Erklärung des Lateinamerika-Forum der Antiimperialistischen Koordination
Anlässlich des 510 Jahrestages der spanischen Kolonisierung Lateinamerikas 1492 bereiteten verschiedene lateinamerikanische Gruppen und das Lateinamerika Forum der AIK eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Titel „Kolonisierung-Globalisierung. Befreiung“ vor. Nach gemeinsamer Konzeption und organisatorischer Vorbereitung wurde dem Lateinamerika Forum nur eine Woche vor der Veranstaltung auf Beschluss eines Teils der anwesenden Gruppen mitgeteilt, dass die namentliche Teilnahme einer Organisation mit offen antiimperialistischem Profil nicht erwünscht sei.
Das Lateinamerika Forum lädt daher gemeinsam mit dem Kolumbianischen Kulturhaus anlässlich des 12. Oktober zu einer Veranstaltung über die Kontinuität der Unterwerfung Lateinamerikas unter die westlich imperiale Dominanz am Beispiel Kolumbiens ein.
Darüber hinaus erfordern diese Ereignisse aber eine kritische Reflexion über die politischen Entwicklungen unter den lateinamerikanischen Gruppen im Ausland/Exil, angesichts offensichtlicher Schwierigkeiten im gemeinsamen Wiederaufbau einer politischen und antiimperialistischen Solidaritätsbewegung mit jenen Lateinamerikanern, die schon über Jahre im österreichischen Exil leben und durch die Situation der politischer Ruhe und des linksliberalen Pragmatismus des Landes geprägt sind.
Im folgenden seien Kurzthesen dargestellt, wo unserer Ansicht nach die Problematik der lateinamerikanischen Gruppen in Österreich für den gemeinsamen Aufbau einer antiimperialistischen Solidaritätsbewegung liegt. Diese kritische Annäherung wurde in ausführlicher Form auch als offener Brief an die lateinamerikanischen Gruppen gesendet, die an der gemeinsamen Veranstaltung zum 12. Oktober beteiligt waren:
1. Das Lateinamerika Forum der Antiimperialistischen Koordination wurde mit dem Ziel gegründet, innerhalb des interessierten Milieus in Österreich die Diskussion und Reflexion über die politischen Auseinandersetzungen auf dem Kontinent in organisierter Form anzuregen. Es gilt die karitative und folkloristische Reduktion der lateinamerikanischen Wirklichkeit zu überwinden und die Ansätze einer radikalen Neuformierung des antiimperialistischen Widerstandes in all ihren Seiten zu verstehen. (siehe Gründungserklärung des Lateinamerika Forums der Antiimperialistischen Koordination)
2. Ein notwendiger Bestandteil einer neuen antiimperialistischen Solidaritätsbewegung ist zweifellos das lateinamerikanische Exil sowie die politisierbaren Teile der sozial ausgeschlossenen Immigranten. Die Schwäche des antiimperialistischen Pols in der karitativ-humanitaristische dominierten Lateinamerika-Solidaritätsbewegung hat jedoch auch unter der politischen Intelligenz und Führung der lateinamerikanischen Gemeinschaft in Österreich zu einer deutlichen Durchdringung durch die in diesem Land weitverzweigten Netze der Sozialdemokratie, insbesondere in Form von NGOs und Vereinen mit „multikulturellem“ Profil geführt. Die „zivilgesellschaftliche“ Option erscheint Teilen des lateinamerikanischen Exil die einzig realistische Alternative zur scheinbaren Gefahr des Rechtskonservativismus, eine scheinbare Alternative zu einer scheinbaren Gefahr in einem realen System neoliberaler Alternanz zwischen imperialistischem Links- und Rechtsliberalismus. Die perfide Form der Befriedung, Entpolitisierung und Integration in das Establishment des Linksliberalismus wird hinter dem Mantel des neoliberalen Multikulturalismus, der fabianischen Toleranz und der Aussicht auf Feiräume und Mittel von einem großen Teil der lateinamerikanischen Gruppen übersehen.
3. Teile des lateinamerikanischen Exils versuchen über das Mittel der autochtonen Folklore als Ausdruck des Widerstandes gegen die kulturelle Seite imperialistischer Durchdringung in Österreich und Europa eine Botschaft zu vermitteln, ohne offen das Establishment durch politische Positionierung herauszufordern. Diese Botschaft kulturellen Widerstandes stellt in bestimmten sozialen Wirklichkeiten Lateinamerikas – insbesondere unter der indianischen Landbevölkerung der Andenländer, hier wiederum am deutlichsten in Ekuador und Bolivien – als Mittel des Aufbaus einer eigenständigen politisch-kulturellen Identität im Kampf für nationale und soziale Befreiung sowie Selbstbestimmung einen legitimen und dynamischen Teil des antiimperialistischen Widerstandes dar. In Europa fällt die autochtone Kultur jedoch auf einen anderen Boden politischer Rezeption, nämlich auf den der folkloristischen Reduktion und Entpolitisierung sowie der multikulturalistischen Integration in den liberal-„toleranten“ Status Quo.
4. Die sozialdemokratisch-zivilgesellschaftliche Dominanz hat unter vielen ehemaligen revolutionären Linken Lateinamerikas deren revolutionär-antiimperialistische Überzeugung unter dem Druck des europäischen linksliberalen Pragmatismus auf eine bloß vergangene Identität reduziert, die in keiner Weise eine realpolitische Konsequenz für das politische Handeln in der Umgebung des Exils hat. Im Gegenteil wird diese politische Herkunft hinter Folklorismus und Multikulturalismus mit Hinblick auf ein Bündnis und die Akzeptanz durch die linke Mitte des Establishment versteckt. Damit und unter dem Eindruck der Niederlage der eigenen Bewegung wird letztlich Schritt für Schritt auch die radikale Perspektive für Lateinamerika aufgegeben oder zur bloßer Vergangenheit, während sich auch unter Lateinamerikanern die vorherrschende Oberflächlichkeit und falsche Verallgemeinerung des „Indigenismus“ und der „neuen sozialen Bewegungen“ jenseits politischer Projekte und politischer Differenziertheit, wie sie den Mainstream zivilgesellschaftlicher „Erneuerung“ kennzeichnet, verbreitet. Ausdruck davon ist, dass entscheidende Auseinandersetzungen sowohl in Lateinamerika als auch in Europa im lateinamerikanischen Exil kaum mehr Resonanz finden. Paradigmatisch sei die Schwarze Liste terroristischer Organisationen der EU erwähnt, da diese nicht nur ein politischer und zukünftig auch möglicher militärischer Angriff auf die lateinamerikanische revolutionären Opposition ist, insbesondere deren derzeitiges Epizentrum in Kolumbien und der FARC, sondern auch auf die demokratischen Rechte politischer Artikulation in Europa von politischen Aktivisten im allgemeinen und Exilanten im besonderen in Frage stellt.
5. Erst der Wideraufbau einer antiimperialistischen Solidaritätsbewegung – in direkter Korrespondenz mit der radikalen und lebendigen antiimperialistischen Opposition in Lateinamerika und dem neuen Exil -, die eine kritische Masse an politisch-organisatorischem Einfluss akkumuliert hat, wird als Instrument dienen können, den sozialdemokratisch-zivilistischen Kräften der Integration und Befriedung eine Struktur entgegenzusetzen, die den neue lateinamerikanischen Vertriebenen ein Milieu und einen Bündnispartner jenseits der paralysierenden Anpassung und Integration ermöglicht. Diese langfristige Arbeit der Politisierung innerhalb aller Interessierten in Österreich und der Vorbereitung der „äußeren Front“ für die neuen Exilanten des antiimperialistischen Widerstandes in Lateinamerika ist die Raison d…‘etre des Lateinamerika Forums der Antiimperialistischen Koordination.
Lateinamerika Forum der Antiimperialistischen Koordination, Wien, 10. Oktober 2002