Reform der Intifada oder Reform der PNA?
Es könne sich heute nur wenige Leute an die Südlibanesische Armee (SLA) erinnern, die von 1978 bis 2000 im Dienste Israels stand, um die Nordgrenzen gegen die Operationen der palästinensischen und libanesischen Widerstandsorganisationen zu sichern. Es mangelte damals nicht an Männern wie Saad Haddad und Anton Lahad, die für Geld oder eine künstliche lokale Macht an der Spitze einer Söldnertruppe gegen das eigene Volk standen und bedingungs- und gar selbstlos für Israel arbeiteten. Nun ist die SLA Geschichte und die israelische Armee ist in schmachvoller Weise aus dem Südlibanon vertrieben worden. Jedoch blieb das Modell für die regierende israelische Soldateska erhalten und heute sehen Israel und die USA seine Anwendung in den besetzten palästinensischen Gebieten vor. Wenn also von von „Reformen“ der palästinensischen Nationalbehörde (PNA) gesprochen wird, dann ist dies nur in diesem Sinne zu verstehen.
Während die israelische Besatzungsarmee ihren Angriff auf die palästinensische Zivilbevölkerung in allen Städten, Dörfern und Flüchtlingslagern zur Eskalation treibt, beschäftigen sich die Medien – und dementsprechend die Öffentlichkeit – mit den sogenannten Reformen der palästinensischen Autonomiebehörde und dies besonders, seit sie seitens der US-amerikanischen und der israelischen Regierungen gefordert werden. Die Frage der Reformen ist jedoch keine neue Frage, denn diese wurden in den sieben dem Oslo-Abkommen nachfolgenden Jahre gefordert. Damals war es allerdings die palästinensische Bevölkerung, vom einfachen Menschen auf der Straße über Intellektuelle bis hin zu Arafats eigener Partei (Fatah), die Reformen forderten, und sie konnten sich weder im Inland noch im Ausland Gehör verschaffen, weil sie Reformen in einem andere Sinne im Kopf hatten.
Die Forderungen der Palästinenser nach Veränderungen, die beim Errichten der Autonomiebehörde 1994 an deutlichsten zu hören waren, gehen eigentlich auf die letzten 30 Jahre zurück. Im Mittelpunkt stand und steht heute noch das Zentrum der politischen Entscheidung, das über die Jahre von Arafats Person verkörpert wurde, der alle PLO-Institutionen auf Eis gelegt hatte. Die nicht gewählte PLO, die selbst eine Ansammlung palästinensischer Organisationen ist, erhält ihre Legitimität nur durch ihre Vertretung der historischen zentralen Forderungen des palästinensischen Volkes. Dies wurde in der Nationalcharta zum Ausdruck gebracht, die hier als der Sozialpakt zwischen der Führung und der Gesellschaft gelten soll.
Legitimität erreicht die PLO jedoch nur dank der massiven Beteiligung der Bevölkerung an den Widerstandsaktionen, die bei der ersten Intifada (1987-1993) einen Höhepunkt erreichte. Die palästinensische Bevölkerung brachte auch jede alternative Führung oder Regierung, die seitens Israel oder der arabischen Regierungen lanciert und gefördert worden waren, zu Fall, was Israel dazu zwang, die PLO – auch unter ungünstigen Bedingungen – als Gesprächpartner anzuerkennen. Jedoch war diese Anerkennung an die Bedingungen des Oslo-Abkommens gebunden, deren Akzeptanz durch Arafat an sich eine Verletzung der Palästinesischen Nationalcharta darstellte. Arafat hinterging auch alle Gremien, angefangen vom Zentralkomitee der Fatah und nicht endend mit dem palästinensischen Nationalkongress. Ohne diese diktatorische Haltung Arafats wäre das Abkommen nicht zustande gekommen und die Zentralisierung der Macht den Händen Arafats und einer kleinen Clique innerhalb der PLO wurde daher von Israel und den USA abgesegnet.
Im Laufe der Jahre nach dem Oslo-Abkommen verschärften sich die palästinensischen Forderungen nach Reformen. Die Hauptforderungen waren demokratische Wahlen, Gewaltentrennung und politische sowie finanzielle Transparenz. Ferner wurde ein alle PalästinenserInnen im In- und Ausland einschließendes Referendum über das Oslo-Ankommen, die Wiederbelebung der PLO-Institutionen und die Teilnahme aller Organisationen, welche die verschiedenen Teile der palästinensischen Gesellschaft vertreten, an der politischen Entscheidung gefordert. Dies stieß damals bei der herrschenden VIP-Klasse auf taube Ohren, während und die Opposition im Westen ständig als radikal und marginalisiert dargestellt wurde. Als im Jahr 1999 zwanzig palästinensische Intellektuelle wegen eines Aufrufs verhaftet wurden, in dem sie politische Reformen und Maßnahmen gegen die Korruption der Behörde forderten, fand sich im Westen niemand, der sie oder bloß ihr Recht auf freie Meinungsäußerung verteidigt hätte. Arafat wurde nur dann kritisiert, wenn er in Konflikt mit der israelischen Regierung stand. Die Kritik an der Korruption der PNA erscheint nur im Kontext der Waffenkäufe und der Finanzierung der Widerstandsorganisationen, zu dem die PNA gezwungen war, um ihre Gebiete zu verteidigen. Nur hier fordern die Israelis „Transparenz“, wenn es um die Privilegien der treuen VIP-Schicht geht, ist hingegen kaum Kritik zu hören.
Ähnlich liegt der Fall mit den vielen palästinensischen Sicherheitsapparates und der Forderung nach ihrer Vereinigung. Als diese in den Jahren zwischen Oslo und dem Beginn der Intifada effizient die Macht Arafats und die Sicherheit Israels gegen die Opposition bzw. die Widerstandsorganisationen schützte, wurden sie gelobt und ihre Führer als gemäßigte Männer betrachtet. Als sie aber nicht mehr gegen den massiven Widerstand der Bevölkerung auftreten konnten und als einige Mitglieder dieser Apparate sogar am Widerstand teilnahmen, forderten Israel und die USA die Vereinigung der Apparate, und dies natürlich unter einer „gemäßigten“ Führung, die später als eine günstige Nachfolge oder Alternative zu Arafat hätte dienen können.
Arafat, der bei den Verhandlungen von Camp David am Ende seiner Kompromissbereitschaft angelangt war, hatte für die Israelis und die USA seine Rolle ausgespielt und es wurde Zeit, ihn gegen einen neuen lokalen „Ansprechpartner“ auszutauschen, der die amerikanischen und israelischen Diktate bedingungsloser befolgen würde.
So scheinen sich die Reformforderungen der Bevölkerung und jene der Israelis zu gleichen, jedoch sind ihre Inhalt einander diametral entgegen gesetzt. Nun findet sich für die Israelis keine Alternative zu Arafat, die das Modell von Oslo, bzw. darüber hinausgehende Maßnahmen fortsetzen will und kann und sich gleichzeitig in der palästinensischen Gesellschaft durchzusetzen vermag. Die Doppelrolle Arafats, die dieser nur mit Hilfe einer doppelmoralischen Rhetorik entsprechend dem jeweiligen Ansprechpartner erhalten konnte, und auch dies nur mit beschränktem Erfolg, kann von keiner der Personen um Arafat gespielt werden. Eine neue Führung, die den Widerstand zu stoppen versucht und weitere Sicherheitsabkommen mit Israel schließt, kann dies nur mit exzessiver Repression gegen die eigene Bevölkerung durchsetzen, was einem Bürgerkrieg Tür und Tor öffnen würde. Um das israelische „Friedensmodell“ umzusetzen, muss erst einmal die palästinensische Bevölkerung ausgetauscht werden.
Auf der anderen Seite wird von der palästinensischen Opposition – und dies seit dem Beginn der Intifada – eine Umstrukturierung der politischen Führung gefordert.
Die Reform der Intifada
Die sieben Jahre nach Oslo haben gezeigt, dass Verhandlungen nur ein Ausdruck der Machtbalance und der Druckmittel sind. Dies war der Grund, warum die Intifada notwendig wurde. Die Intifada schloss alle Schichten der palästinensischen Gesellschaft ein, auch wenn einige sie willentlich, die anderen notgedrungen unterstützt haben. Der Ausdruck dieses Zusammenschlusses blieb aber beschränkt auf den direkten Widerstand und konnte die politischen Führungsgremien nicht erreichen. Das politische Entscheidungszentrum liegt nach wie vor in der Hand Arafats und der VIP-Schicht, für welche die Intifada nur eine Last bzw. bestenfalls ein vorläufiges Druckmittel in den Verhandlungen darstellt, die jedoch den Rahmen von Oslo nicht sprengen soll. So dauerte es nicht lange, dass die PNA-Sicherheitsapparate gegen die Massen aufgetreten sind.
Die Opposition war sich in den meisten Forderungen einig, nämlich über die Bildung einer gemeinsamen militärischen Führung; die Teilnahme aller Organisationen an den politischen Entscheidungen; die Bildung von Volkswiderstandskomitees und die Bewaffnung der Bevölkerung sowie die Wiederbelebung der PLO, ihre Ausdehnung auf alle palästinensischen Kräfte und die Rehabilitierung des Nationalkongresses als politische Referenzstruktur.
Alle palästinensische Organisationen –einschließlich der Fatah – beharren auf dem Recht auf Widerstand und dem Widerstand als Strategie, um die Besatzung zu vertreiben.
Auf der anderen Seite verfehlte die Opposition das Ziel, ein gemeinsames Programm zu entwerfen und eine wahre Alternative zu Arafats Führung zu bilden. Trotz des heldenhaften und in seinem Ausmaß einmaligen Kampfes der Bevölkerung versagten die politischen Führungen dabei, diesen Kampf in ein politisches Programm umzusetzen. So kam nach dem am 15. Dezember 2001 von Arafat angekündigten einseitigen Waffenstillstand der Wendepunkt, der eine Reihe von Verhaftungen, Illegalisierungen von Organisationen und schließlich die israelischen Offensiven mit sich brachte.
Als Arafat zum Volk sprach
Während des ersten Jahres der Intifada weigerte sich Arafat, und dies eben aufgrund seiner Doppelrethorik, eine Ansprache ans Volk zu halten. Einerseits forderten die Palästinenser eine klare Bezugnahme Arafats zum Aufstand, anderseits forderten die USA eine arabische Rede von Arafat an die Bevölkerung, die den „Gewaltverzicht“ propagieren sollte. Am 15. Dezember 2001 kam diese lang erwartete und längst von den Ereignissen überholte Rede, die einen einseitigen Waffenstillstand ankündigte, den Ausnahmezustand erklärte und alle diesen Waffenstillstand ablehnenden Kräfte mit Repressionsmaßnahmen bedroht. Natürlich vergaß Arafat dabei nicht, auf die Legitimität der Institution hinzuweisen und baldige freie Wahlen zu versprechen.
Die Rede kam nicht überraschend, das Verhalten der PNA hatte sie angekündigt. Denn da er den Forderungen der Bevölkerung und der Organisationen nicht nachgeben wollte, blieben für Arafat nur zwei Möglichkeiten, nämlich zurückzutreten und die PNA aufzulösen, oder zu versuchen diese in ihre alte Rolle als lokaler Polizist zurückzuversetzen. Arafats Rede ging im Grunde an den Kernfragen vorbei, da einerseits die Intifada zu diesem Zeitpunkt in einem fortgeschrittenen Zustand war und andererseits die zunehmenden israelischen Aggressionen weitere Eskalationen ankündigten. Jedoch gab er Israel dadurch die Möglichkeit die praktische Umsetzung des Gesagten zu fordern bzw. andernfalls mit härteren Angriffen zu drohen. Der Prozess bekam eine Eigendynamik: höherer israelischer Druck, weitere Verhaftungen, weitere Widerstandsaktionen, Vergeltung, Massaker, Verhaftungen, bis Arafat nichts mehr anzubieten hatte. Dann kam die große Invasion der palästinensischen Städte im April 2002, die international kaum auf Verurteilung traf, eben weil der palästinensische Widerstand von der eigenen Führung als Terror diffamiert wurde. Wenn die kämpfenden palästinensischen Organisationen schon seitens Arafat als Terrorgruppen bezeichnet werden, dann ist es kein Wunder, dass die gleichen auf der EU-Terrorliste stehen. Wenn die palästinensischen politischen Aktivisten von der palästinensischen Polizei gesucht und verhaftet werden, dann erhält Sharon eine politische Rechtfertigung, diese extralegal hinzurichten.
Die Krise der palästinensischen Widerstandsbewegung ist nach wie vor eine Krise der Führung. Trotz der fortgeschrittenen Widerstandsformen und der vorbildlichen Massenbeteiligung scheiterten seit 1917 alle politischen Führungen daran, aus den aufeinanderfolgenden Aufstände politisch zu ernten. Die Tatsache, dass sich das palästinensische Volk durch die brutalste Unterdrückung nicht beugen lässt und für immer weitere Aufstände Kräfte hervorbringt, wird dafür sorgen, dass die Palästina-Frage weltweit aktuell bleibt und dass Israels Legitimitätskrise weiter besteht. Jedoch ist es ebenfalls eine Tatsache, dass alle Revolutionen in Palästina durch die eigene bürgerlich Führung und den Druck der reaktionären arabischen Regierungen abgetrieben wurden. Dies macht einerseits die Verknüpfung der nationalen Befreiung mit der sozialen Emanzipation, andererseits die Verbindung des palästinensischen Widerstands mit einer arabischen Revolution unerlässlich. Ohne einen Prozess von Selbstkritik im Rahmen eines Nationaldialogs aller kämpfenden palästinensischen Kräfte, der einen Bruch mit der konservativen Führung herbeiführt, werden alle palästinensischen Bewegungen in ihrer chronischen Krise verbleiben und weiterhin von den Massen überholt werden.
Ali Nasser