Reisebericht der Internationalen Solidaritätsdelegation in den Irak
Auf der Arrival-Anzeige des Saddam-Airports in Bagdad erscheint nur die Ankunft eines Flugzeuges, das aus Amman, Jordanien kommt. Nur einmal wöchentlich kann man von Jordanien nach Bagdad fliegen. Dieses Mal sitzen sogar zwei Delegationen, die sich gegen den kommenden Krieg aussprechen, in dem Flieger der Iraqi Airways: die US Churches Delegation und die Solidaritätsdelegation des Antiimperialistischen Lagers. Touristen sieht man keine, nur Iraker mit großen Taschen, voll mit Produkten, die im Irak auf der Sanktionsliste stehen. Mehr als zehn Jahre leidet das irakische Volk schon an dem Embargo, das die UN-Sanktionsbehörde mit dem Programm „Brot für Öl“ kontrolliert. 250 Seiten lang ist die Liste aller Produkte, die mit Hinweis auf möglichen „dual use“ nicht in den Irak eingeführt werden dürfen. Gemeint sind hier Waren und Rohstoffe, die auch in der Kriegsindustrie eingesetzt werden könnten. Besonders betroffen von diesen Bestimmungen ist die medizinische Versorgung.
Die ersten Eindrücke – Das staatliche Kinderspital Ib´bality in Saddam City
Saddam City, das ärmste Stadtviertel von Bagdad, hat 1,5 Millionen Einwohner, die meisten schiitischen Glaubens. Es wurde im ersten Golfkrieg stark bombardiert und nur notdürftigst wieder aufgebaut. Überall liegt Müll, dessen Entsorgung funktioniert schon lange nicht mehr. Die Kinder spielen auf der Straße – im Müll. Viele gehen barfuß, obwohl es nur sieben Grad hat. Die Häuser sehen verwahrlost aus, die Stromkabel hängen ohne Sicherung von den Mauern. Als Transportmittel dient ein alter Karren mit einem davor gespannten Esel. Die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. „Unser Leben unser Blut für Saddam“, schreien die Kinder, als sie uns sehen.
Im staatlichen Kinderspital berichtet uns der medizinische Leiter von den Auswirkungen des Embargos. Laut seinen Aussagen hat das Embargo Infektionskrankheiten wie Meningitis, Unterernährung und Fehlernährung aus Mangel an Nahrungsmitteln bzw. einseitiger Versorgung, gebracht. Ein kleines Mädchen – es ist vielleicht drei Jahre alt – liegt bewegungslos in seinem Bettchen. Seine Mutter schaut mit apathischen Augen auf die Besucher. Das Kind leidet an Meningitis. Aufgrund des Mangels an Medikamenten und Diagnoseapparaten kann die Krankheit nicht behandelt werden. Das Mädchen ist inzwischen vollkommen spastisch gelähmt, die Krankheit hat auch schon die Lunge angegriffen. Der Arzt hebt seine dünnen, fast muskellosen Beinchen hoch. Die Genesungschancen sind gleich null. In Europa werden fast alle Meningitisfälle geheilt.
Auch die Anzahl der Frühgeburten sei wegen der Fehlernährung und den psychischen Problemen der Frauen angestiegen. Oft können Krankheiten nicht richtig behandelt werden, weil es an Medikamenten fehlt. Schuld daran ist das Sanktionskomitee, das eine regelmäßige Versorgung mit Medikamenten und anderen wichtigen medizinischen Geräten wie Kühlmaschinen für Blutkonserven, Brutkästen oder auch nur einfachen Infusionsnadeln nicht erlaubt.
Ein Abendspaziergang durch einen eleganten Stadtteil Bagdads zeigt, dass es hier nicht nur Armut und Elend gibt. Westliche Designermode, schnelle Autos, sogar Weihnachtsmänner sind vorhanden. Embargo und Sanktionen haben, wie in allen Mangelgesellschaften, eine korrupte Schicht Neureicher wachsen lassen.
Basra – Zerstörung und Verseuchung
Basra im Süden des Irak war 1991 der wichtigste Kriegschauplatz. Die Stadt wurde dabei vollkommen zerstört und nur notdürftig wieder aufgebaut. Einst galt sie mit ihren pittoresken Häusern und Holzbalkonen als Venedig des Irak. Nicht nur militärische, auch zivile Einrichtungen waren und sind Ziele der amerikanischen Bombenangriffe: eine Schule, eine Zementfabrik, Wasseraufbereitungsanlagen, Wohnhäuser.
Dr. Jenan, die Leiterin des Ibn Gezwan-Kinderspitals von Basra, empfängt die Solidaritätsdelegation. Auch dieses Krankenhaus ist, wie jenes in Bagdad, staatlich. Die Behandlung ist kostenlos. Auch wenn bislang jede unabhängige wissenschaftliche Untersuchung von der UN unterbunden wurde, so sei der Zusammenhang zwischen der angestiegenen Krebsrate und dem Einsatz von abgereichertem Uran durch die US-Armee offensichtlich, erklärt die Ärztin. Seit dem Krieg von 1991 hat sich die Krebsrate in der Stadt und ihrer Umgebung vervielfacht. Viele Tumorformen und genetische Malformationen, Babys, die ohne Augen, Kopf oder Lippen geboren werden, gab es vor dem Krieg kaum oder gar nicht. Früher hofften Eltern auf männlichen Nachwuchs, heutzutage ist die erste Frage nach der Geburt: „Ist es missgebildet?“ Dabei gibt es keine Aussicht auf eine Verbesserung der Situation: Die Halbwertszeit des hier verschossenen Urans ist derart hoch, dass die Strahlenschäden erst jetzt richtig zum Tragen kommen. Ein weiteres Problem ist, dass kein Geld zur Entfernung kontaminierter Anlagen, geschweige denn zur Säuberung der gesamten Umgebung vorhanden ist. Es ist nicht notwendig, direkt mit Urangeschossen in Kontakt zu treten. Oft reicht es, wenn Verwandte in der Nähe des Kampfgebietes oder bombardierter Anlagen leben.
Die ökonomischen Sanktionen verschlimmern die Lage zusätzlich, weil keine echte Krebsbehandlung mit primären und sekundären Medikamenten möglich ist. Zusätzlich wurden seit Jahren keine neuen Krankenhäuser gebaut oder erweitert, obwohl die Anzahl der Patienten gestiegen ist. Daher sind die meisten Krankenhäuser überbelegt, Patienten müssen auch am Boden schlafen, es fehlt an allem.
Hilfe von Außen kann nicht erwartet werden. Im Gegenteil, die UNO kanzelt die Beobachtungen der irakischen Mediziner als Lügenpropaganda ab. Der deutsche Arzt und Wissenschafter Dr. Günther versuchte vor Jahren ein uranverseuchtes Projektil zu Untersuchungszwecken nach Deutschland zu transportieren. Er wurde aufgrund des Verstoßes gegen das Strahlengesetz festgenommen. „Die Sanktionen sind Massenvernichtungswaffen im Einsatz gegen das irakische Volk“, sagt Dr. Jenan zum Abschluss mit einer Mischung aus Wut und Resignation in der Stimme.
Eine Busfahrt Richtung Schatt el Arab zeigt die uralte Kulturlandschaft mit Palmen- und Gemüsezucht, aber auch die schreckliche Armut der Bevölkerung. Die Wasserversorgung scheint für das Dorf Abu–Al Chasib katastrophal zu sein: Eine uralte Wasserpumpe befördert das Flusswasser nur drei Stunden am Tag in das Dorf, gereinigtes Wasser gibt es nicht, Chlor fehlt. Es steht auf der Sanktionsliste. Man kann sich vorstellen, dass sich hier Infektionskrankheiten rasch verbreiten können. Vor allem weil dieser Teil des Landes im Winter von Sümpfen umgeben ist, die auch Herde von Seuchen sein können.
Der lokale Würdenträger Scheich Abd Adel Ali Beni-Tenin erklärt, dass die Amerikaner hier kein zweites Afghanistan erleben würden. Die Iraker würden sich zu verteidigen wissen.
Najaf – Heiligtum des schiitischen Glaubens
Eine Stunde südlich von Bagdad liegt die heilige Stadt Najaf mit dem Grab des Imams Ali-Ibn-Abi Talib. Die prächtige Moschee wurde in den letzten Jahren auf Staatskosten restauriert. Dr. Said Haidar, Imam der Moschee, verschweigt aber, dass das Gotteshaus 1991 nach dem Schiitenaufstand von den republikanischen Garden verwüstet wurde. Stolz betont er, dass „alle Muslime“ bereit zur Verteidigung Iraks seien und dass es keinen Unterschied zwischen Sunniten und Schiiten gebe. Auffällig oft fällt ihm ein Mann ins Wort, der als Verantwortlicher des Religionsministeriums vorgestellt wird. Offenbar muss die Unterschiedslosigkeit aller Muslime doch von oben dekretiert werden.
Der Rückweg nach Bagdad führt an einer im Krieg 1991 zerstörten Brücke vorbei. Am Flussufer macht ein Iraker darauf aufmerksam, dass der Wasserstand bei fast allen Flüssen gefallen ist. Schuld daran ist der große Staudamm, den die Türkei am Euphrat erbauen ließ. Katastrophale Auswirkungen hat dieser Staudamm auf die irakische Landwirtschaft, die von der Bewässerung aus Flüssen abhängig ist. Eine Folge des Zusammenbruchs der Bewässerungswirtschaft ist auch die zunehmende Versalzung der Böden, die eine Bebauung vieler Landwirtschaftsflächen unmöglich macht.
Der Irak wird sein Öl verteidigen – Iraks Minister sprechen
Naji Sabri, irakischer Außenminister, weist auf das Hauptinteresse des bevorstehenden amerikanischen Feldzuges hin: Die USA verlangen nach der lückenlosen Kontrolle der irakischen Ölvorkommen und damit nach unumschränkter Kontrolle über die Nahostregion und schließlich aller Teile der Welt. Wenn der Irak sein Öl und seine Souveränität verteidige, dann sei damit auch den Interessen aller Völker, die sich nicht mit einer monopolaren Welt abfinden wollen, gedient. Er unterstreicht, dass der Irak vollständig mit den UN-Inspektoren kooperieren würde. Die Verantwortung für den kommenden Krieg liege bei jenen, die ihn um jeden Preis herbeiführen wollen. Diplomatisch weicht er Fragen nach den Beziehungen des Irak zu anderen Staaten der „Achse des Bösen“ aus, quittiert die Frage nach dem Iran mit einem lapidaren „normal relations“. Die Opposition sei willkommen, oder genauer, ihre patriotischen Teile, die sich nicht zum Handlanger der USA gemacht hätten. Um die Zusammenarbeit mit ihnen zu gewährleisten, sei eine Überarbeitung der Verfassung und ein neues Parteiengesetz in Angriff genommen worden. Über die Verteidigungspläne will er nichts Genaues sagen. Die Bevölkerung, Frauen wie Männer, sei bewaffnet, die Stämme auf dem Land stünden ebenfalls unter Waffen. Der Irak sei in der Lage, sich selbst zu verteidigen.
Tarek Aziz, der charismatische Vizepremier, wird von einem Blitzlichtgewitter empfangen. Er prangert den imperialistischen und kolonialistischen Charakter der US-Aggression an. Der ganzen Welt erwachse Gefahr aus den Plänen der USA, denn jedes Land brauche Erdöl. Er begrüßt die wachsende Antikriegsbewegung in den europäischen Ländern und betont, dass auch in den USA selbst der Kriegszug nur den Interessen der reichen Kapitalisten nützen würde. Die Teilnehmer der Solidaritätsdelegation bittet er, mit ihrem Widerstand gegen den US-Krieg fortzufahren und unterstreicht dabei die große Bedeutung der Türkei. Von ihrem Boden aus soll ein beträchtlicher Teil des Angriffes gestartet werden.
Abdul Kareem M. H. Almulla ist Minister für Jugend und Sport. Das irakische Schulwesen sei das fortschrittlichste des Nahen Ostens gewesen. In den 50er Jahren habe die Analphabetenrate über 50% betragen. Bis 1981 war es dem Regime gelungen, sie auf unter 10% zu senken. Der Irak bekam für diese Leistung eine UNESCO-Medaille verliehen. „Wahrscheinlich haben die USA damals beschlossen, das irakische Volk zu vernichten, weil es zu gebildet war“, lächelt der Minister sarkastisch. Heute, als eine Folge des Embargos und der Kriege, liege die Analphabetenrate wieder bei über 50%. Der Schulbesuch, ebenso wie die Materialien und Bücher, wird vom Staat gratis zur Verfügung gestellt.
„Stoppt Krieg und Embargo“ – Demonstration vor dem UN-Gebäude
Am 2. Januar findet eine gemeinsame Protestkundgebung der Antiimperialistischen und der Spanischen Staaten-Delegation vor dem UN-Hauptquartier in Bagdad statt. Rund zweihundert Teilnehmer drücken ihren Widerstand gegen Krieg und Embargo in englischen, spanischen, italienischen, deutschen, japanischen, französischen und türkischen Parolen aus. In einer gemeinsamen Erklärung werden die Vereinten Nationen aufgefordert, in keiner Weise legale und politische Unterstützung für den von Großbritannien und den USA vorbereiteten Krieg zu leisten. Außerdem werden die Vereinten Nationen aufgerufen, die Sanktionen umgehend zu beenden, die einen unerklärten Vernichtungskrieg gegen das irakische Volk darstellen.
Jordanien – Ruhe vor dem Sturm
Der Rückweg von Bagdad in den Westen führt über Amman, die jordanische Hauptstadt, Heimstätte des größten palästinensischen Flüchtlingslagers Baqaa. Dort leben 150 000 Palästinenser, die schon seit mehreren Generationen auf ihre Heimkehr warten. Politische Aktivität ist den Palästinensern seit dem „Schwarzen September“ 1970 verboten. Trotzdem gibt es politische Gruppierungen, die um die Hegemonie im Kulturclub Baqaa kämpfen. Aber über die Hauptforderung, nämlich das Recht auf Rückkehr in die Westbank und in das historische Palästina, sind sich alle einig. Politische Kräfte, die den Friedensvertrag von Oslo gutheißen, finden wenig Unterstützung im Lager. Frieden kann es nur in einem demokratischen Palästina geben, wo alle Religionsgruppen und Nationalitäten die gleichen demokratischen Rechte genießen.
Hisham Bustani, Vorsitzender der verbotenen Antinormalisierungs-Komitees, betont den antidemokratischen Charakter des jordanischen Regimes. Erst kurz vor Ankunft der Solidaritätsdelegation ist er aus dem Gefängnis entlassen worden. Einer seiner Artikel über die mentalen Manipulierungsmechanismen, die das Regime gegen die Gefangenen anwendet, hatte diesem missfallen. Die starke und langanhaltende Repression hat die jordanische Linke – so fern sie je existiert hat – aufgerieben. Die wenigen Vereine und Parteien klagen selbst über ihre fehlende Verankerung in der Bevölkerung. Ohne Anstoß von außen werde sich in Jordanien nichts ändern.
Bustani prangert den Ausverkauf der Interessen des Volkes durch die jordanische Regierung an. Auf Druck der USA hat die Regierung vor kurzem ein Gesetz zur Errichtung von „free zones“ erlassen. Dies sind Industriebezirke, in denen 20% der zu verarbeitenden Produkte aus Israel stammen müssen. Im Gegenzug gewähren die USA Vergünstigungen auf dem US-Markt. Ziel dieses Gesetzes, wie insgesamt der US-hörigen jordanischen Politik, ist es, die palästinensischen Flüchtlinge zur Niederlassung in Jordanien zu bewegen. Sie sollen den historischen Anspruch auf ihr Land aufgeben.
Der bevorstehende Irak-Krieg wird die Region tiefgehend erschüttern, fürchtet Bustani. Er wird die Grenzen des britisch-französischen „Sykes-Picot-Abkommens“ von 1916 aufheben und sie entsprechend der Interessen des US-Imperialismus neu ziehen. Für die Palästinenser könnte er eine neue Naqba, eine neuerliche Vertreibung, bedeuten.
Leila Khaled – Ikone des Widerstandes
Vor der Abreise trifft die Delegation mit Leila Khaled zusammen. Die führende Aktivistin der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) wurde durch ihre Beteiligung an zwei Flugzeugentführungen Anfang der 70er Jahre in der ganzen Welt bekannt. Obwohl die PFLP selbst Opfer der korrupten Politik der Palästinensischen Nationalbehörde ist – ihr Generalsekretär ist seit einem Jahr inhaftiert – unterscheidet Khaled genau zwischen, wie sie sagt, Haupt- und Nebenwiderspruch. „Der Hauptwiderspruch ist die Besatzung. Gegen diese können wir nur geeint kämpfen. Alles andere würde zu einem Bürgerkrieg führen und den Interessen Israels dienen.“ Die Bevölkerung müsse in zäher Überzeugungsarbeit über den Charakter der PNA aufgeklärt werden. Das palästinensische Volk dürfe den Kampf nicht aufgeben, sich nicht noch einmal auf eine betrügerische „politische“ Lösung einlassen, die nur den Interessen des Gegners diene, die eigenen allerdings mit Füßen trete. Das sei das Oslo-Abkommen gewesen. Zu diesem Zweck gebe es Verhandlungen zwischen allen Strömungen des palästinensischen Widerstandes um ein gemeinsames Programm zu finden.
Ihre Organisation stehe nach wir vor für die Errichtung eines demokratischen Staates in ganz Palästina. Das ist die einzige Möglichkeit, ein friedliches Zusammenleben zwischen Arabern, Juden und allgemein allen Menschen in der Region zu gewährleisten.
Natascha Ziegler/Margarethe Berger
Ausführliche Berichte und Interviews zur Solidaritätsdelegation in den Irak sind der „Intifada“ Sondernummer II zu entnehmen. Zu beziehen über die Redaktion.