Über die Natur des arabischen Nationalismus und der Baath-Partei im Irak
Die Ursprünge des arabischen Nationalismus
Die ersten Strömungen des arabischen Nationalismus entstanden kurz vor dem Zweiten Weltkrieg, als die arabische Welt, unter der direkten Kontrolle der englischen und französischen Kolonialisten, auch das Jagdrevier des nationalsozialistischen Deutschland war. Mit der Ausnahme kleinerer intellektueller Gruppen, die dem westlichen Liberalismus oder dem Marxismus nahe standen, zeigte sich der arabische Nationalismus der Anfangszeit, auch aufgrund der radikalen Zurückweisung der anglofranzösischen „demokratischen Kolonialisten“, in gewissen Maßen offen für faschistische Versuche der Einflussnahme.
Nach dem Zweiten Weltkrieg, in der Ära der „Dekolonisierung“, hat der Arabismus seine politische Physiognomie gefestigt: Das Konzept der arabischen Einheit gegen die künstlichen Grenzen, die von den Kolonialmächten gezogen worden waren. Das Konzept der Nation nicht nur als politische Einheit, sondern als Gemeinschaft der Brüderlichkeit. Schließlich der kulturelle Einfluss des Islam, der sich in erster Linie durch die pan-islamische Zurückweisung der europäisch-bürgerlichen Idee des säkularisierten Nationalstaats ausdrückte (die arabische Einheit als modernisierte Form der traditionellen Islamischen Umma, der Gemeinschaft der Gläubigen).
Als Gegner der progressiven Intelligenz und der arabischen Nation fanden sich aber nicht nur die Kolonialmächte, sondern auch die monarchischen Regime, unterstützt durch eine starke feudale Aristokratie und durch die Stammesstrukturen. Das ist der Ursprung der Radikalisierung des arabischen Nationalismus, der Schlussfolgerung, dass die arabische Nation die nationale Revolution notwendig mache. Die Hindernisse mussten hinweggefegt werden.
Der Staatsstreich der Freien Offiziere Nassers 1952, die Nationalisierung des Suezkanals 1956, die Republikanische Revolution des 14. Juli 1958 im Irak (ein Ereignis größter Tragweite, Kraft und Radikalität, das, aus einer marxistischen Sichtweise betrachtet, den höchsten Punkt der revolutionären Entwicklung im Mittleren Osten darstellte), zeigen die Etappen und geben einen Eindruck davon, was wir als Radikalisierung des arabischen Nationalismus bezeichnet haben.
In diesem Stadium hatte der Nationalismus aber noch nicht die „sozialistische“ Umwandlung vollzogen, die sich erst später, mit dem Kollaps der VAR (Vereinigte Arabische Republik) 1961 und dem Sieg der algerischen Revolution 1964, vollziehen sollte. Die Revolution in Algerien ist ein weiteres epochales Ereignis, das für das Verständnis der antiimperialistischen und revolutionären Entwicklung des arabischen Nationalismus notwendig ist.
Die ökonomische Transformation, die das tiefe Eindringen des Kapitalismus im Mittleren Osten auslöste, wardie Grundlage für die Verbreitung der nationalistischen Stimmung. Je tiefer das Eindringen des Kapitalismus, desto vollständiger wurden die Unterentwicklung und die Abhängigkeit etabliert. Das gesamte alte soziale Sein (Struktur und Überbau) wurde zerstört oder entstellt. Bauern und Hirten, das Kleinbürgertum, alle waren einem Prozess der Verarmung unterworfen. Der Versuch des urbanen und ländlichen Kleinbürgertums der Armut zu entgehen, führte es in die Schulen und das Militär. Die Chance, nicht in der Marginalisierung zu verschwinden, lag im unabhängigen Staat, dem einzigen Ort über den sozialer Aufstieg möglich war. Wir sehen eine plebejische Massenintelligenz, die neben jener traditionellen, gebildet aus dem Klerus und der Aristokratie, aufstieg. Eine intellektuelle Elite, ausgebildet im Westen oder in islamischen Universitäten, die Professoren, Advokaten, Ärzte und Bürokraten hervorbrachte. Die Krise des Landwirtschaft, der Exodus in die Städte, die Vertreibung der Enterbten ohne Arbeit, die Urbanisierung, die Emigration und die sehr dynamische demographische Entwicklung und schließlich der imperialistische Raub, trieben diese plebejische Intelligenz in die Politisierung, in das Verlangen nach der Befreiung. Sie wurden zur Avantgarde des nationalen und sozialen Kampfes.
Mit der Ausnahme des Libanon gab es in der arabischen Region keine nationale Bourgeoisie im eigentlichen Sinn. Ebenso wenig existierte ein modernes Proletariat, aus dem heraus sich eine revolutionäre Führung hätte entwickeln können.
Diese politisch-soziale Situation erklärt nicht nur die Schwäche der Kommunisten (die obendrein durch die ursprüngliche sowjetische Unterstützung für den Zionismus belastet waren), sie schuf auch Platz für die kleinbürgerliche Elite, deren eigene Armut und Demütigung sie zum Bündnis mit den unterdrücktesten Schichten der Bevölkerung trieb. Dieser „Gang ins Volk“ gab dem aufsteigenden Nationalismus seinen plebejischen Charakter – in der Form eines Populismus, der Elemente der islamischen Tradition im Fall der Nasseristen wieder aufgriff, im Fall des Baathismus sich aber von Anfang an auf die radikal-demokratische (wenn auch nicht direkt marxistische) europäische Tradition stützte. (Das hängt auch damit zusammen, dass Intellektuelle alewitischen oder christlichen Ursprungs wesentlich an der Gründung des Baathismus beteiligt waren.)
Der Nationalismus nahm eschatologische Formen an: die von den Kolonialmächten zugestandene Unabhängigkeit wurde als nur scheinbar wahrgenommen, eine wahre Unabhängigkeit müsse auf der Basis der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit aufgebaut werden. So gab sich der nationalistische Populismus einen Anstrich revolutionärer sozialistischer Orientierung und begann das gesamte Feld der oppositionellen Politik zu besetzen und dadurch die verschiedenen kommunistischen Parteien ins Eck zu drängen, die wiederum nach einer längeren Phase der radikalen Abgrenzung und Abneigung gegen den Arabismus sich diesem zu Füßen warfen, kaum war er an der Macht.
Angesichts der strukturellen Unfähigkeit der „bürgerlichen“ politischen Parteien, die Führung der nationalen antiimperialistischen Bewegung zu übernehmen, aufgrund der fragilen und rachitischen sozialen Basis der Bourgeoisie selbst griff der arabische Nationalismus so weit um sich, dass er schließlich selbst die Vertretung der Interessen dieser inzipienten Bourgeoisie übernahm, deren Entwicklung zu einer herrschenden Klasse eben gerade durch die Unterwerfung unter den Imperialismus behindert wurde. Einzige Ausnahmen waren der Libanon, wo es eine starke maronitische Bourgeoisie gab, Marokko, wo die Istiqlal die nationale Bewegung führte und Tunesien, wo die Neo-Destur selbiges schaffte.
Nasserismus und Baathismus
Die Baath Partei (Baath bedeutet Auferstehung oder Wiedergeburt) war die Nachfolgeorganisation der Liga für die Nationalistische Aktion von 1933, einer Organisation die zur laizistischen Entwicklung des Arabischen Nationalismus und zu seiner formalen Lösung von den Ideen der islamischen Einheit beigetragen hat.
Diese Bewegung, bevor sie sich 1939-40 auflöste, erreichte eine Anhängerschaft unter den arabisch-christlichen Intellektuellen Syriens und des Libanon. Es waren diese Intellektuellen, die 1943 die Baath Partei ins Leben riefen, damals mit dem Zentrum in Damaskus. Die Zielstellung war, wie es der Philosoph Zaki el-Arsuzi darstellte, die Konstruktion einer arabischen nationalen Einheit, die nicht auf der islamischen Religion, sondern der gemeinsamen Sprache und Kultur basierte. Michel Aflak, Theoretiker des Baathismus, der seine Ausbildung in Paris erhalten hatte, postulierte ursprünglich eine arabische nationale Revolution, die abseits des Sozialismus stehen würde. Im Zentrum dabei der Ruf nach dem „homo arabicus“, einem romantischen Ideal des Volksführers.
Während des Krieges und der unmittelbaren Nachkriegszeit, fand der Baathismus Unterstützung unter den Jugendlichen aus gutem Haus, die zu religiösen und kulturellen Minderheiten gehörten – vor allem griechisch Orthodoxe, Drusen und Alewiten. Das waren Intellektuelle die – nicht ganz zu Unrecht – die herrschenden semifeudalen Würdenträger islamisch-sunnitischer Religion für die arabische Dekadenz und die Herrschaft des Imperialismus verantwortlich machten.
In der Nachkriegszeit, als das Problem der Unabhängigkeit in vollem Ausmaß auf der Tagesordnung stand und mit ihr das soziale Modell, das danach anzuwenden wäre, wendete sich dieser arabische Nationalismus der Sowjetunion zu (die zu jener Zeit in eindrücklicher Expansion begriffen war) und eignete sich den Sozialismus an, der als einziges System zur nationalen Entwicklung verstanden wurde.
Was hier Form annahm, war tatsächlich eine koloniale Variante der europäischen Jakobiner, die Idee einer bürgerlichen Revolution, die sich, aufgrund des Fehlens einer revolutionären Bourgeoisie, auf das „Volk“ zu stützen hatte, auf die plebejischen Schichten, die Kleinbürger, die ins Elend Gestürzten. Wir werden in der Folge sehen, wie sich die bürgerlichen Revolutionäre jakobinischen Typs, einmal an der Macht, augenblicklich in Bonapartisten verwandelt haben.
Am Beginn der 50er Jahre gewann die Baath Partei Einfluss im syrischen Militär, organisierte Zellen von Offizieren, viele von ihnen aus religiösen oder kulturellen Minderheiten. Nach 1953, als die Bewegung sich öffentlich als „sozialistisch“ bezeichnet hatte, wiederholte sich das in einigen arabischen Ländern, vor allem in Jordanien und im Irak. Sowohl als „sozialistische“ Bewegung, als auch als radikaler Flügel des arabischen Nationalismus wurde die Baath Partei von den progressiven Intellektuellen als Alternative zur Dekadenz der alten herrschenden Klassen gesehen, als Hebel für die nationale, soziale und kulturelle Befreiung, als die Kraft, die tatsächlich jene Männer und Gruppen würde beseitigen können, die den Interessen des amerikanischen, englischen und französischen Imperialismus dienten.
1958, mit der Gründung der Vereinigten Arabischen Republik und der Vereinigung der Baath Partei mit den Nasseristen, schien das Projekt des arabischen Nationalismus seinem definitiven Triumph entgegenzugehen. In der Realität hielt die Idylle nicht lange. Die Vereinigung erfolgte unter außergewöhnlichen Umständen, als die Verstaatlichung des Suezkanals und der Misserfolg der anglo-französisch-israelischen Invasion Nasser ein gewaltiges Prestige verliehen hatten, ein Prestige, durch das ihm praktisch die Führung der nationalistischen Bewegung zukam.
Der Zerfall der VAR (deren Gründung von den USA abgelehnt, von der UdSSR unter Chruschtschow aber unterstützt worden war), zeigte die Beschränkungen und die Widersprüche des panarabischen Nationalismus. Nasseristen und Baathisten standen sich feindlich gegenüber, weniger auf Grund ideologischer Differenzen, als wegen der Frage, welcher der beiden Fraktionen die Führung der arabischen Welt und der nationalistischen Bewegung zufallen sollte. Der Streit zwischen Nasseristen und Baathisten war das erste Anzeichen von den Widersprüchen zwischen einer ägyptischen und einer syrischen Bourgeoisie, die gerade in Enstehung begriffen waren. Für die orthodoxen Marxisten war das Scheitern der VAR der Beweis dafür, dass das Proletariat die einzige moderne Klasse mit tatsächlich revolutionärem und unitaristischem Charakter sei. Der Nationalismus, auch wenn er antiimperialistisch sei, bleibe kleinbürgerlich – basiere also auf dem Interesse dieser heterogenen sozialen Gruppe, sich in eine echte herrschende Klasse zu verwandeln – könne daher nicht zu einem echten und dauerhaften Sieg führen. An einem bestimmten Punkt müsse der kleinbürgerliche Nationalismus an seinen eigenen Widersprüchen und der Fragilität seiner sozialen Basis zerbrechen.
Die kurze Erfahrung der VAR (1958-61) ist wichtig, um zu verstehen, warum der Staatskapitalismus (offiziell „Sozialismus“ bezeichnet) das soziale System wurde, das sowohl die nasseristische Erfahrung in Ägypten, als auch die Baathistischen Erfahrungen im Irak und in Syrien charakterisierte.
Die Regierung Nassers suchte im Verlauf der 50er Jahre verzweifelt nach einem bürgerlich „liberalen“ Ausweg aus der Unterentwicklung. In anderen Worten suchte Nasser nach einer nationalen Bourgeoisie, der man die Ehre der Entwicklung und Führung des Landes anvertrauen könne. Er hat keine gefunden. Die ausgesprochen schwächliche ägyptische Bourgeoisie besaß nicht nur keine Ressourcen für die notwendigen Investitionen in die Entwicklung des Landes, sie fürchtete auch die Beschlagnahmungen und Nationalisierungen, die durchgeführt worden waren und unterstützte letzten Endes den Imperialismus, der mit ökonomischen Mitteln und militärischen Drohungen den Erfolg des nationalistischen Projektes zu verhindern suchte.
Das Scheitern der VAR war also nicht einzig bestimmt durch die Abspaltung Syriens, im Hintergrund stand das Scheitern eines kapitalistischen Weges der Entwicklung, das Scheitern des Versuches, die Pauperisierung aufzuhalten, indem man die Industrialisierung einer bloß eingebildeten nationalen Bourgeoisie anvertraute.
Für Nasser war der Weg zum „Sozialismus“ daher unvermeidlich: Verallgemeinerte Nationalisierung, ökonomische Planung, Annäherung an die Sowjetunion.
Das Ergebnis dieser antibürgerlichen und antiimperialistischen Linie Nassers war aber nur eine staatskapitalistische Variante des alten Systems, in der der öffentliche Sektor (der einzige Wirtschaftssektor, der einen relevanten Teil seiner Überschüsse für Investitionen und Industrialisierung verwenden konnte) der monopolistische Eigner der Produktionsmittel war. Das Experiment verließ dabei nie den Rahmen des Kapitalismus, trotz aller Bemühungen zur Sozialisierung blieben die fundamentalen Bewegungsgesetze des Kapitals intakt. Die Wirtschaft in ihrer Gesamtheit blieb Gefangene der imperialistischen internationalen Arbeitsteilung, die Handelsbourgeoisie wurde nicht angetastet, dadurch landete ein großer Teil des nationalen Surplus über die Kapitalflucht in westlichen Banken.
Die Bestätigung dieser Analyse findet sich im Resultat des nasseristischen Experimentes selbst: Die langsame Formierung einer neuen „nationalen Bourgeoisie“, die die nasseristische Erfahrung beenden wollte und mit Sadat jeden antiimperialistischen Anspruch aufgab und sich in Camp David in die Arme des Westens warf. Der Staatskapitalismus war der Brutkasten dieser Bourgeoisie, die nicht nur aus der Schicht der reichen Händler bestand, sondern auch aus den Rängen der militärisch-bürokratischen Kaste, die ursprünglich die soziale Basis des Nasserismus dargestellt hatte.
Revolution und Baathismus im Irak
Einmal militärisch die Macht ergriffen, importierte der Baathismus, sei es in Syrien oder im Irak, aus Nassers Ägypten nicht nur das ökonomische Modell eines Staatskapitalismus, sondern auch das politische Modell Nassers – einen dirigistischen Bonapartismus, der zwar an die Massen appellierte, sie aber gleichzeitig paternalistisch-autoritär unterjochte.
Es lohnt sich, die soziale Situation des Irak vor 1968 anzusehen, dem Jahr des definitiven Sieges der Baath-Partei unter Saddam Hussein.
Davor hatte ein anderes Datum eine historische Wende bedeutet, die unvollendete Revolution des Jahres 1958. Diese Revolution, die die Zerstörung der alten vorkapitalistischen Sozialstruktur einleitete (einer Mischung aus Feudalismus und islamisierter Stammesordnung), war nicht nur politisch, sondern auch sozial von einem starken egalitaristischem Zug. Die Revolution sah die Landbesetzungen durch die armen Bauern und die Organisierung der Arbeiter in mächtigen Gewerkschaften. Es war kein Zufall, dass die Kommunistische Partei eine entscheidende Rolle spielte.
Bis 1958 war die Macht, innerhalb eines Rahmens, der scheinbar der Stammesgesellschaft entsprach, in der Hand der Großgrundbesitzer, welche diese mit Großhändlern und der militärischen Elite teilten, diese zum Großteil nicht aus dem Irak selbst. Es handelte sich um nicht mehr als 50 Familien, die sich um den König gruppierten. In den Händen dieser Klasse lag die Macht seit dem Sturz der Abassiden, und auch die Engländer hatten gute Geschäfte mit ihr gemacht (die Haltung dieser Leute soll aber nicht vergessen machen, dass das irakische Volk von Anfang an einen wesentlichen Beitrag zum antikolonialistischen Kampf geleistet hat, seit den Anfängen des britischen Vordringens). Als Stützen der Macht fungierten die Sadah und die Ashraf, angebliche Nachkommen des Propheten, eine religiöse Kaste, die Moscheen wie Heiligtümer kontrollierte. Die ökonomischen Strukturen waren feudal, ein Prozent der Landbesitzer kontrollierte 50 Prozent des Bodens, vier Fünftel der Bauern waren dagegen ohne Land. In der Stadt kontrollierten die reichen Händler 60 Prozent des Privatkapitals.
Der Juli 1958 begann mit diesem System aufzuräumen, zuerst fiel die Monarchie Feisal II. Die Macht, auch auf Grund von militärischen und politischen Fehlern der mächtigen Kommunistischen Partei, ging auf die Militärjunta des General Kassem über (bis 1963). Sehr schnell wurden Nationalisierungen durchgeführt, um den Einfluss der imperialistischen Konzerne zu verringern. 1961 war de facto die Gesamtheit des westlichen Besitzes verstaatlicht worden. Noch wichtiger war die Agrarreform, wegen der Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den Klassen, die sie auslöste. Dadurch wurde das Latifundium de facto abgeschafft, bäuerlicher Kleinbesitz etabliert, das Einkommen der Tagelöhner gesteigert, das Stammesgesetz (zumindest offiziell) abgeschafft und damit der Weg für eine neue korporativistische Organisation der Gesellschaft geöffnet.
Die Militärregierung Kassems war, während sie sich auf die Kommunistische Partei und die Demokratische Kurdische Partei Barzanis stützte, mit der Opposition der Baathisten und Nasseristen konfrontiert, die gemeinsam Kassem die Verweigerung des Anschlusses an die VAR nicht verziehen. Die kurdischen und kommunistischen Milizen gingen in ihrer Unterstützung der Regierung so weit, dass sie sich an der blutigen Niederschlagung von baathistischen Aufstandsversuchen beteiligten. Das würde nicht vergessen werden, in der kurzen Periode zwischen Februar und November 1963, die die Baathisten das erste Mal an der Macht sah, massakrierten sie 5.000 Kommunisten. Auch in dieser Zeit von Oktober bis November 1963 erfolgte der Bruch zwischen den kurzzeitigen Machthabern in Bagdad und ihren syrischen „Brüdern“.
Der Prozess der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, der unter Kassem relativ bald verlangsamt wurde, als er auf den Widerstand der alten herrschenden Klassen stieß, wurde unter der Regierung der Brüder Aref (1963-68) fortgesetzt, in den selben Jahren als auch der „sozialistische“ Schwenk Nassers erfolgte. Nationalisiert wurden die wichtigsten Banken, die Versicherungsgesellschaften, die Industrie, über Import und Export wurde die staatliche Kontrolle verhängt.
Das Entwicklungsmodell der Brüder Aref folgte dem staatskapitalistischen Muster Nassers, aber ebenso wie im ägyptischen Fall manifestierten sich bald Anzeichen eines Kollapses.
Als die Baathisten Saddam Husseins 1968 definitiv die Macht an sich reißen konnten, setzten sie den Kurs der Auflösung der alten Feudalbeziehungen und der damit verbundenen Abhängigkeit vom Imperialismus fort. Die Charta der Nationalen Aktion von 1971 postulierte offen den Aufbau des Sozialismus, die Verbindungen mit dem sowjetischen Block waren ausgezeichnet.
Das baathistische politische Modell war autoritär. Es basierte auf der Konzeption einer Revolution von oben, unterstützt durch die passive (ohne politische Eigenständigkeit) Mobilisierung der Massen. Das Regime bezog sich auf das Volk und dessen Mobilisierung, aber es vertraute ihm nicht, stand den demokratischen Organisationen der Bauern und Arbeiter (Ergebnisse der Revolution 1958) skeptisch gegenüber. Sie wurden nur toleriert, wenn sie der direkten Kontrolle unterworfen waren. Der arabische Nationalismus, der Bezug auf die Einheit und die arabische Revolution, blieb am Leben, begann aber immer mehr die Form des „irakischen Patriotismus“ anzunehmen, mit immer bonapartistischeren Ausprägungen. Einmal an der Macht gab der Baathismus Saddam Husseins jeden jakobinisch-plebejischen Anspruch auf. Übernommen wurde ein preußisches, besser noch kemalistisches Modell, mit einem starken Mann im Zentrum, einem Volksführer an der Spitze einer starken Armee. Mutatis mutandi: ein säkularisiertes und aufgeklärtes Kalifat.
Diesem aufgeklärten militärischen Bonapartismus gaben sowohl die Kommunisten als auch die Kurden (denen Saddam von 1970 bis 1975 eine starke Autonomie gewährte) offene Unterstützung. In einer ersten Phase wurden alle alten Meinungsverschiedenheiten bei Seite gelassen.
Das bonapartistische Regime, wenn auch mit absolutistischen Methoden, vergaß nicht darauf, seine Mission der Modernisierung voranzutreiben. Es war der Versuch von oben jene radikalen Reformen durchzuführen, deren der Irak bedurfte, um die Unterentwicklung hinter sich zu lassen. 1972 – während der Nasserismus in Ägypten nach der Niederlage 1967 im Verfall begriffen war – war der Aufstieg des Regimes der Baath-Partei offenkundig. Die Erdölindustrie wurde vollkommen nationalisiert und dem Westen aus der Hand genommen. Es begann die Diversifizierung der Wirtschaft, die Industrialisierung des Landes und die Mechanisierung der Landwirtschaft. Sämtlicher noch vorhandener Großgrundbesitz wurde entschädigungslos konfisziert. Das Land wurde elektrifiziert. Es gab Gehaltssteigerungen für die Arbeiter und Sozialhilfen. Schul- und Gesundheitswesen wurden rasch entwickelt. Die alten dominanten Klassen und Kasten, sowohl in der Stadt, als auch am Land, aber auch die Stammesstruktur wurden endgültig entmachtet und aufgelöst. Die neue baathistische militärisch-staatliche Bürokratie kontrollierte somit alle Hebel der politischen und wirtschaftlichen Macht, konnte Ressourcen und Investitionen nach eigenem Willen steuern.
Hat der Baathismus also die Revolution von 1958 vollendet?
Nein. Sie wurde weit vorangetrieben, aber nicht vollendet. Diese Revolution – die die KP nicht ausreichend entwickeln wollte und die sie statt dessen auf einem goldenen Tablett den nationalistischen Militärs und in weiterer Folge dem Baathismus übergab –, die das Proletariat und die ärmsten Schichten in entscheidender Avantgarderolle sah, war nicht nur „bürgerlich-demokratisch“, sie enthielt starke sozialistische und egalitäre Elemente. Eine revolutionäre und demokratische Volksmacht hätte entstehen können, aber das wurde von der UdSSR und ihrer irakischen Agentur als „Abenteurertum“ angesehen.
Saddam Hussein hat nur einen Teil des Erbes der Revolution aufgegriffen, und damit einen starken Impuls zur Modernisierung des Landes gesetzt. Aber diese Modernisierung hat sich als bonapartistische Diktatur, als säkularisiertes Kalifat konsolidiert. Ein Regime, das die Eigeninitiative der Massen unterdrückt und aus dem Militär (mehr noch als aus der Baath-Partei) das entscheidende Instrument zur Ausübung der Macht macht, ist einem sofortigen Degenerationsprozess unterworfen.
Unter diesen Voraussetzungen ist eine gewaltige nepotistische Korruption entstanden. Eine bürokratisch-kapitalistische Wirtschaft, in der die Öleinnahmen, die seit der Mitte der 70er Jahre zu großen Teilen an das Militär gegangen sind, nur dazu beigetragen haben, die Wirtschaftsentwicklung zu ersticken. Die Industrialisierung des Landes wurde regionalen Vormachtsambitionen untergeordnet, Ambitionen, die sich zuerst im katastrophalen und selbstmörderischen Krieg gegen den Iran ausdrückten (der praktisch die gesamten 80er Jahre andauerte) und später zur Annexion Kuwaits 1990 führten. Letztere leitete die schwere Niederlage gegen die von den USA geführte imperialistische Koalition vom 25-28 Februar 1991 ein, welche wiederum zu den großen kurdischen und schiitischen Revolten im März führte.
Der Rückzug aus Kuwait, die Niederlage des Februar 1991, die ständige anglo-amerikanische Militäraggression, die seither anhält, das völkermörderische Embargo, das alles hat die irakische Gesellschaft um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Außer direkten Impressionen, die wir bei zahlreichen Reisen der Solidarität mit dem gemarterten Land gewonnen haben, besitzen wir keine glaubhaften wissenschaftlichen Daten, um beurteilen zu können, was sich wirklich in der irakischen Gesellschaft abspielt, was die tatsächliche Natur des Regimes ist, oder wie breit dessen Unterstützung durch die Massen ist. Uns scheinen die Dinge so zu liegen: Nach der ersten jakobinisch-plebejischen Phase des Baathismus, nach der zweiten Phase, die gleich nach dem Machtantritt begonnen hat und die wir als kemalistisch-bonapartistisch beschrieben haben, hat seit dem Krieg mit dem Iran langsam eine dritte Phase begonnen, die den Verfall des Regimes kennzeichnet. Charakterisiert wird sie durch einen asiatischen Despotismus, der totalen persönlichen Herrschaft des Führers, dessen zentrales Machtinstrument dabei nicht mehr die Baath-Partei darstellt, sondern eine militärische Kaste und die politische Polizei. Dabei hat in den 90er Jahren eine weitere bedeutende Verschiebung staatgefunden: Das Regime hat seinen baathistisch-ideologischen Diskurs (Laizismus, Modernismus) gegenüber den Massen aufgegeben und durch einen religiösen ersetzt. Wir sprechen von grundlegenden sozialen Änderungen einer Massenarmut durch Kriegswirtschaft und Embargo: Unter diesen Voraussetzungen hat der traditionelle Baathismus (Laizismus und Modernität) keinen Einfluss mehr auf die Elenden, die sich, wie auch in anderen arabischen Ländern, der islamischen Eschatologie als Rettung zuwenden und auf die religiösen Führer mehr vertrauen als auf die laizistischen Politiker. Das erklärt die starke Islamisierung, die die irakische Gesellschaft in den letzten Jahren erfahren hat, es erklärt auch die ungekannte Beachtung, die das Regime dem Klerus schenkt, sei er schiitisch oder sunnitisch. Ohne die Unterstützung durch den Klerus wäre das Überleben des Regimes kaum möglich.
Der Zusammenbruch der Wirtschaft seit dem Krieg mit dem Iran (der nicht einfach im Auftrag der USA ausgeführt worden ist, wie viele meinen, als ob Saddam die Marionette der antiiranischen Politik der USA gewesen wäre), extrem verschärft durch die imperialistische Aggression und das Embargo, hat einen Massenpauperismus hervorgerufen, der das Gewebe der irakischen Gesellschaft völlig durcheinander gebracht hat. Der wachsenden Armut auf dem Land entspricht ein in den Städten, auch in Bagdad, wachsendes verzweifeltes Massen-Lumpenproletariat, das am Rand der sozialen Explosion steht und den hauptsächlichen Unsicherheitsfaktor darstellt, vor allen im Hinblick auf die kommende anglo-amerikanische Aggression. Das Regime bewahrte den Konsens in der Armee, im angeschlagenen öffentlichen Sektor, in den zentralen und lokalen Netzen der baathistischen Partei sowie mit der Unterstützung der Moscheen unter einem Gutteil der Mittelschichten auch über die große staatliche Bürokratie hinaus. Wieweit das Regime gegen den bewaffneten Angriff widerstehen kann, indem es sich nur auf diese „bessergestellten“ Schichten stützt, ist schwer zu sagen. Die Zahlen haben ihre Bedeutung. Das Pentagon rechnet für den Sieg im Krieg mit einer raschen Implosion des Regimes, zumindest aber mit seiner vertikalen Spaltung.
Was die soziale Spaltung betrifft, so ist das scheinbar Paradoxon, dass die USA, angesichts des Fehlens einer Bourgeoisie, die dieses Namens würdig ist (außer jener, die vom Schmuggel lebt), auf das städtische Lumpenproletariat hoffen. Das erklärt die Inkonsistenz des Oppositionskartells des Irakischen Nationalkongresses trotz der Millionen Dollar, die das Pentagon in ihn hineinpumpt. Die USA rechnen mit einem Bürgerkrieg nach einem militärischen Angriff, überzeugt, dass ihre Armee nicht nur mit den Waffen, sondern auch mit einer sozialen Revolte umzugehen vermag. An diesem Punkt hängt das Schicksal, nicht nur des Regimes von Saddam Hussein, sondern das der Unabhängigkeit des Irak, nicht so sehr von der Armee und der Republikanischen Garde, sondern von der aktiven Unterstützung der Moscheen für den antiimperialistischen Widerstand ab. Das wiederum ist zu einem Gutteil mit der Linie verbunden, die der Iran (als Bezugspunkt für die große schiitische Minderheit) und vor allem die anderen arabischen Länder, vor allem Saudi Arabien, einnehmen, die seit jeher ein Bezugspunkt für den Großteil der Sunniten war.
Es ist nicht gesagt, dass eine eventueller Fall von Saddam Hussein den Irak unter die US-Kontrolle bringen würde. Der Volkswiderstand gegen die Aggression könnte sich konsolidieren und das Machtvakuum rasch von dem allgegenwärtigen politischen Islamismus, vielleicht einer schiitisch-sunnitischen Einheitsfront, gefüllt werden. Dies würde das Szenario, die Physiognomie und die Rhythmen dieses Krieges radikal ändern. Kein arabisches Land und auch nicht der Iran könnten, nachdem Saddam Hussein weg ist, dem Massaker gegen ihre Brüder tatenlos zusehen. Ein Krieg, den das Pentagon mit einem Blitzsieg beenden will, könnte ein neues Vietnam werden.