Tatsächlich wollen wir uns hier mit der Frage befassen, welchen nationalen Charakter der von uns für Palästina angestrebte demokratische Staat haben kann. Im Zuge dessen wollen wir eine Antwort auf jene (bösartigen) Kritiker geben, die uns vorwerfen, wir strebten einen arabischen Staat an, welcher impliziere, dass die jüdische Bevölkerung vertrieben würde.
Exklusiv jüdischer Staat kann nur unterdrücken
Im Kontext des Nahen Ostens konnte das in Israel zur Verwirklichung gekommene Konzept der zionistischen Bewegung nur kolonialistisch sein und sich auf den Imperialismus stützen bzw. in eine unzertrennliche Symbiose mit ihm eintreten.
Erstens hieß die Ansiedlung nicht nur die Unterdrückung der ursprünglichen Bevölkerung wie in vielen anderen vom Kolonialismus durchdrungenen Regionen, sondern ihre Vertreibung und schließlich auch ihre Vernichtung. Dass der europäische Kolonialismus zum vollständigen und systematischen Völkermord fähig ist, beweist nicht nur die Vernichtung der jüdischen Bevölkerung, sondern eben auch jene der indianischen Bevölkerung Amerikas oder der Tasmanier (1). Tatsächlich ist Amerika, das seine Weltherrschaft als Wahrung der Demokratie zu legitimieren versucht, auf der Erbsünde des Völkermordes aufgebaut. Wie die Weißen auf der anderen Seite des Atlantiks betrachten sich die Zionisten nach wie vor als Bollwerk der Zivilisation im Osten. Doch hat die arabisch-islamische Zivilisation eine zu große Geschichte, ruht auf zu viel Substanz, als dass man sie so einfach vernichten könnte. Daher der verbissene Widerstand.
Zweitens konnte das zionistische Projekt nur mit Unterstützung des jeweils dominanten Imperialismus durchgeführt werden. Schon der Gründer der Bewegung, Theodor Herzl, war sich dessen durchaus bewusst. Für Britannien verhieß die jüdische Ansiedlung in Palästina die Schaffung einer verlässlichen und kampfbereiten Kraft gegen die arabischen Völker an einem strategisch zentral gelegenen Verbindungspunkt. Dass die Zionisten gelegentlich in Konflikt mit ihren Herren kommen, oder gar den Herren einmal wechselten, tut dem symbiotischen Verhältnis keinen Abbruch.
Drittens stellt Israel mit seinen unbestimmten territorialen Ansprüchen eine ständige Bedrohung für die umgebende arabische Welt dar. Zumindest umfasst die Konzeption von Großisrael den Sinai, beide Seiten des Jordantales, den Südlibanon bis zum Litani und scheint nach Syrien hinein zumindest bis Damaskus zu reichen. In der Maximalvariante erstreckt es sich dann vom Nil bis zum Tigris.
Dass das nicht nur große Worte sind, hat Israel in zahlreichen Kriegen unter Beweis gestellt und es ist nicht ausgeschlossen, dass wir in den nächsten Wochen Zeugen weiterer Gebietseinverleibungen mit den dazugehörigen Vertreibungen sein werden. Scharon meinte dazu schlicht, der „Befreiungskrieg“ sei noch nicht zu Ende. Damit ist und bleibt Israel ein entscheidendes „Asset“ in der amerikanischen Strategie zur Beherrschung dieser so wichtigen Region.
Der „sozialistische“ Flügel des Zionismus meinte, dass man zuerst eine jüdische Klassengesellschaft errichten müsse, um dann zum Sozialismus übergehen zu können. Das genaue Gegenteil trug sich tatsächlich zu. Der gemeinsame Gegensatz aller Zuziehenden mit den Kolonisierten hat die Klassengegensätze gründlich überlagert und in den Hintergrund gedrängt. Was die Unterdrückung der Palästinenser betrifft und damit auch die dafür notwendige Verbindung mit dem US-Imperialismus, ist die israelische Gesellschaft so einheitlich und geschlossen wie noch nie. Statt eines jüdischen Sozialismus ist eine auf Apartheid aufgebaute Gesellschaft entstanden und eine solche kann sich nicht von innen heraus selbst demokratisieren.
Denn ein demokratischer Staat hieße zu aller erst das Recht auf Rückkehr für die Millionen Vertriebenen und damit eine Bedrohung der privilegierten kolonialen Existenz der jüdischen Bevölkerung. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht eine südafrikanische Lösung möglich wäre – nach der Formel: Die formale Apartheid muss fallen, damit die soziale um so legitimer aufrecht erhalten werden kann. Unter völlig veränderten Umständen kann das nicht ausgeschlossen werden, doch es ist auf absehbare Zeit höchst unwahrscheinlich. Erstens konnten die Zionisten eine jüdische Mehrheit erreichen und gerade in den 90er Jahren kräftig ausbauen, während sich das in Südafrika als unmöglich erwies und die Weißen zu einer immer kleineren Gruppe wurden. Zweitens, während in Südafrika ein Teil der weißen Kapitalisten aus langfristigen wirtschaftlichen Erwägungen politische Stabilität schaffen wollte und dem Ende der Apartheid zustimmte und es zudem einen liberalen und linken Teil der weißen Intelligenz gab, der der schwarzen Befreiungsbewegung zugetan war, so ist das in Israel nicht der Fall. Drittens hat die Region des südlichen Afrikas nicht die selbe geostrategische Bedeutung für den Imperialismus wie der Nahe Osten, wo Israel zur Herrschaftssicherung nach wie vor eine unerlässliche Rolle spielt. Und viertens ist das ideologische Gebäude des Zionismus, der sich nach wie vor erfolgreich als Schutzmacht der Opfer des Holocaust darstellt, viel weniger erschüttert als jenes der Apartheid.
Welche Titularnation(en)
Die Forderung nach dem demokratischen Staat bietet noch keine automatische Antwort auf die Frage nach der Titularnation jenes Staates. Entgegen so manchen postmodernen Hirngespinsten kann ein Staat ohne nationale Zuordnung nicht existieren – und sei es nur einer gemeinsamen Sprache wegen.
Die Möglichkeiten sind vielfältig. Ein Staat kann sich als eine einzige Nation verstehen und dennoch mehrere Sprachen haben, so wie die Schweiz. Ein Staat kann aber auch mehrere Nationen oder Nationalitäten umfassen und sich dennoch nur auf eine Haupt- und Verkehrssprache stützen, so wie das heutige Südafrika.
Was den Fall Palästina betrifft, so gibt es auch hier ein weites Band an Möglichkeiten zwischen einem arabischen und einem binationalen Weg die Beziehung zwischen den zwei nationalen Komponenten eines möglichen gemeinsamen Staatswesens zu gestalten. Sie können als Denkvarianten und politische Vorschläge formuliert werden, ihre Verwirklichbarkeit hängt aber vom konkreten Fortgang des Konfliktes ab.
Arabisches Palästina
Vorweg ist einmal klar, dass die arabische eine Titularnation ist. Dabei handelt sich es schlicht um die Wiederherstellung des vom Kolonialismus genommenen Rechtes auf Selbstbestimmung, so wie das in allen antikolonialen Befreiungsbewegungen und -kriegen der Fall war. Den verbliebenen Siedlern bot man in der Regel – unter der Bedingung der Loyalität zum neuen Staat – die vollen individuellen Bürgerrechte im Rahmen der neuen Nation an.
Das ist die Minimalvariante eines demokratischen Palästina. Doch ist der Zionismus kein „normaler Kolonialismus“. Er versucht die Siedler zu einer neuen Nation zu amalgamieren und so die Rückkehr in die Herkunftsnationen – unter anderem in jene aus der ein großer Teil der Israelis kommt, nämlich der arabischen – zu verunmöglichen.
Damit verbunden ist der nach wie vor starke Gründungsmythos, laut dem der Judenstaat der staatliche Schutz für eine weltweit verfolgte Minderheit sei. Dass der Antisemitismus in Europa eine vernichtende Gewalt entfaltet hat, ist eine Tatsache. Dass dies heute noch genauso ist, ist schon weit weniger richtig. Während mit der kapitalistischen Konterrevolution in Osteuropa ein tradierter latenter Antisemitismus auch angesichts der außerordentlichen Verarmung wieder manifest wird, ist er im Rest der Welt keine bedrohliche Gefahr. Die kapitalistischen Widersprüche haben sich verändert und so auch die sie erfordernden Sündenböcke – aktuelle Nr. 1 sind bekanntlich unangefochten die Moslems und Araber. Und was die arabisch-islamische Welt angeht, so trägt Israel selbst die Verantwortung dafür, dass es und seine Bewohner gehasst, noch schlimmer, dass seine Verbrechen mit dem Judentum gleichgesetzt werden. Es kommt einem Wunder gleich, dass der Zionismus das arabische Judentum noch nicht vollständig auslöschen konnte. Langfristig ist Israel für das Judentum kein Schutz sondern eine Bedrohung. Was zählt, ist jedoch, dass es die kolonialen Privilegien seiner Bewohner aufrecht erhält. Darum ist der Mythos in Fleisch und Blut übergegangen. Der tiefe Widerspruch der israelischen Gesellschaft, dass sie sich zu etwa gleichen Teilen aus Abkömmlingen der säkular-kolonialistischen europäischen Kultur und der religiös-kolonisierten arabischen Kultur zusammensetzt, konnte daran auch nichts ändern.
Im Gegensatz zu anderen Kolonialmächten konnte unter diesen Umständen die antikoloniale Widerstands- und Befreiungsbewegung keinen Keil in die Bevölkerung treiben und Sympathien gewinnen. Will man dennoch zumindest einen Teil dieser Nation für eine demokratische Lösung gewinnen, dann muss man ihr das Angebot zu ihrem Erhalt und Schutz im Rahmen eines gemeinsamen Staates machen. Denn ihre Erschaffung ist bis zu einem gewissen Grad eine vollendete Tatsache und muss in Rechnung gestellt werden, so reaktionär das auch sein mag.
Binationaler Staat
Diese von Michel Warschawski vorgeschlagene Lösung sieht vor, der sich als Nation verstehenden jüdischen Bevölkerung Palästinas kollektive Rechte als gleichberechtigte zweite Titularnation einzuräumen, so dass der Staat auf zwei Nationen beruht. Dazu bedürfte es eines weitgehend zweisprachigen Systems für alle wesentlichen staatlichen Funktionen einschließlich Legislative, Jurisdiktion und Exekutive. Auf der anderen Seite könnte es Elemente geben, die in der Autonomie der Teilnationen lägen, wie beispielsweise Teile des Schulwesens und der kulturellen Einrichtungen. Kategorisch auszuschließen ist jedoch jeder kollektive territoriale Anspruch einer Titularnation, denn das muss angesichts der sozialen Unterlegenheit der Araber und des geschichtlichen Erbes zu einer Wiederbelebung des Zionismus führen.
Der Laizismus ist ein wesentlicher Aspekt eines demokratischen Staates. Angesichts der Vielfältigkeit der religiösen Zugehörigkeit – Islam, Judentum, verschiedene christliche Strömungen, Drusen und in letzter Zeit auch Buddhismus – und der Ausschließlichkeit der Staatskonzepte, die mit ihnen legitimiert werden, muss der Staat strikteste Religionsfreiheit gewährleisten, gleichzeitig aber auf seinem nichtreligiösen Charakter bestehen. Nation bzw. Nationalität muss von Religion getrennt werden. Ein arabischer Jude kann sich beispielsweise entscheiden, ob er sich seiner Nationalität nach als Araber oder Israeli deklariert, während seine Religion jüdisch ist.
Entscheidend ist, dass die rassistische zionistische Klammer zwischen jüdischer Religion und israelischer Nationalität aufgebrochen wird. Nur damit kann der israelische Nationsbegriff einen notwendigen Schritt Richtung Demokratisierung machen, weg vom auserwählten Staatsvolk, dem man nur durch die Gnade der Geburt zugehörig sein kann, und hin zu einer Nation, die sich als politische, wirtschaftliche und kulturelle Gemeinschaft versteht, die man dementsprechend auch verändern und wechseln kann.
Dennoch bleibt Israel selbst als Teilnation eines demokratischen Palästina problematisch. An der Benennung selbst zeigt sich, dass es schwierig sein wird, die Brandmale seiner zionistischen Staatsgründer gänzlich abstreifen. Die Bezeichnung „israelisch“ führt unabtrennbar den Anspruch des zionistischen Nationsprojekts mit sich, alle Juden der Welt in einer exklusiv-jüdischen Nation in Palästina zu vereinigen. Dabei wurden und werden nicht nur sehr verschiedene nationale jüdische Kulturen, zu aller erst die jiddische in Osteuropa, zerstört. Sondern es wurde auch der arabischen Gesellschaft eine tiefe Wunde zugefügt und ihr integraler jüdischer Bestandteil entrissen. Nicht zuletzt hat sich gezeigt, dass die Errichtung eines exklusiv jüdischen Staates nur auf Kosten der autochthonen Bevölkerung umgesetzt werden kann. Es scheint daher unmöglich einem demokratischen Staat eine nichtrassistische Grundlage geben zu wollen, ohne das Konzept der Umwandlung einer globalen Religion in eine Nation und ihre Zusammenfassung in einem Staat aufzugeben, zumal die de facto Unmöglichkeit der Konversion die Zugehörigkeit zu dieser Nation dem freien Willen entzieht.
„Jüdische“ Nation kann als Bezeichnung keinesfalls gewählt werden, denn die übergroße Mehrheit der Juden versteht sich als dem Judentum religiös verbunden, ist aber anderen Nationen zugehörig.
„Hebräisch“ würde die wesentliche nationale Gemeinsamkeit hervorheben, nämlich die Sprache – insofern die ursprünglichen nationalen Wurzeln schon ausgerissen wurden. Dieser Begriff hat sich bis heute aber nicht durchsetzen können.
Jedenfalls ist die Verwirklichung eines binationalen Staates davon abhängig, ob ein relevanter Teil der israelischen Gesellschaft mit dem Zionismus bricht und ein solches demokratischen Angebot annimmt. Wenn so ein Teil dieser Nation den Anspruch auf die Alleinvertretung des Judentums aufgibt, ist die Voraussetzung zur Rehabilitierung desselben und zur Koexistenz mit der autochthonen arabischen Religion und Kultur geschaffen, genauso wie ihre Verwandlung in eine nichtimperialistische demokratische Nation. Damit würde das Tor zur Entspannung und endgültigen Lösung des Konfliktes aufgestoßen. Sollte dieses historische Angebot abgelehnt werden, so wie es heute der Fall ist, wird es auch keinen binationalen Staat geben können. In diesem Fall würde, ähnlich wie in Algerien, ein neuer Staat, der aus einem antikolonialen Krieg hervorgehen und den Anspruch demokratisch zu sein stellen würde, zwar als Titularnation die arabische haben, aber Israelis, die mit dem Zionismus gebrochen haben, selbstverständlich volle Bürgerrechte zuerkennen.
Gänzlich unbehandelt blieb bisher die soziale Komponente. Denn als kolonialer Gegensatz ist der israelisch-palästinensische auch einer zwischen reichem Westen und armer Dritter Welt. Das südafrikanische Bespiel gemahnt eindringlich, dass formale Gleichstellung noch lange nicht reale bedeutet, solange die sozialen Unterschiede weiterbestehen. Das heißt, der Kampf um einen demokratischen Staat schließt auch den Kampf für soziale Gerechtigkeit und Gleichheit ein, der nur einen massiven Eigentumstransfer von Israelis zu Palästinensern bedeuten kann.
Nachdem die zionistische Bourgeoisie und der Imperialismus das niemals akzeptieren werden können, ist dies ohne ihren Sturz und die Zerschlagung ihres staatlichen Systems nicht denkbar. Aber auch die rudimentäre palästinensische Bourgeoisie hat daran kein Interesse. Daher hat sie bisher auch immer in der einen oder anderen Weise mit dem Zionismus kooperiert. Dieser Kampf wird und muss von den palästinensischen Unter- und Mittelklassen, den breiten Volksmassen geführt werden. Er kann in seinem Verlauf gar nicht anders als auch die Grundfesten des Kapitalismus selbst anzugreifen und sozialistische Maßnahmen zu setzen.
Doch das wesentliche Problem bleibt, dass die palästinensischen Volksmassen auf sich allein gestellt für diese gigantische historische Aufgabe zu schwach sind. Das Bild vom Kampf David gegen Goliath mag große mobilisatorische Wirkung haben, doch es weist noch nicht den Weg zur Schaffung eines historischen Subjekts, das die Kraft hat, Israel und die gesamte Macht des Imperialismus, herauszufordern.
Demokratische Föderation der Völker des Nahen Ostens
Auch der derzeitige Krieg gegen den Irak belegt eindringlich, wie wichtig und potentiell mächtig eine Vereinigung der Völker der Region gegen den Imperialismus sein könnte. Es ist nicht vordringlich das Öl, das Washington zur präventiven Aggression treibt. Es ist genau das vorbeugende Eingreifen gegen jeden Versuch der Selbständigkeit, der den Volksmassen ein Vorbild sein und sie zu mehr veranlassen könnte. Das ist der eigentliche Sinn des permanenten, globalen und präventiven Terrorkrieges der USA.
Im Herz eines vereinigten Nahen Ostens steht die arabische Nation, die aber nicht den altbekannten Fehler machen darf ihrerseits die verschiedenen kulturellen, religiösen und nationalen Minderheiten zu unterdrücken. Nur in dem man ihnen weitgehende Minderheitenrechte und Autonomie einräumt, können diese für ein freiwilliges Bündnis zum beiderseitigen Vorteil gewonnen werden. Doch hat die Selbständigkeit dort ihre Grenze, wo sie dem Imperialismus zur Intervention dient und sich die Minderheit offen auf seine Seite schlägt – so wie heute in Israel.
Ein demokratisches Palästina wird zentraler Bestandteil, ja Herzstück einer Nahost-Föderation sein, genauso wie der Kampf für diese gleichzeitig der Kampf für die Befreiung Palästinas ist. Denn nur, wenn sich die Unterklassen des Nahen Ostens vereinigen, können sie den Zionismus, den Imperialismus und seine arabischen Handlangerregime besiegen
Willi Langthaler
20. März 2003 (Beginn des Aggressionskrieges der USA gegen den Irak)
(1) Der britische Kolonialismus rottete die Einwohner der südlich von Australien gelegenen Insel Tasmanien durch die Verbreitung von verschiedenen Krankheitserregern vollständig aus.