wieder provozierten
allerdings die Sicherheitskräfte des Rot-Rot-Senats die
Protestteilnehmer. An den Polizeiketten am Rande der Demonstration gab
es desöfteren kleinere Auseinandersetzungen. Als am Rande der
Kundgebung eine Fahne und Transparente verbrannt wurden, schritt die
Polizei ein. Pünktlich zu Currywurst und Apfelstrudel, die
Bundeskanzler Gerhard Schröder und der US-Präsident im Literaturcafà©
Tucher speisten, gingen Bilder von „Ausschreitungen“ der Bush-Gegner
über die Nachrichtensender um die Welt. Vereinzelt flogen Flaschen und
Dosen auf die in Bürgerkriegsmontur angetretenen Einsatzkräfte,
verletzt wurden bei diesen Unsinnsaktionen allerdings allenfalls
ungeschützte Demonstranten. Militanter Widerstand, wie ihn
Hauptstadtpolizei und Boulevardpresse in den Tagen vor dem Bush-Besuch
prognostiziert hatten, blieb aus. Gegen 23.20 Uhr setzte die Polizei
Wasserwerfer ein, um die letzten Demonstranten vom Berliner Dom und
dem Lustgarten zu vertreiben. Gegen Mitternacht war Demoschicht, am
McDonalds und dem Kaufhof am Alexanderplatz gingen kurz danach noch
ein paar Scheiben zu Bruch.
Knapp 60 Demonstranten seien in der Nacht auf Donnerstag festgenommen
worden, teilte die Polizei mit. Darunter dürfte auch jener Punker
sein, der von einem Überfallkommando der Einsatzkräfte am Rande der
Kundgebungsbühne ohne Grund weggeschleppt und verprügelt wurde. War
sein spitzer Irokesenschnitt eine gefährliche Waffe? Die Frage wird
sich vermutlich nicht klären lassen. Wo auch immer dies passiert sein
soll, nach Angaben der Behörden wurden bei den Auseinandersetzungen 44
Polizisten verletzt.
Philipp Hersel vom globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC kam am
Donnerstag ins Schwärmen. „So etwas Lebhaftes, Buntes haben wir hier
in Berlin seit Ewigkeiten nicht mehr erlebt.“ Es war eine der „größten
Mobilisierung an einem Werktag“, so der Demomitorganisator. Auch Laura
von Wimmersperg von der Berliner Friedenskoordination äußerte sich
sichtlich euphorisch. „Für uns alte Hasen der Protestbewegung war es
ein tolles Gefühl, mit so vielen jungen Leuten zusammen zu
demonstrieren.“ Die „Bush-Tage“ seien ein gelungener Anfang gewesen,
gegen den angekündigten Irak-Krieg zu mobilisieren.
Am Donnerstag noch einmal eine solche große Manifestation zu
organisieren, dafür haben die Kräfte dann aber doch nicht gereicht.
„Zumal die PDS und die Gewerkschaften uns schon am Mittwoch nicht mehr
unterstützt hatten“, merkte die graue Eminenz der Berliner
Antikriegsbewegung gegenüber junge Welt an.
Doch auch so ging es weiter: Während George W. Bush im Reichstag am
Donnerstag nachmittag seine „historische Rede in der Hauptstadt des
wiedervereinigten Deutschlands in einem sich vereinigenden Europa“
hielt, legten mehrere hundert Demonstranten den Berliner S-Bahnhof
Alexanderplatz lahm. Eine Spontanaktion: Im Rahmen einer „Reclaim the
Street“-Aktion hatten sie sich zuvor mit rund 100 Polizisten ein
ansehnliches Katz-und-Mausspiel in Mitte geliefert. „Wir sind
friedlich, was seid ihr?“ und „Wir wollen euch schwitzen sehen, setzt
die Helme auf!“ riefen die zum Teil phantasievoll verkleideten
jugendlichen Aktivisten. Von den sichtlich überforderten Beamten
wurden sie schließlich in den Bahnhof gedrängt. Die S-Bahn
Verkehrsleitung stellte daraufhin aus Sicherheitsgründen den Fahrstrom
ab. Der Bahnhof mußte geschlossen werden, die zentrale Bahnverbindung
durch Berlin war für Stunden blockiert. Zum Abflug des US-Präsidenten
am späten Nachmittag schließlich wollten noch „Greenhorns, Indianer,
Cowboys und -girls“ unter dem Motto „Kuhtreiben statt Kriegstreiben“
in einem „großen Treck für den Frieden“ durch Mitte ziehen.