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„Unser gemeinsames Anliegen ist die Errichtung eines demokratischen Staates in ganz Palästina“

Interview mit Mohammad Kana´aneh, Vorsitzender von Abnaa el-Balad


20. September 2002

Im Rahmen des antiimperialistischen Sommerlagers, das zwischen 2. und 10. August 2002 in Assisi, Italien, stattfand, trafen wir Mohammad Kanaaneh, dem Vorsitzenden der palästinensischen Bewegung Abnaa el-Balad (Söhne der Heimat), die innerhalb der arabischen Bevölkerung im 1948 besetzten Teil Palästinas (Israel) aktiv ist. Der in Galiläa lebende Kanaaneh gilt als eine der Hauptfiguren des arabischen Widerstands in Israel und ist ständig der Verfolgung der israelischen Sicherheitsapparate ausgesetzt.


Kurz vor Beginn des Sommerlagers war ihm sein Reisepass von der Behörde entzogen worden um ihn an der Ausreise zu hindern. Sein Anwalt erreichte erst drei Tage vor Beginn des Treffens die Aufhebung dieser Verfügung. Die Anwesenheit Kana´anehs am Sommerlager war daher eine positive Überraschung für alle anwesenden Kräfte. Im folgenden Interview gibt Kanaaneh einen Überblick über die Geschichte der Bewegung Abnaa el-Balad, ihr politisches Programm und ihre politische Perspektive sowie über die Kampfbedingungen im 48-er Gebiet.

Können Sie uns erklären, was die Bewegung Abnaa el-Balad ist, wann ist sie gegründet und in welcher Form sie heute aktiv ist?

Abnaa el-Balad ist eine linke palästinensische Bewegung, die innerhalb der arabischen Bevölkerung in Israel aktiv ist, d.h. unter den Palästinensern, die bei der Staatsgründung Israels 1948 in ihrer Heimat geblieben sind. Unsere Bewegung vertritt eine radikale Lösung sowohl für die Palästina-Frage als auch für die Judenfrage, nämlich die Errichtung eines demokratischen säkularen Staates im ganzen historischen Palästina. Wir betrachten die Geschehnisse des Jahres 1948 als eine Ungerechtigkeit, die dem arabischen Volk in Palästina angetan wurde, und lehnen daher die Anerkennung des Zionistenstaates in Palästina ab. Gerade wegen unseres revolutionären Standpunkts ist die Bewegung ständig Verfolgungen der zionistischen Sicherheitsapparate ausgesetzt. Trotzdem sind wir in unterschiedlichen Formen und auf mehreren Ebenen aktiv. Wir unterhalten Kontakte mit den palästinensischen Organisationen, die den gleichen Standpunkt bezüglich einer Lösung der Palästina-Frage vertreten und wir kooperieren auch mit fortschrittlichen antizionistischen israelischen Kräfte, die auch für den demokratischen Staat eintreten. Wir sind in allen arabischen Städten und Dörfern in Galiläa, Negev und dem Dreieck [Dreiecksförmige Zone zwischen Tulkarem und Natania, der erst 1948 bei den Waffenstillstands-Verhandlungen von Jordanien an Israel abgegeben wurde; die Red.] präsent, sowie unter den arabischen Studenten an den israelischen Universitäten. Unser politisches Programm beinhaltet kurzgefasst das Recht aller Flüchtlinge und Vertriebenen auf Rückkehr in die Städte und Dörfer, aus denen sie vertrieben wurden; die Notwendigkeit eines demokratischen, säkularen Staates in ganz Palästina und die Errichtung einer vereinigten sozialistischen Gesellschaft im ganzen arabischen Raum.
Unsere Anfänge gehen auf das Jahr 1964 zurück, als unsere Vorläuferbewegung el-Ard [das Land; die Red.] illegalisiert wurde. Zu Beginn hatte die Bewegung lokalen Charakter und ihr Hauptkampf richtete sich gegen die konservativen und traditionellen lokalen Führungen, die mit der israelischen Behörde kollaborierten. Im Jahr 1969 dehnte sich die Bewegung auf die arabischen Studierenden an den israelischen Universitäten aus, was linke Elemente in sie einbrachte. Unser erstes politisches Kommunique war zum Tag des Bodes im März 1976, das den Titel „Von Deir Yassin1 bis Kheir Yassin2“ trug. Innerhalb der Bewegung gab es ständig einen Konflikt zwischen dem rechten und dem linken Flügel. Dieser Konflikt endete nach 1976 durch den Eintritt von linken studentischen Elementen zugunsten des linken Flügels. Seit 1976 vertritt die Bewegung die radikale Lösung der Palästina-Frage. Unsere Bewegung nimmt nicht teil an den israelischen Parlamentswahlen. Das israelische Parlament ist eine Verkörperung des zionistischen Projekts und dort werden alle rassistische antiarabische Gesetze verabschiedet. Jede Partei, die bei den Parlamentswahlen kandidieren möchte, muss Israel als der Staat des jüdischen Volks anerkennen und dem Staat den Treueid schwören, was wir nicht akzeptieren würden.

Steht die panarabische Idee oder die „vereinigte sozialistische Gesellschaft im ganzen arabischen Raum“ nicht im Widerspruch zum demokratischen, binationalen Staat in Palästina? Wie sehen Sie die Situation von nichtarabischen Minderheiten, besonders in Palästina, im Rahmen eines solchen panarabischen Projekts?

Im revolutionärem Verständnis der Demokratie gibt es keine Minderheiten. Es geht hier um Menschen und ein normales Menschenleben. Wir sind für kulturelle Autonomie für alle Minderheiten im arabischen Raum und das gilt auch für die jüdische in Palästina, aber wir sind fest davon überzeugt, dass die gleichberechtigte Staatsbürgerschaft und die Demokratie das Minderheitenproblem aufheben.

Haben Sie auch Beziehungen bzw. Kontakte zu den bewaffneten Widerstandsorganisationen in den 1967 besetzten Gebieten oder im Libanon? Arbeiten sie mit den Volkswiderstandskomitees in den besetzten Gebieten zusammen?

Wir haben überall Beziehungen zum palästinensischen Volk, weil wir uns als einen Teil sowohl des palästinensischen Volks als auch der palästinensischen Widerstandsbewegung betrachten. Wir haben politische Beziehungen und koordinieren die öffentliche Arbeit mit allen Gremien, mit denen dies möglich ist und unterstützen mit großer Intensität die Intifada im Westjordanland und im Gaza-Streifen. Wir haben keine Sonderbeziehungen zu palästinensischen Organisationen im Libanon oder allgemein im Ausland, doch wir haben Beziehungen zu allen öffentlichen palästinensischen Organisationen. Wir sind Teil der palästinensischen radikalen Linken. So definieren wir uns und so werden wir auch von den anderen definiert. Jedoch sind wir eine politische öffentliche Massenbewegung, die innerhalb der palästinensischen Massen in Israel öffentlich agiert.

Wie sind die Bedingungen des Kampfes bzw. der politischen Arbeit in Israel? Haben die Bedingungen sich nach dem Beginn der Intifada verändert? Können sie z.B. Demonstrationen organisieren? Können Sie sich politisch frei ausdrücken?

Es gibt große Schwierigkeiten, denen alle politisch aktive arabische Personen in Israel ausgesetzt sind. Israel übt enormen Druck allgemein auf die arabische Bevölkerung und besonders auf die politisch Aktiven. Dieser Druck schließt fast alle Lebensbereiche ein, Arbeit, Bildung und Gesundheit usw. Politisch aktive Araber können jeder Zeit verhaftet werden. Die Behörden verbieten allen Personen mit „radikalen Ansichten“ jegliche Arbeit in einer staatlichen Institution, auch wenn sich diese in den arabischen Gemeinden befindet. Trotz alledem beteiligt sich die arabische Bevölkerung an alle Solidaritätsaktivitäten mit der Intifada, aber auch an Protestaktionen, die das Leben und die Forderungen der arabischen Massen in Israel betreffen, wie z.B. gegen die Landkonfiszierungen und Häuserzerstörungen, die von der israelischen Behörde systematisch gegen die arabische Bevölkerung betrieben wird. Zu Beginn der Intifada im Oktober 2000 sind 13 Palästinenser bei den Solidaritätsdemos getötet worden, die in den arabischen Gemeinden in Israel ausbrachen. Dies neben Hunderten Verletzten und Verhafteten. Wir in Abnaa el-Balad drücken unsere Meinung ständig aus und lassen wir uns nicht durch die israelischen Gesetze und Maßnahmen abschrecken. Unsere Bewegung erhält ihre Legitimität nicht von den israelischen Gesetzen. Wir erkennen diese Gesetze nicht an, aber versuchen auch nicht sie zu brechen. Auf diese Weise halten wir gegenüber der Behörde eine Art Balance aufrecht, in der wir legal arbeiten können. Ich z.B. wurde von der israelischen Behörde mehrmals verhaftet und verhört und dies fast nach jeder öffentlichen Veranstaltung oder Kundgebung. Ich machte meine ersten Hafterfahrungen im frühen Alter von 15 Jahren. Ich wurde auch mehrmals auf brutale Art gefoltert, was kein Sonderfall ist. Einige Genossen aus den besetzten Gebieten sind sogar unter Folter gestorben. Seit Mai 2000 darf ich nicht ins Westjordanland bzw. in den Gaza-Streifen einreisen und seit 18 Monate darf ich nicht nach Jordanien und Ägypten reisen, obwohl diese beiden Staaten diplomatische Beziehungen mit Israel unterhalten. Mein Reisepass war mir für einen Monat entzogen worden und wurde erst letzte Woche zurückerstattet. Das ist aber unser Schicksal und wir werden den Kampf weiterführen, weil wir an die Gerechtigkeit unserer Sache und an die Notwendigkeit des Kampfes gegen diese Ungerechtigkeit glauben.

Können Sie uns genauer schildern, wie sich die Lage für euch nach dem Beginn der Intifada verschlimmert hat? Wie hat sich das politische Bewusstsein der arabischen Massen in Bezug auf die zunehmende Repression verändert?

Der Beginn der Intifada im Jahr 2000 bewies der ganzen Welt, dass die arabische Massen in Israel nicht assimiliert bzw. israelisiert werden konnten und nicht Teil des israelischen Staates darstellen. Das war der erste Aufstand, der alle Teile der palästinensischen Gesellschaft vom Mittelmeer bis zum Jordan einschloß. Die arabische Gesellschaft in Israel ist in drei historische Generationen aufzuteilen: Die Generation der Nakba, die 1948 dabei versagte, die zionistische Aggression aufzuhalten; die Generation von 1967, die sich angesichts der gesamtarabischen Niederlage einschrecken ließ, und schließlich die Generation der Intifada, die sich mit der Identitätsfrage auseinandersetzt und diese Auseinandersetzung im Oktober 2000 zum Ausdruck brachte. Über die arabische Gesellschaft in Israel und die Entwicklungen ihrer Selbsterkennung sind viele Studien erschienen, die über den Rahmen dieser Interviews hinaus gehen. Aber kurzgefasst kann man sagen, dass alle israelischen Maßnahmen und Versuche, die arabische Bevölkerung zu israelisieren, gescheitert sind. Dies hat verschiedene Gründe, aber der Hauptgrund ist, dass sich Israel exklusiv als der Staat aller Juden der Welt definiert und keine andere Nationalität in Israel mit gleichen Rechten ausstatten kann. Der zweite Grund ist, dass die palästinensische Bevölkerung in Israel diese Besatzungsrealität nicht akzeptieren kann. Die Identitätsfrage ist immer aktuell innerhalb der arabischen Jugend, die sich nicht gleichzeitig als israelisch und palästinensisch definiert. So ist man entweder Israeli oder Palästinenser. Natürlich tragen die rassistischen israelischen Maßnahmen gegen die arabische Bevölkerung, wie die Landeskonfiszierung, Häuserzerstörungen und Diskriminierungen bei Arbeit, Wohnen, Bildung und Gesundheit usw. zur verstärkten Identifizierung und Zugehörigkeit der Araber zum palästinensischen Volk bei. Ein einfaches Beispiel: Es gibt 300 000 arabischer Staatsbürger in Israel, die Flüchtlinge im eigenen Land sind. 60 000 arabische Staatsbürger leben in 80 der sogenannten „nichtanerkannten Dörfer“, wo ihnen die essentiellen Lebensnotwendigkeiten wie Strom, Wasser, Telefon usw. verweigert werden. Das ist die sogenannte Demokratieoase des Nahen Ostens!

Wie war die Reaktion der arabischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und in Israel auf die Illegalisierung von palästinensischen Organisationen und die Verhaftungen und Auslieferungen palästinensischer Widerstandskämpfer durch Arafats Behörde? Was war die Stellungnahme Ihrer Bewegung?

Die Hauptreaktion war die öffentliche Verurteilung der Auslieferung von Widerstandskämpfern bzw. ihre Inhaftierung im Gefängnis von Jericho unter amerikanisch-englischer Überwachung. Allgemein ist die palästinensische Öffentlichkeit über diese Auslieferung verärgert. Wir in Abnaa el-Balad betrachten sie als Verrat. Wir organisierten mehrere Demonstrationen gegen die Verhaftungen. Auch als der Generalsekretär der PFLP, Abu Ali Mustafa, ermordet wurde, dauerten die Demonstrationen in Galiläa eine ganze Woche lang an.

Wie ist die Zusammenarbeit mit nichtzionistischen jüdischen Organisationen? Gibt es auch nichtarabische Mitglieder in Abnaa el-Balad? Geht die Arbeit in Richtung des Aufbaus einer gemeinsamen antizionistischen Bewegung?

Natürlich gibt es jüdische Mitglieder in Abnaa el-Balad. Sie sind Antizionisten und definieren sich als Palästinenser. Es gibt auch enge Beziehungen zu antizionistischen Organisationen in Jerusalem, Tel Aviv und Haifa, die ebenfalls gegen die politischen Verhaftungen, Landkonfiszierungen, Häuserzerstörungen und alle Diskriminierungsformen sowie gegen die israelische Besatzung kämpfen. Unser gemeinsames Anliegen ist die Errichtung des demokratischen Staates in ganz Palästina. Heute wird eine Initiative von Abna el-Balad diskutiert, die vorschlägt mit diesen Kräften eine arabisch-jüdische antizionistische Front zu bilden, um diesen Ziel zu erreichen.

Wie würde Ihrer Meinung nach die Reaktion der palästinensischen Organisationen in den besetzten Gebieten auf die Bildung einer solchen Bewegung aussehen?

Wir verhandeln heute mit mehreren palästinensischen Kräften und Personen in den besetzten Gebieten, um diesem Projekt die nötige politische Unterstützung zu verschaffen. Wir erinnern daran, dass die PLO bei ihrer Gründung die Errichtung eines demokratischen Staates in ganz Palästina forderte, aber dieses Ziel später aufgab. Es gibt auch palästinensische Kräfte, die heute gegen so eine Front stehen. Es gibt sogar linke Persönlichkeiten, die zwar für den demokratischen Staat sind, jedoch die Zusammenarbeit mit israelischen Kräften ablehnen. Mit diesen sind wir in einem ständigen Dialog und wir werden den Versuch nicht aufgeben, sie zu überzeugen. Wir wissen, dass dies keine einfache Aufgabe ist, wir betrachten sie aber als eine Notwendigkeit und arbeiten daran, sowohl in der palästinensischen als auch in der israelischen Gesellschaft eine möglichst große Unterstützung für dieses Projekt zu erreichen.
Das Programm dieser Front hat drei Hauptpunkte: das Rückkehrrecht aller Flüchtlinge; die Bekämpfung des israelischen Apartheidstaates und die Errichtung des demokratischen säkularen Staates in ganz Palästina.

Was waren Ihre Erwartungen an das Antiimperialistische Sommerlager? Entspricht der Aufruf zur Bildung einer internationalen antiimperialistischen Front Ihrem Aufruf?

Als Opfer einer Ungerechtigkeit sind wir sensibel gegenüber jeder Ungerechtigkeit auf der Welt. Wir finden, dass sich alle Kräfte gegen den Imperialismus zusammenschließen müssen, genau wie die imperialistischen Mächte heute alliiert gegen die Völker der Welt agieren. Die zionistische Bewegung ist nicht nur ein Teil des Weltimperialismus, sondern einer seiner Vorposten. Daher ist unser Kampf ebenfalls ein Vorposten der Weltbefreiungsbewegung gegen den Imperialismus. Für mich persönlich gilt der Slogan Che Guevaras: „Wo Ungerechtigkeit ist, dort ist meine Heimat“, wo Unterrückung ist, dort ist unser Kampf. Wir kamen hierher, um unsere Sache vor den Teilnehmern zu vertreten und um eine breitere Solidaritätsfront mit dem palästinensischen Volk zu schaffen. Wir sind für eine internationale Antiglobalisierungs- und Antiimperialismusfront. So eine Front wäre auch die beste Stütze für die arabisch-jüdische antizionistische Front, an deren Aufbau wir arbeiten. Umgekehrt wird eine antizionistische Front in Palästina ein Teil der antiimperialistischen Front sein. Der Aufruf des Sommerlagers ist im Inhalt mit unserem Aufruf identisch und wir freuen uns auf die künftige Zusammenarbeit.

Wir danken für das Gespräch.

Das Interview führte Ali Nasser.

1 Deir Yassin ist Ein arabisches Dorf westlich von Jerusalem, in dem die zionistischen Militäreinheiten im April 1948 ein Massaker an der Zivilbevölkerung verübten (288 Tote). Das Massaker verbreitete Angst und Schrecken unter der unbewaffneten Bevölkerung in Palästina und war einer der Hauptfaktoren der Massenflucht, die im Jahr 1948 stattfand.
2 Kheir Yassin war einer von sechs palästinensischen Jugendlichen, die am 30. März 1976 beim Generalstreik der arabischen Bevölkerung in Israel gegen die Landkonfiszierungen getötet wurden. Dem 30. März wird seit damals als Tag des Bodens (Yaum el-Ard) gedacht.

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