Buchrezension
Alain Gresh, Israel-Palästina. Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Aus dem Französischen von Bodo Schulze, Rotpunktverlag, Zürich 2002, 192 Seiten, …€ 19.80.
Der seit über hundert Jahren schwelende älteste Regionalkonflikt zwischen Palästinensern und Israelis wurde in den letzten zwei Jahren durch einige besonders brutale Kapitel ergänzt. Alain Gresh, Chefredakteur der renommierten Monatszeitung „Le Monde diplomatique“, hat eine kurze, aber sehr prägnante Geschichte des Nahostkonfliktes vorgelegt. Sie besticht durch die Konzentration auf das Wesentlichste und ist stark historisch geprägt. Das Buch handelt von der Entstehung des Konfliktes, von Judentum und Zionismus, der Staatsgründung Israels und dem Untergang Palästinas, dem Völkermord und dem Leiden des Anderen sowie der Besatzungspolitik Israel und dem Scheitern des sogenannten Friedensprozesses.
Der Autor gehört zu einer Spezies, die in den sechziger Jahren, der Zeit der Entkolonisierungsbewegungen, sozialisiert wurde und für die Solidarität mit den „Verdammten dieser Erde“ kein Fremdwort ist. Seine Biographie ist nicht alltäglich: Gresh wuchs als Kind einer russischen Jüdin und eines Kopten in Kairo auf; dort besuchte er das französische Gymnasium. Im Einleitungskapitel, das in Form eines sehr persönlichen Briefes an seine Tochter abgefasst ist, gibt er Einblicke in sein Weltanschauung: Weder Herkunft noch Religion spielten irgendeine Rolle. Man verstand sich als integraler Bestandteil der Menschheit, „Rassenzuschreibungen“ waren verpönt, nationale Zugehörigkeit perdu. Gresh versteht sich als Atheist, respektiert aber die Gläubigen.
Die Ausführungen des Autors sind stark von der französischen Debatte zum Nahostkonflikt und zum Antisemitismus geprägt. Dies ist jedoch kein Nachteil, da besonders die politische Elite in Deutschland und den USA davon profitieren könnte. Diese Debatte „scheint tatsächliche alle Wertvorstellungen zu verwirren“. Sobald über „diesen kleinen Fleck Erde“ diskutiert werde, änderten sich die Prinzipien und Wertvorstellungen. Herausragende Intellektuelle sträubten sich, wenn es um Palästina gehe, und sie legen oft zweierlei Maß an. Eine solche Doppelmoral lehnt Gresh ab. Er setzt sich intensiv mit den Holocaust-Leugnern á la Garaudy auseinander. Der Autor will die Lehren aus dem Holocaust nicht nationalstaatlich, sondern universell gewendet sehen: „Der Völkermord an den Juden ist nicht etwas, das sich allen Nichtjuden verschließt, er ist nicht nur Sache der Juden, er geht alle Menschen etwas an.“ Obgleich es immer wieder Versuche der Instrumentalisierung des Holocausts für politische Zwecke gebe, sind solche „Erpressungsversuche selbstredend zurückzuweisen. Doch wäre nichts verheerender, wollte man das jüdische – auch das israelische – Eingedenken auf pure Propaganda reduzieren.“ Die Shoa lasse sich mit dem Leiden der Palästinenser nicht gleichsetzen, gleichwohl ergreift Gresh die Seite der unterdrückten Palästinenser.
Der Autor kritisiert die Besatzungspolitik Israel. Sie werde dadurch so unvergleichbar, weil die Besiedlung der besetzten Gebiete die Speerspitze der Strategie Israels sei. Die Auswirkungen auf die Israelis hatte noch zu seinen Lebzeiten der renommierte Philosoph Yeshayahu Leibowitz als „Krebsgeschwür“ für sein Land bezeichnet. Der Bau der Umgehungsstraßen und die Verdoppelung der Siedler während des Friedensprozesses habe diesen ab absurdum geführt, so der Autor. Als einzige Waffe gegen die palästinensischen Terroranschläge wären „entschlossene Schritte zur Beendigung der Besatzung, zur Schaffung eines palästinensischen Staates“ nötig gewesen. Dazu sei auch Ehud Barak in Camp David nicht bereit gewesen. Gresh kritisiert die Politik Ariel Sharons. Sein Ziel sei nicht nur die „Zermalmung“ der Autonomiebehörde und die „Zwangsjacke der Osloer Abkommen loszuwerden“, sondern vielmehr „die Kapitulation der palästinensischen Bevölkerung, ihr Verzicht auf jede Art von Widerstand“. Gresh kritisiert nicht nur die Selbstmordattentate, gegen die israelische Zivilbevölkerung, sondern auch die „terroristische Politik der israelischen Armee“ als nicht nur unmoralisch, sondern als „politisch widersinnig“, da sie die Arbeit der Friedenskräften konterkariere.
Abgerundet wird diese kurze Darstellung durch eine Zeittafel vom Ersten Weltkrieg bis zur zweiten Intifada sowie acht hervorragenden Karten. Dieses Buch ist sehr verständlich geschrieben; eine außergewöhnliche, ja ausgezeichnete Abhandlung, die jeder gelesen haben sollte.
Ludwig Watzal