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Der Friede – der Glaube eines Ungläubigen

11. Januar 2003

von Marc Priestman

Ein atypischer Lebenslauf. Michael Warschawski ist der Sohn des ehemaligen Oberrabbiners von Straßburg. Er hat mit dem Talmud gebrochen und ist darauf zu einem glühendsten Verteidiger einer politischen Annäherung der Palästinenser und Israelis geworden.

Wenn man seine ruhige Stimme hört und sein Lächeln wahrnimmt, das hinter seinem grauen französischen Schnurrbart zu sehen ist, dann fällt es einem schwer, sich vorzustellen, daß das der Gottseibeiuns der israelischen radikalen Rechten sein soll. Als Michael Warschawski 1965 nach Jerusalem kam, hatte er nicht die Absicht, sich politisch zu engagieren, noch auch zu einem der aktivsten Vertreter des israelisch-palästinensischen Dialogs zu werden. Sondern er kam mit der Absicht, in einer Yeshive (talmudischen Hochschule) zu studieren und sich den heiligen Texten zu widmen.

Als Sohn des ehemaligen Oberrabiners Meïr Warschawski, der einer der herausragendsten Vertreter des jüdischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung war, verbrachte Michael seine Jugend in Straßburg. „Meine frühe Jugend spielte sich auf dem Weg von meiner Familie zum Gemeindezentrum., von der Schule zu den Jugendorganisationen ab und fand ganz in der abgeschotteten Welt statt, die durch und durch von der orthodoxen jüdischen Erziehung geprägt war. Alles stand unter der bürgerlichen und nicht sehr toleranten Kontrolle der jüdischen Gemeinde. Offen gesagt, ich habe damals nie einen Goj kennengelernt, mich nie mit einem angefreundet. Das hatte ein bißchen was von einem Ghetto an sich.“ erzählt Michael, alias Mikado, wie er von den aufgeklärten Juden in Frankreich genannt wird.

Im Alter von 15 Jahren wird er von seinen Eltern nach Israel geschickt, dort soll er seine religiösen Studien fortsetzen. 1967 trat er dem Kibbutz Sha Alvin in der Region Latrun bei, als gerade der Sechs-Tage-Krieg ausbricht. „Ich habe selbst die Flucht der Palästinenser aus vier ihrer Dörfer gesehen und wie diese Dörfer daraufhin dem Boden gleichgemacht wurden. Aber damals habe ich kaum verstanden, worum es eigentlich ging“ sagt er.

Als nach dem Krieg Besucher aus der französischen Diaspora ins Land kamen, zeigte ihnen Mikado natürlich die Gebiete, die der Tsahal (das Heer, AuO) erobert hatte. Aber ein Besuch auf dem Markt von Hebron öffnete ihm die Augen über den realen Alltag unter der Besatzung. Ein arabischer Händler wendet sich an ihn und möchte ihm irgendwas verkaufen.

„Ich hatte dabei das unerträgliche Gefühl, daß er zu uns wie zu seinen Herren sprach und daß er dazu gezwungen war, unsere Macht, unsere Arroganz zu ertragen.“

Das ist wie ein Elektroschock. „Ich soll Teil der Besetzer sein? Soll eine Position einnehmen, die ich über die anderen stellt? Das widerspricht meiner ganzen Erziehung!“ erklärt uns Michael. „Diese Erfahrung war für mich wie ein Angriff auf meine persönliche Integrität. Meine ganze Kindheit war, über die Vermittlung meiner Eltern, durch und durch von der Erinnerung an die deutsche Besatzung geprägt. Das war für mich die Quintessenz des absolut Bösen, Repression, Rassismus, Erniedrigung und ständige Gefährdung.“

Innerhalb weniger Monate hat Michael Warschawski eine Wendung um 180 Grad vollzogen. Er läßt seine Religion beiseite und tritt der radikalen linken Gruppe Matzpen („Der Kompaß“) bei. Das ist die erste israelische Organisation, die sich in einer Broschüre mit dem Titel Nim-As („Wir haben die Schnauze voll!“) offen gegen die Besatzung stellt. „Für den jungen Religionsstudenten in Nylonhemd und Tergal-Hosen, der ich damals war, war das Schreckliche nicht so sehr ihre Anschauungen, sondern ihr Aussehen: Sie hatten lange Haare, waren schmutzig und trugen Blue-Jeans.“

Nach seinem Philosophie- und Politik-Studium hat er sich bald ganz der politischen Aktivität gewidmet. In den Siebzigerjahren organisiert er Treffen zwischen israelischen und palästinensischen Akademikern. Vom Solidaritätskomitee der Universität Bir Zeit bis zum Komitee gegen den Libanonkrieg 1982 ist er einer der treibenden Kräfte des Alternativen Informationszentrums, einer israelisch-palästinensischen Organisation, die die Zeitschrift News from Within herausgibt (die bis zum heutigen Tag besteht, AuO), mit der die israelische und internationale Öffentlichkeit auf die Situation in den besetzten Gebieten aufmerksam gemacht werden soll.

Als Michael Warschawski 1968 die erste israelisch-palästinensische Demonstration zur Erinnerung an das Massaker von Sabra und Shatila im Libanon mitorganisiert, wurde er vom Shin Beit (einem israelischen Geheimdienst) verhaftet. Man beschuldigt ihn …, er habe mit dem Feind kollaboriert und wirft ihm in diesem Zusammenhang die Herausgabe einer Broschüre vor, in der den Palästinensern erklärt wird, wie sie bei Folterungen Widerstand leisten können und wie sie die gefährlichsten Fallstricke bei Verhören vermeiden können. Der darauf folgende aufsehenerregende Prozeß sollte vier Jahre lang dauern, die Anschuldigungen gingen so weit, daß man ihn als das „Hirn“ der Intifada herauszustellen versuchte. Seine Verurteilung zu 30 Monaten Haft, davon zehn mit Bewährung – gab ihm im Grunde recht, denn inzwischen waren die palästinensische Selbstbestimmung und die Anerkennung der PLO dank des gewaltigen Aufstiegs der Bewegung Shalom Akshav (Peace Now) kein Tabu mehr.

Anderen teilt sich seine Militanz leicht mit. Seine vier Schwestern und einer seiner zwei Brüder sind ebenfalls in der Friedensbewegung engagiert. Seine Eltern, die heute wie er in Jerusalem leben, gehören beide der religiösen Friedensbewegung Netivot Shalom an. Seine Mutter Mireille ist einen der Inspiratorinnen von Bat Shalom („Töchter des Friedens, AuO), eine Teilorganisaton des israelisch.-palästinensische Friedensnetzwerkes Jerusalem Link.

Sein Vater Meïr ist im Shomre Mishpat („Rabbiner für Menschenrechte“) aktiv..

Woher bezieht Mikado mit 49 Jahren seinen Glauben, seinen Kampfgeist, seine erstaunliche Kraft, mit der er sich für den Frieden einsetzt? Über diesen Mann, der sich selbst als „Ungläubiger“ bezeichnet, sagt sein Vater, der Rabbiner: „Er ist von uns allen der Mystischste!“

Marc Priestman: La paix, foi d´un incroyant, Dernià¨res Nouvelles d´Alsace, 6. 5. 1998
Übersetzung: Aug und Ohr

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