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Sabra und Shatila

20. September 2002

Zwanzig Jahre danach

Am 4. Juni 1982 fliegt die israelische Luftwaffe schwere Angriffe gegen die libanesische Hauptstadt Beirut und gegen palästinensische Flüchtlingslager im Süden des Libanon. Mehr als 2oo Zivilisten verlieren bei diesen Bombardements ihr Leben. Am 6. Juni beginnt die Invasion Israels in den Libanon bis nach Beirut; ein Drittel des Landes wird besetzt. Erklärtes Kriegsziel der Militäroperation „Frieden für Galiläa“ ist die Vernichtung des palästinensischen Widerstandes durch die Zerschlagung der PLO einerseits, und andererseits soll mit brutalsten Angriffen den Hunderttausenden palästinensischen Flüchtlingen ein für alle Male der Gedanke auf Rückkehr nach Palästina in Bombenterror, Konzentrationslagern und Tod genommen werden. „Wir werden die Terrororganisationen zerschmettern, ihre Köpfe, ihre Füße, ihren Boden, wo immer wir sie finden,“ erklärt der israelische Außenminister Shamir, und sein Generalstabschef meint: „Ihre Hauptquartiere werden dem Erdboden gleichgemacht.“
Nach zwei Monaten der israelischen Offensive, die nach libanesischen Angaben 18 000 Tote und 30 000 Verletzte hauptsächlich unter der Zivilbevölkerung bei den Bombardierungen Beiruts forderte, kommt es zu einem Waffenstillstand. Im Zuge der Verhandlungen stimmt die PLO zu Beirut zu verlassen, um der Zivilbevölkerung weiteren Terror zu ersparen. Als Gegenleistung für den Abzug der PLO wird ihr von den amerikanischen Verhandlern die Sicherheit der palästinensischen Flüchtlinge in den Lagern zugesichert.

Am 1. September 1982 war der Abzug der PLO aus dem Libanon abgeschlossen.
Am 10. September verließen die multinationalen Streitkräfte, die die von der PLO evakuierten Teile von Beirut kontrollierten, die Stadt. Gleich am nächsten Tag erklärte der damalige israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon, dass 2000 Terroristen in den palästinensischen Flüchtlingslagern verblieben wären. Am 12. September wurde zwischen Sharon und dem Falangistenführer Bashir Gemayel vereinbart, dass die libanesischen Kräfte, d.h. die Falangisten, grünes Licht dazu bekämen, in den Flüchtlingslagern Sabra und Shatila „aufzuräumen“.(1)
Die Entscheidung, in Westbeirut einzumarschieren, wurde vom israelischen Premierminister Menachem Begin und dem Verteidigungsminister Ariel Sharon getroffen, womit das Waffenstillstandsabkommen und die Vereinbarungen mit der PLO gebrochen wurden. Am 15. September, dem Tag nach dem Attentat auf Bashir Gemayel, besetzte die israelische Armee Westbeirut und schloss die Flüchtlingslager Sabra und Shatila mit den ohne bewaffneten Schutz verbliebenen palästinensischen und libanesischen Zivilisten ein. Laut Verteidigungsmninister Sharon waren die militärischen Anweisungen,
dass die israelischen Streitkräfte nicht in die Flüchtlingslager vordringen sollten, denn die Säuberung der Lager werde von den Falangisten oder der libanesischen Armee besorgt. (2)

Umstellt von israelischen Truppen, die Sabra und Shatila hermetisch abgeschlossen haben, beginnt am Nachmittag des 15. September die Bombardierung der Lager und am 16. September teilt General Dori Ariel Sharon, der persönlich vom Dach eines sechsstöckigen Hauses am Rande von Shatila die militärischen Ereignisse genau mitverfolgen kann, mit: „Unsere Freunde dringen in die Lager vor. Wir haben ihre Aktionen koordiniert.“ Darauf Sharon: „Gratuliere! Die Operation unserer Freunde ist genehmigt.“ (3)
In den nächsten 40 Stunden versinken Sabra und Shatila in einem Meer des Grauens. Die Falangisten wüten, sie vergewaltigen und morden. Sie besorgen, unter dem israelischen Kommando, die Drecksarbeit. Scheinwerfer der israelischen Armee erhellen die Nacht, in der schutzlose Kinder, Frauen und Männer hingemetzelt werden. Am Freitagnachmittag werden Bulldozer verlangt um Massengräber auszuheben, in die möglichst viele Leichen verschwinden sollen. Häuser werden niedergewalzt, um unter den Trümmer weitere Leichen verschwinden zu lassen.
Die Zahl der Opfer des Massakers schwankt zwischen 700 (offizielle israelische Angaben) und 3 500 (Ergebnis der Untersuchungen des israelischen Journalisten Kapeliouk). Die genaue Zahl der Opfer wird sich wohl nie feststellen lassen, denn zu den 1 000 Leichen, die in den Massengäbern liegen und denen, die von den Familien auf den Friedhöfen Beiruts bestattet wurden, kommen die Namenlosen, die die Falangisten unter den Trümmern der Häuser begruben und Hunderte von Menschen, die verletzt abtransportiert wurden und zu den Verschwundenen zählen.

Zwei Augenzeugenberichte vom 18. September stehen für viele andere, die kaum die Sprache fanden, um zu erzählen, was sie sahen. Emmanuel Rosen, israelischer Journalist, in der Dokumentation „The Accused“, BBC, 17.6.2001:
„Wir betraten die Lager und sahen tote und sterbende Menschen. Keiner schrie, keiner sprach. …Es war offensichtlich, dass die Menschen nicht erschossen, sondern dass sie zu Tode gefoltert worden waren. … Ich konnte nicht anders – mir traten die Bilder des Holocaust vor Augen.“
Ralph Schoenman und Mya Shone, zwei amerikanische Journalisten vor einer internationalen Untersuchungskommission: „Wir photographierten Opfer, die mit Äxten und Messern verstümmelt worden waren. … Anderen waren die Köpfe eingeschlagen, die Augen zerstochen, die Haut abgezogen, Glieder abgetrennt, die Körper aufgeschnitten. Die Terroristen fanden sogar Zeit, palästinensisches Eigentum wie Bücher, Manuskripte und anderes kulturelles Material vom „Palestinian Research Centre“ zu plündern.“

Die Bilder des Schreckens gingen um die Welt und Israels Verantwortung für das Massaker konnte nicht weggelogen werden. Die Falangisten, Verbündete Israels durch den gemeinsamen Wunsch, sich ein für alle Male oder besser gesagt wieder einmal des „palästinensischen Problems zu entledigen“, mordeten mit dem Geld, den Waffen und vor allem unter dem militärischem Oberkommando des zionistischen Staates. Die falangistischen Einheiten führten die Befehle der Besatzungsmacht aus.

Der Druck auf Israel war so groß, dass noch im September 1982 eine Untersuchungskommission unter dem Vorsitz von Yitzhak Kahan eingesetzt wurde. Die Kahan Kommission kam zu dem Schluss, dass Verteidigungsminister Ariel Sharon für die Massaker zwar persönlich, aber nur indirekt verantwortlich war. Die direkt Verantwortlichen seien die Ausführenden gewesen.
Das war eine moralische Verurteilung mit keinerlei Rechtsverbindlichkeit. Ariel Sharon trat auf Grund des Urteils und des öffentlichen Drucks zwar als Verteidigungsminister zurück, verblieb aber in der Regierung. Die Stimmen der Opfer und Überlebenden wurden nicht gehört und der Rücktritt als Verteidigungsminister war letztendlich nicht mehr als eine Ohrfeige für alle, die Gerechtigkeit forderten. Ariel Sharons Schritt sollte die Öffentlichkeit beruhigen, das war alles. In der BBC Dokumentation „The Accused“ drückte er sein Verständnis von Gerechtigkeit aus. Er sagte zwar, er bedaure die Tragödie, aber er antwortete auf die Frage, ob er sich entschuldigen würde: „Wofür soll ich mich entschuldigen?“

Der UNO Sicherheitsrat zählte das Massaker von Sabra und Shatila zu den grausamsten Verbrechen des 20.Jahrhunderts (19.September 1982) und verurteilte es in einer Resolution der Generalversammlung am 16. Dezember 1982 als Völkermord.

23 Opfer des Massakers brachten den Völkermord Jahre später vor ein belgisches Gericht, wo seit 1993 die Möglichkeit besteht, internationales Recht in Zusammenhang mit Kriegsverbrechen zu sprechen. Dieses Gericht urteilte im Juni 2002, dass der Fall Ariel Sharon nicht weiter verfolgt werden könne, weil Ariel Sharon nicht in Belgien sei.

Heute, 20 Jahre danach, ist der Kriegsverbrecher Ariel Sharon israelischer Ministerpräsident. Ein Massengrab in Westbeirut wird als Mülldeponie und manchmal als Fussballfeld genutzt. Keine Gedenkstätte erinnert der Toten. Keine Gedenkminute wurde jemals offiziell für sie gehalten. Keine einzige Person- weder Israeli noch Libanese – ist tatsächlich zur Verantwortung gezogen worden. Man erinnere sich an die Konsequenzen des 11. September neunzehn Jahre später und man könnte schreien vor Zorn. Wie unterschiedlich viel wert sind doch die Leben, je nachdem wo sie begraben sind – unter den Trümmern von Hütten und armseligen Häusern in Flüchtlingslagern oder in den Stahlgerüsten des World Trade Center.

(1) nach: Ariel Sharon, WARRIOR: An Autobiography, Simon and Schuster, New York, 1989, S.498
(2) Kahan Commission Report, S.125
(3) Kapeliouk, Sabra et Shatila: Enquete sur un massacre, Paris, Seoul, 1982, S.37

Elisabeth Linder-Riegler

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