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Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost

30. März 2003

Buchrezension

Noam Chomsky, Offene Wunde Nahost. Israel, die Palästinenser und die US-Politik, Europa Verlag, Hamburg 2002, 352 Seiten, 19.90 …€.

Endlich, so könnte man sagen, wurde das Buch „Fateful Triangle“ des renommierten Linguisten Noam Chomsky, Professor am Massachusetts Institute of Technology, ins Deutsche übersetzt; es erschien erstmalig 1983. Das Buch ist ein Klassiker. Leider fiel die Hälfte der Originalausgabe Kürzungen zum Opfer, weil sich vier Kapitel zu sehr mit der amerikanischen Israel- und Nahostpolitik beschäftigten. Schade, denn sie hätten dem Leser tiefe Einsichten in die einseitige Pro-Israel-Politik der USA gegeben, die für das Verständnis der aktuellen Lage sehr erhellend gewesen wären. In Retrospektive gelesen, sind auch die verbliebenen fünf Kapitel von einer unglaublichen Aktualität. Die meisten Einschätzungen und Bewertungen des Autors haben auch nach 19 Jahren noch Bestand. Welches Sachbuch kann dies schon für sich in Anspruch nehmen? Chomskys kritisiert nicht nur die US-amerikanische Außenpolitik, sondern auch die Politik Israels gegenüber den Palästinensern.

Die 35jährige Besatzungs- und Siedlungspolitik könne Israel nur deshalb aufrechterhalten, weil es von den USA zum großen Teil finanziert wird, so eine These des Autors. „Dieses pro-israelische Engagement verhindert die Möglichkeit einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts und jegliche Anerkennung elementarer Rechte für die Palästinenser.“ Im Kapitel über die „Vorgeschichte des Nahost-Konfliktes“ entwirft Chomsky eine historische Sichtweise, die der gängigen Geschichtsbetrachtung in Israel in zentralen Punkten widerspricht. So zitiert der Autor einige zionistischen Politiker, die einen Ausgleich mit der einheimischen arabischen Bevölkerung nicht unbedingt anstrebten und den Teilungsplan vom November 1947 nur aus taktischen Gründen akzeptiert hatten. Besonders deutlich erklärte dies David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident Israel, bereits 1937: „Wenn wir durch die Gründung des Staates zu einer starken Macht geworden sind, werden wir die Teilung aufheben und uns auf ganz Palästina ausdehnen.“

Für Chomsky ist der Hauptverantwortliche für die ganze Misere im Nahen Osten die USA und an zweiter Stelle erst Israel. Beide bilden sie die „Verweigerungsfront“ gegenüber den Unterprivilegierten.. „Im Hinblick auf die Palästinenser verfolgen Israel und die USA auch weiterhin das extreme Ausgrenzungsprogramm, das sie seit Anfang der siebziger Jahre betreiben.“ Für Chomsky ist es völlig klar, dass Israel das tut, was Washington will. Macht es sich da der Autor nicht zu einfach? Sind nicht die USA auch teilweise von Israel abhängig? Hatte nicht Netanyahu mit seiner renitenten Haltung mehrmals US-Präsident Clinton öffentlich düpiert? Ganz anders Sharon: Durch seine ideologische Nähe zu George W. Bush hat er enormen Einfluss auf die US-Politik gegenüber dem Irak. Das amerikanisch-israelische Verhältnis ist jedoch viel bunter und differenzierter als das Chomsky wahrhaben will.

Im Westen werden Rabin und Peres als Friedenspolitiker bezeichnet, die für einen Palästinenserstaat eingetreten sind. Die Unterschiede zwischen diesen beiden, Netanyahu und Sharon sind aber nur marginal, was die Eigenstaatlichkeit der Palästinenser anbelangt, wie der Autor behauptet: „Arbeiter- und Likudpartei streben gleichermaßen eine den südafrikanischen Bantusatans vergleichbare Regelung an, ohne damit gegen die Bestimmungen von Oslo I oder II zu verstoßen.“ Auch hier bedarf es der Erwähnung der Zwischentöne. Chomsky macht im Kapitel „Washingtons ´Friedensprozess`“ auf die Widersprüche und Ungereimtheiten dieses Prozesses aufmerksam. Für ihn war es die Fortsetzung der Okkupation im anderen Gewand. In keinem der Abkommen sind die nationalen Rechte der Palästinenser erwähnt und sie bedeuten für sie eine Katastrophe. „Das Abkommen von Oslo II und seine Folgen stellen mithin einen weiteren Triumph der amerikanisch-israelischen Verweigerungshaltung dar, die sich zwar vom Rest der Welt isoliert, aber über die Waffen und andere Hebel der Macht verfügt … Der Friedensprozess dient den Interessen seiner Architekten, während die Interessen der anderen höchstens eine Nebenrolle spielen.“

Chomskys Ausführungen sind direkt, frei von historischen Beschönigungen und relativierenden Rechtfertigungen. Er zeigt, wie groß die Diskrepanz zwischen Friedensrhetorik und Realpolitik im nahöstlichen Machtpoker ist. Wenn dem Autor eines gelungen ist, dann ist es die Lüftung des Schleiers, der sich um die Mythen des Nahostkonfliktes gelegt hat. Dass die Hegemonialmacht USA und Israel dabei in die Kritik geraten, liegt in deren Politik begründet. Das Buch ist ein besonders guter Ratgeber für Politiker und politische Analytiker, denen es zu oft an einer realistischen Bewertung Israels mangelt: Sei es aus historischen Gründen wie in Deutschland, sei es aus politischer Einseitigkeit wie in den USA. Chomsky hat eine ausgezeichnete Analyse einer der großen Tragödien nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt. Für jeden Nahost-Interessierten ein Muss.

Ludwig Watzal

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