Überlegungen zum Stimmungswandel angesichts der angloamerikanischen Aggression gegen den Irak
1 Wolkenkuckucksheim Neue Weltordnung
Der lange angekündigte Krieg gegen den Irak hat in breiten Teilen der Bevölkerung zu einer tiefsitzenden Desillusionierung und Frustration hinsichtlich des globalen politischen Systems geführt. Obwohl der Gang der Dinge abzusehen war, wollten viele einfach nicht glauben, dass der Neuen Weltordnung, die 1991 nach dem Krieg gegen den Irak ausgerufen wurde, auf diese Art, nämlich von innen, aus ihrem Herz selbst, der Todesstoß versetzt würde. Denn die Illusionen in die damals verkündeten universalen Werte, die sich anmaßten das Ende der Geschichte zu markieren, waren groß. Frieden und Entspannung, Demokratie und Menschenrechte sowie Prosperität durch den liberalen Kapitalismus waren im Blitz und Donner des Krieges der Heiligen Allianz 1991 offenbart worden. Der Versuch kollektiv Einfluss auf den Gang der Geschichte zu nehmen wurde pauschal als Totalitarismus verurteilt. Es war die Stunde des Triumphs des Kapitalismus, eine sich samten wollende Konterrevolution, die sich als vermeintliche Erfüllung der Verheißungen der Aufklärung tief in die Hirne der westlichen Intelligenz eingebrannt hat.
Als es 1994 im Mexiko zum zapatistischen Aufstand kam, wurde dieser zum Anlass für eine erste vorsichtige Kritik am ungebremsten Liberalismus genommen. Eine Kritik, die jedoch selbst im Rahmen dieses Systems verblieb – letztlich eine linke Variante des Liberalismus bildete. Diese Bewegung verbreiterte sich und wurde zur Antiglobalisierungsbewegung. Wie sehr sie jedoch an den Dogmen der Neuen Weltordnung festhielt, zeigte ihre Reaktion auf die Nato-Aggression gegen Jugoslawien 1999. Da ging es laut amtlicher und medialer Darstellung darum, die genannten „westlichen Werte“ gegen „Schurken und Barbaren“, die diese gefährdeten, zu verteidigen. Die humanitäre Militärintervention war geboren und verdeckte gekonnt die imperialistischen Machtinteressen, die dahinter steckten. Die Tatsache, dass es sich bei Milosevic um einen Linken handelte, dessen Regierung als einzige der kapitalistischen Konterrevolution in Osteuropa Widerstand entgegengesetzt hatte, sprach letztendlich nur gegen ihn – denn jedes Festhalten an den Zielen des einstmals als sozialistisch geborenen Jugoslawien (so rudimentär und deformiert dies auch immer sein mag) galt als Totalitarismus. Die nächste Etappe war der Ausbruch der neuen Intifada im Jahr 2000. Das geknechtete palästinensische Volk zeigte mit seinem Widerstand, dass es nicht bereit war einen israelo-amerikanischen „Frieden“ zu akzeptieren, der seine völlige Unterwerfung und Vernichtung als Nation impliziert hätte. Mit der vorbehaltslosen Unterstützung für die israelische Unterdrückungspolitik zeigte einerseits die amerikanische Weltordnung ihren kolonialen und imperialen Charakter. Es darf nicht unterschätzt werden wie sehr die von den USA gesponserte Entspannung in Nahost, in Mittelamerika und Südafrika ihr Image nach dem kalten und schmutzigen Krieg aufpoliert hatte. Andererseits stellte das palästinensische Volk unter Beweis, dass Widerstand möglich ist. Mit den chauvinistischen Konvulsionen im Gefolge des 11. Septembers konnte die USA ein letztes Mal einen weitgehenden Konsens für ihre Aggression gegen Afghanistan erzielen, obwohl die Überzeugungskraft ihrer Argumente deutlich abnahm. Dies rührte nicht so sehr von der Tatsache her, dass sie keinerlei Beweise für die Täterschaft Bin Ladens und Al Qaidas vorweisen konnten und es bis heute nicht können. Sondern vielmehr, dass sie es selbst waren, die den politischen Islam jahrzehntelang unterstützt hatten – insbesondere in Afghanistan gegen die UdSSR. Nun Demokratie und Menschenrechte ins Treffen zu führen, hatte nicht nur für viele Vertreter der universalen „westlichen Werte“, sondern selbst für jene des „christlichen Abendlandes“ einen mehr als schalen Beigeschmack. Zu sehr handelte es sich beim „Krieg gegen den Terror“ um einen mehr oder weniger offen deklarierten Rachefeldzug, um den verlorenen Mythos der Unverwundbarkeit wiederherzustellen. Erstmals standen auch medial die „nationalen Sicherheitsinteressen“ der USA im Vordergrund, ein Begriff der schon viel leichter als „imperialistische Machtinteressen“ zu dechiffrieren ist.
Die Tatsache, dass die „internationale Gemeinschaft“, sprich die anderen imperialistischen Staaten, ihre Verbündeten und die von ihnen abhängigen Staaten für den Krieg gegen den Irak ihr Plazet nicht gaben, bezeichnet das Ende des ganzen Zyklus der Neuen Weltordnung. Statt ewig hielt sie gerade einmal ein gutes Jahrzehnt. Die übergroße Mehrheit der europäischen Bevölkerung ist gegen den Krieg und begreift ihn zutreffend als Ausdruck amerikanischer Hegemonialbestrebungen. Die amerikanische Aggression hat den Traum von der universalen Durchsetzung der „westlichen Werte“ mittels des unter der Führung der USA vereinigten Westens zum Albtraum werden lassen.
2 Widersprüchlicher Pazifismus – Europa und die 68er
Doch die neu entstandene Stimmung in den breiten Massen sowie in der Intelligenz ist sehr widersprüchlich.
Besonders in Deutschland und Österreich dominiert in den breiten Mittelschichten eine pazifistische Grundhaltung, die sich letztendlich die vermeintlich goldene Zeit der Neuen Weltordnung zurückwünscht. Im Unterschied zu 1999 als Jugoslawien als Störenfried dieser Ordnung erschien, sind es aber nun die USA selbst, die sich von deren Beschützer zu ihrem Zerstörer gewandelt zu haben scheinen.
Dieser Pazifismus kann auf eine lange Formierungsgeschichte zurückblicken. Sie begann mit der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und dem vor allem in den Unter- und Mittelschichten weitverbreiteten bürgerlich-demokratischen Wunsch nach Frieden (im Gegensatz zum revolutionär-sozialistischen nach dem Ersten Weltkrieg). Zwar setzte sehr bald der Kalte Krieg ein, in dem die Bourgeoisie durch den unerhörten kapitalistischen Aufschwung die Gesellschaft über alle Schichten hinweg in antikommunistischer Funktion zu mobilisieren vermochte. Doch der bürgerliche Pazifismus blieb in Form der Ostermarschbewegung erhalten. Die Periode zwischen 1968 und 1989/91 sah einen tiefgreifenden Umbau dessen was Gramsci die Zivilgesellschaft nannte, des kulturellen Überbaus zum Erhalt des Kapitalismus. Der italienische Philosoph Costanzo Preve brachte es auf den Punkt: „Der Inhalt der 68er Revolte war eine antibürgerliche und philokapitalistische Erneuerung im sittlichen Bereich.“ (1) Ein Element dieses Umbaus, der institutionell vom Aufstieg der SPD geprägt wurde, drückte sich in der deutschen Ostpolitik aus, die statt des offenen Konflikts den Ausgleich propagierte, während sie dem Inhalt nach dennoch auf die bedingungslose Kapitulation der realsozialistischen Staaten abzielte. Es handelte sich um keine Revolution, sondern um den „Marsch durch die Institutionen“, um Reformtendenzen, die erst unter der Bedingung der Niederlage des Warschauer Paktes voll zum Durchbruch kommen konnten. In der Friedensbewegung der 80er Jahre gegen den Nato-Todrüstung der UdSSR kam es nochmals zur Frontstellung mit der Bourgeoisie. Nach 1991 eroberte die gewendete Linke dann nicht nur den Ideologieapparat, sondern selbst die Spitzen der Staatsmacht. Niemand verkörpert dieses historische Moment besser als Joschka Fischer. Ihrer letzten antikapitalistischen Elemente beraubt, wurden ihre Ideen von Frieden und Antifaschismus zur Staatsdoktrin erhoben und sogleich im Versuch am Balkan erneut Fuß zu fassen, einer praktischen Nutzanwendung zugeführt. Des Friedens, der Demokratie und des antifaschistischen Erbes Willen müsse man gegen den Hitler von Belgrad einen humanitären Krieg führen – auch das kann Pazifismus sein.
Konsequenterweise richten sich im Vorfeld des nun tobenden Krieges die Hoffnungen der Öffentlichkeit im wesentlichen auf der deutschen und französischen Regierung, der Aggressivität der USA Einhalt zu gebieten und sie wieder in die vermeintliche „Weltgemeinschaft“ der UNO zurückzuholen, der gemeinsam 1991 die Feuertaufe verliehen wurde. Diese Haltung steht keineswegs im Widerspruch zu jener von 1999, als es darum ging mit Waffengewalt gegen Jugoslawien vorzugehen oder auch nicht von 2001, wo es gegen den angeblich von Afghanistan ausgehenden „Terror“ ging. Diese Kriege wurden als friedenserhaltend wahrgenommen, denn sie verteidigten jene schon damals bedrohte und nun entzauberte Neue Weltordnung.
Es sei darauf verwiesen, dass die Größe der Mobilisierungen und das Ausmaß der Ablehnung des angloamerikanischen Krieges natürlich auch mit der Haltung der Regierungen und des Medienapparates im Wechselverhältnis steht. Das macht sich im Fehlen eines kapilaren politisch-organisatorischen Netzwerkes bemerkbar, dass noch in den 80er Jahren fähig war gegen den Medienapparat zu mobilisieren, während die heutigen Demonstrationen im wesentlichen auf diesen aufgebaut sind.
Die widersprüchliche Interessenslage der französischen und deutschen Bourgeoisie schränkt ihren Handlungsspielraum gegen den Krieg sehr stark ein. Ihre Oppositionsbestrebungen sind verurteilt auf diplomatischer Ebene zu verbleiben. Die so einfach und selbstverständlich erscheinende Wahrnehmung der nationalen Souveränität, die die Sperrung des Luftraumes oder der US-Einrichtung auf dem eigenen Hoheitsgebiet beinhalten würde, darf nicht einmal gedacht werden. Die europäischen Mittelmächte sind zur Aufrechterhaltung des globalen Kapitalismus auf die Schirmherrschaft der USA angewiesen, so drückend sie ihnen auch erscheinen mag. Im zu erwartenden Gezerre um die Errichtung eines Besatzungsregimes wird dieser Widerspruch voll zu Tage treten. Denn einerseits wollen die Verweigerer nicht gänzlich vom im Irak von den Amerikanern in Beschlag genommenen Beute ausgeschlossen werden, andererseits besteht die Eintrittskarte zum großen Fressen in der nachträglichen Legitimation der Aggression durch die UN.
Zurück zur Massenstimmung: Die verbreitete persönliche Schuldzuweisung an George W. Bush ist ebenso Ausdruck des fortbestehenden Vertrauens und auch der Hoffnung in das Weltsystem. Bush sei primitiv und ungebildet. Die aggressive Linie sei der Privatkrieg seiner Beraterclique. Quasi aus einem historischen Betriebsunfall heraus, hätte eine protestantisch-fundamentalistische Sekte die Zentren der Macht usurpiert und könne wie müsse von dort wieder entfernt werden. So könne der „normale“ Lauf der Dinge wieder hergestellt werden. Unter Clinton wäre das jedenfalls nicht passiert. Diese Sicht der Dinge vergisst, dass in den Vereinigten Staaten die Ergebnisse der Wahlen genauso wenig zählen wie die Nuancen zwischen Parteien selbst. Es ist der militärisch-industrielle Komplex, die große Bourgeoisie, die über verschiedenste Kanäle – von denen das Lobbying nur die bekannteste der vielen Form ist – direkten Einfluss auf die Administration nimmt. Die nun an der Spitze des Staates befindlichen Neokonservativen übten bereits unter Clinton erheblichen Druck aus und verfügten über einen nicht zu unterschätzenden Rückhalt im US-Regime. Selbst wenn Bush den zweifelhaften Wahlsieg nicht davongetragen hätte, kann davon ausgegangen werden, dass die US-Oligarchie nach dem 11. September jenen Kräften, die offen ihre Opposition gegen die US-Weltherrschaft proklamierten, den Krieg erklärt hätten. Vielleicht hätten sie einen anderen Ton gewählt und mehr Wert darauf gelegt, die Verbündeten nicht vor den Kopf zu stoßen. Aber in der Substanz ist die Politik Bushs keineswegs die Konzeption eines ver- und entrückten religiösen Eiferers, sondern die durchaus rationale Interessensvertretung einer Bourgeoisie, die gegen die zunehmenden Spannungen in ihrem globalen System nur mehr auf das Mittel der Gewaltanwendung zurückgreifen kann. Es ist der Versuch einem Zusammenbruch vorzubeugen.
Auch wenn der irakische Widerstand überraschend stark erschien, so war der Krieg unter militärischen Gesichtspunkten dennoch nicht zu gewinnen. Zwar werden die Besatzer Schwierigkeiten haben ein stabiles Regime zu errichten, während sie die Spannungen und Konflikte in der Region nur weiter anheizen. Im Westen wird der Krieg trotz allem als Sieg dargestellt werden können. Angesichts dieser Verhältnisse erleben die europäischen Massen sowie die Intelligenz ihre gänzliche Handlungsunfähigkeit, ihre Ohnmacht. Diese Impotenz wird sich in zunehmender Abneigung gegen die Vorherrschaft der USA ausdrücken, in einem Anwachsen des Antiamerikanismus, wie er bereits heute von den Medien beklagt wird.
3) Linksliberaler Antiamerikanismus
Bis vor nicht all zu langer Zeit waren nicht nur die europäischen Bourgeoisien und ihre politischen Apparate aufs engste mit den Vereinigten Staaten verbunden, sondern auch die dominante linksliberale Intelligenz sah die USA als Garanten der Stabilität der Weltordnung an, die sie grundsätzlich befürwortete. Selbst jene Strömungen, die sich in Form der Antiglobalisierungsbewegung gegen den entfesselten Liberalismus zur Wehr setzten, akzeptierten in gewisser Weise die amerikanische Vormachtstellung.
Globalisierung bezeichnet in letzter Instanz die Vorherrschaft der USA, der amerikanischen Nation, in allen Belangen, sei es wirtschaftlich, politisch, militärisch oder auch kulturell. Zum Unterschied zu anderen Nationen hat der amerikanische Nationalismus, der Amerikanismus, nicht nur einen universalen Anspruch, sondern hat es auch geschafft diesen zu vermitteln. Am „amerikanischen Traum“ könne jeder teilhaben. Nicht nur indem man ins „Land der großen Freiheit“ auswandere, sondern auch in dem man den „amerikanischen Werten“ auf der ganzen Welt folge und Geltung verschaffe. Der „American way of life“ sei überall erstrebenswert. Man brauche nur das freie Spiel der Marktkräfte zulassen, so werde sich der Bessere und Tüchtigere zum Nutzen der gesamten Gesellschaft durchsetzen.
Selbst von der Antiglobalisierungsbewegung wird die vermeintliche Überwindung der Nationen, des Nationalismus als Fortschritt bewertet. Sie meint damit der Marx´schen Idee ihrer Aufhebung näher gekommen zu sein und sieht dabei nicht, dass es sich um die Herrschaft einer einzigen Nation, namentlich der Vereinigten Staaten von Amerika, handelt, deren universalistischer Anspruch diese Illusion erst ermöglicht. Der Internationalismus wird in positivistischer Weise von seinem Ziel, dem Sturz der Bourgeoisie, entkoppelt. Gleichzeitig erhält der Kapitalismus gar einen progressiven Charakter, da er scheinbar die nationalen Grenzen einreißt. Daher ginge es nicht darum, die Globalisierung als ganze zu bekämpfen, sondern ihr eine eben solche von unten gegenüber zu stellen. Das ist der Kerngedanke der Theorie Toni Negris, die ihre Popularität der Tatsache verdankt, dass sie die Quintessenz der Antiglobalisierungsbewegung auf den Punkt bringt. Politisch konkret bedeutet das nichts anderes als den Amerikanismus zu akzeptieren, ihn aber gleichzeitig sozialdemokratisch reformieren zu wollen. Der von den USA entfesselte permanente Terrorkrieg hat dieses „schwache Denken“ wie es Costanzo Preve nennt, aus seinem Wolkenkuckucksheim auf den Boden der harten Realität geholt. Auch Negri und seine Anhänger scheinen in diese Richtung zu schwenken.
Die veränderten Verhältnisse geben Anstoß für eine neue Strömung innerhalb der Intelligenz. Bisher wurde vom Linksliberalismus den USA die Aufgabe zugedacht, jene „westlichen Werte“ zu verteidigen, die im Gefolge der Ereignisse von 1989/91 als Endergebnis eines langen und von Wechselfällen und Rückschlägen geprägten Prozesses der Aufklärung galten. Angesichts des augenfälligen Verstoßes der Weltenlenker in Washington gegen die von ihnen selbst ausgerufene Weltordnung, geht nun das Staffelholz der Zivilisation wieder in die Hände des „alten Europa“ über. „Die Ideen der Aufklärung mögen vor zweihundert Jahren weitergehend verwirklicht gewesen sein (…), mittlerweile sind die USA Nachzügler sogar ihrer eigenen Ideen geworden: (…) ein Entwicklungsland der Aufklärung.“ (2) Robert Menasse zählt sinngemäß folgendes Sündenregister auf: Europa sei friedlich, die USA gewalttätig. Europa sei rechtsstaatlich aufgebaut und respektiere das Völkerrecht, die USA wären geprägt von einem kasuistischen Rechtssystem mit bisweilen barbarischen Urteilen. Auf internationaler Ebene würden sie nur mehr das Faustrecht anerkennen. Europa habe den Nationalismus überwunden und stelle sich die Aufgabe die Nationen zu verschmelzen, während die USA „Politik noch immer nur als nationale Interessenspolitik“ begriffen. Europa kenne den sozialen Ausgleich, die USA nur die Klassengegensätze.
Selbst die heilige Kuh der linksliberalen Totalitarismustheorie, die Befreiung vom Faschismus durch Amerika, wird zwar noch nicht geschlachtet, aber doch relativiert. „Die USA ließen den Franco- und den Salazar-Faschismus ebenso intakt, wie sie hochrangige Nazis schützten, soweit sie ihnen im Kalten Krieg nützlich waren.“
In diesen Beobachtungen sind durchaus richtige und nur all zu wahre Elemente enthalten. Tatsächlich hat die europäische Bourgeoisie aus Angst vor dem Kommunismus einige Forderungen der Aufklärung erfüllt, oder besser, sich ihnen zumindest angenähert, während die USA dies zum Herrschaftserhalt nicht notwendig hatten. Doch zunächst einmal vergisst diese Sichtweise, dass das Maastricht-Europa alles tut, um die liberalen Dogmen in die Praxis umzusetzen. Die Angriffe auf die sozialen Errungenschaften sowie die autoritäre Panzerung des Staates gehen zügig voran. Die EU verhält sich dabei päpstlicher als der amerikanische Papst. Ganz abgesehen von der intendierten Militarisierung der EU, die unter gewissen Umständen ein Gegengewicht gegen die erdrückende Übermacht der USA darstellen könnte, aber im Kern selbst auf die Absicherung imperialistischer Interessen zielten, namentlich jener Frankreichs in Afrika und jener Deutschlands in Südosteuropa. Doch viel wichtiger ist die grundsätzliche Unterstützung, die der Linksliberalismus weiterhin dem imperialistischen Kapitalismus gibt. Statt der amerikanischen Bourgeoisie ist es nun die europäische in der institutionellen Form der EU, der die Aufgabe der Verwirklichung der Aufklärung übertragen wird.
Der Grüne Peter Pilz, der sich seinerzeit heftig für das österreichische Mitmischen auf der Seite Deutschlands gegen Jugoslawien stark gemacht hatte, geht diesen Weg noch radikaler. In seinem Buch „Mit Gott gegen alle. Amerikas Kampf um die Weltherrschaft“ zählt der ehemalige Trotzkist schonungslos die Verbrechen des US-Imperialismus auf und lässt kein gutes Haar am „Hort der Freiheit“. Die logische Konsequenz daraus sei, dass Europa, die EU selbst die militärischen Kapazitäten entfalten müsse, die zur Weltpolitik notwendig seien. Die Alternativen: „europäische Sicherheitsgemeinschaft oder Nato“. (3) Europa also als der humane und aufgeklärte Imperialismus.
Noch deutlicher als in der Intelligenz, die trotz allem in ihrer wirksamen Mehrheit noch immer proamerikanisch bleibt, ist der Stimmungswandel in den Tiefen der Unter- und Mittelschichten. In der Kriegssituation steht das Moment eines gesetzten, bürgerlichen Pazifismus im Vordergrund, eine moralische Entrüstung über die USA, die die Weltordnung gefährden von der man selbst profitiert. Das mischt sich mit einem Unbehagen gegen den ungezügelten Liberalismus und dem Wunsch nach Erhalt der gefährdeten sozialen und demokratischen Errungenschaften. Gleichzeitig gibt es einen Reflex der Suche nach einer eigenen nationalen Identität, die auch den bekannten kulturchauvinistischen Aspekt enthält. Meist gegen die Arbeitimmigranten und die Dritte Welt im allgemeinen richtet, kann er sich aber auch an den USA abstoßen. Die „westlichen Werte“ von 1991 kombiniert mit dem sozialdemokratischen regulierend eingreifenden Sozialstaat werden nun der realen politischen Praxis der USA entgegengestellt, die ihre eigenen Proklamationen zu offensichtlich mit Füßen treten. So handelt es sich um eine Melange fortschrittlicher und reaktionärer Momente die sich in einem neuen Antiamerikanismus bündeln. An beiden Momenten kann von unterschiedlichen angesetzt werden. Die Resultante ist nicht im vornherein ausgemachte Sache.
Am Phänomen FPÖ kann gezeigt werden, wie eine reaktionäre Kraft die Stimmung zu instrumentalisieren versuchte und an welche Grenzen sie stieß. Virtuos machte sich Haider zum Sprachrohr dieser Stimmung, Reaktionäres und Fortschrittliches vermischend, wechselnd, austauschend. Fast avantgardistisch griff er die Irak-Frage auf, damals noch gegen die Mehrheit, heute mit seinem Buch „Zu Gast bei Saddam im Reich des Bösen“ schon viel näher am Mainstream. Die zum Linksliberalismus mutierte Linke erwies sich unfähig und unwillig das Phänomen zu verstehen und hing ihm das Etikett „rechtsradikal bis neofaschistisch“ um. Tatsächlich handelte es sich zumindest teilweise um einen widersprüchlichen Protest gegen den Liberalismus der von den „Linken“ selbst exekutiert wurde. Um sich von der kapitalistischen Abbaupolitik zu entlasten kam es letzteren gelegen, sich selbst als antifaschistisch zu bezeichnen und den Protest als protofaschistisch abzutun. Doch das wirkliche Problem Haiders war, das er und seine Partei – sowie ein guter Teil der Anhängerschaft – im Kern bürgerlich-kapitalistisch bleiben, an die Regierungsmacht gelangt den Liberalismus trotz noch so gekonnten Doppelspiels fortsetzten und setzen und so die Glaubwürdigkeit als plebejische Partei verloren. Letztendlich hätte die Haiderei nur überleben können, wenn sie bereit gewesen wäre sich vom bürgerlich-kapitalistischen Kern abzuspalten und den Schritt zum Linkspopulismus gemacht hätte, vielleicht kombiniert mit westlichem Kulturchauvinismus gegen Arbeitsimmigranten.
4) Antiamerikanismus und Antiimperialismus
Der neue Antiamerikanismus enthält also durchaus einige fortschrittliche Elemente: ganz offensichtlich eine Ablehnung des imperialistischen Krieges gegen den Irak sowie in der Tendenz eine Opposition gegen die globale Vorherrschaft der USA, die der einzige Garant des kapitalistischen Weltsystems sind. Eine Verteidigung sozialen und demokratischer Errungenschaften, wie sie den Unter- und Mittelklassen in den letzten fünfzig Jahren in Europa zugestanden wurden – und natürlich gleichzeitig auch zu ihrer politischen Zähmung und Einbindung gedient haben.
Während einfache soziale und demokratische Forderungen unter den heutigen Bedingungen kein ausreichend antagonistisches Moment enthalten und in der einen oder anderen Form notwendig im sozialdemokratisch-linksliberalen Sumpf versinken, das Roll-back der Bourgeoisie etwas zu dämpfen, so verändert sich ihr Charakter wesentlich, wenn sie in einen antiamerikanischen politischen Rahmen eingebettet werden. Insofern als die Bourgeoisie sowie ihr politischer und zivilgesellschaftlicher Apparat sowohl in der rechts- wie auch in der linksliberalen Variante in der Substanz proamerikanisch bleiben müssen, enthält der Antiamerikanismus potentiell ein jakobinisch-antagonistisches Element, das von einem antiimperialistischen Kern organisiert und geführt werden kann. Während der reine Antiimperialismus heute zur Existenz als kleine Minderheit verurteilt bleibt, kann er sich in Form des Antiamerikanismus popularisieren, verbreiten, sich eine Massenbasis schaffen. Über eine längere Periode kann sich auf diesem Weg wieder ein antagonistisches antikapitalistischen Subjekt in Europa etablieren.
5) Linke Widerstände gegen den Antiamerikanismus
Dagegen werden auch von Seiten jener, die sich als antiimperialistisch oder antikapitalistisch verstehen und sich an der Bewegung gegen den Irak-Krieg beteiligen, immer wieder Einwände ins Treffen geführt. So auch auf dem „Kongress gegen Krieg und Embargo“ in Wien am 28./29. März.
a) Es könne nicht darum gehen, verschiedene europäische Imperialismen oder gar einen vereinigten EU-Imperialismus zu fördern oder zu unterstützen. Jene schickten sich an ihre eigenen, ebenso imperialistischen Interessen gegen die USA zu vertreten und würden, in der Folge oder wenn sie könnten gleiche Methoden anwenden.
b) Mit dem Antiamerikanismus würde man besonders in Deutschland und Österreich den alten profaschistischen Revanchismus erwecken.
c) Der Antiamerikanismus spaltete die europäische und amerikanische Arbeiterklasse.
In den ersten zwei Argumenten liegen wahre Momente nur erscheinen sie im Gesamtkontext untergeordnet, während der dritte Einwand von einer dogmatischen Orthodoxie stammt, die zur praktischen Politik unfähig ist.
a) Die europäische Bredouille
Nach 1991 im Taumel der Wiedervereinigung zettelte Deutschland die Zerschlagung Jugoslawiens an und versuchte auf eigene Rechung den ehemaligen südosteuropäischen Hinterhof zurückzugewinnen. Tatsächlich erschien es, als wolle die BRD wieder Großmachtpolitik gegen die Interessen der Verbündeten machen. Denn diese hatten zuvor Jugoslawien den „normalen“ Gang der kapitalistischen Konterrevolution zugedacht, die den Erhalt der territorialen Integrität Jugoslawiens vorgesehen hätte.
Als zu stark und kräftig erwies sich indes der jugoslawisch-serbische Widerstand gegen die deutsche Intervention und deren lokale Verbündete. Spätestens ab 1995 mit dem Krieg in Bosnien und Kroatien musste Deutschland die Federführung an die USA abgeben, deren militärisches Eingreifen einzig die Situation retten konnte. Die Nato-Aggression von 1999 und der darauffolgende Putsch gegen Milosevic zementierte die amerikanische Vorherrschaft gänzlich. Europa musste sich eingestehen, dass es zur Durchsetzung seiner ureigenen imperialistischen Interessen der amerikanischen Kriegsmaschine bedürfe.
Der Krieg gegen Afghanistan reproduzierte diese Verhältnisse nicht nur, er trieb sie auf die Spitze. Ausgehend vom gemeinsamen Interesse den arabisch-islamischen Widerstand gegen die imperialistische Weltordnung niederzuhalten, legten die Verbündeten nicht nur zum wiederholten Mal den Treueid gegenüber ihren Führern jenseits des Atlantiks ab. Wohl oder übel blieb ihnen nichts anderes übrig als den Rachefeldzug der gedemütigten Supermacht zu unterstützen, der augenfällig nicht mehr so sehr auf die gemeinsamen imperialistischen Interessen, sondern vielmehr auf ihre Suprematie abhob. Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung wurde der permanente, präventive und globale Krieg gegen jegliche Opposition zur amerikanischen Weltordnung ausgerufen.
Konnten die Taliban ohne größere Gefahr rituell geschlachtet und mit billigem afghanischen Blut die Ehre der USA wiederhergestellt werden, so verfolgte das US-Regime von Anfang an die Niederwerfung seines Erzfeindes im Zweistromland. Doch nun ergab sich eine andere Interessenskonstellation: Der Irak stellte keine Bedrohung für europäische oder gar russische Interessen dar. Im Gegenteil setzte Bagdad seit Jahren auf die Kooperation mit jenen, um ein Gegengewicht zur schleichenden Erdrosselung durch die USA zu schaffen. Bagdad unterzeichnete Verträge die den Partnern in spe reiche Geschäfte vor allem auch im Petroleum-Sektor versprachen. Im Jahr 2000 stellte der Irak die Fakturierung des Öls sogar auf Euro um. (4) Für den Architekten des Nahen Ostens hingegen, sah und sieht die Sache anders aus. Neben dem bekannten Interesse an der direkten und alleinigen Kontrolle über die irakischen Ölreserven geht es in erster Linie um den irakischen Widerstand gegen das amerikanische „Grand design“ der Region, gegen die pax americana, die die Araber gegenüber der amerikanisch-zionistischen Aggression gespalten hält und sie angesichts der wirtschaftlichen Ausplünderung zu ohnmächtigen Zusehern degradiert. Mit der Beibehaltung der vollständigen Verstaatlichung der Ölreserven sowie der Opposition gegen die Normalisierung mit Israel sicherte sich der irakische Baathismus den ersten Platz an der Spitze der Achse des Bösen.
Der Krieg soll am stärksten und unabhängigsten arabischen Staat ein Exempel statuieren wie mit arabisch-islamischen Widerstand verfahren werden wird. Der sich in den Volksmassen zusammenbrauende Gewittersturm soll präventiv eingeschüchtert und zerschlagen werden bevor er die gesamte Region in Flammen zu versetzen vermag. Zweitens wird den unterdrückten Völkern und Nationen der ganzen Welt signalisieren, dass Rebellion angesichts der drückenden amerikanischen Übermacht zwecklos sei und drittens soll den Partner-Rivalen ein Schuss vor den Bug setzt werden. „Wir sind die Herren im Haus, wir kommandieren und alle anderen haben sich unterzuordnen.“
Wenn die Ablehnungsfront keinen Einspruch gegen den Krieg erhoben hätte, so wäre das einer Legitimation und Festigung der monopolaren Weltordnung gleichgekommen, wie sie von der Sterne-und-Streifen-Nation erstrebt wird. Versuchen musste es Chirac auch wenn er lediglich zahnlose diplomatische Mitteln zum Einsatz bringen konnte. Denn allein die Sperrung des Luftraumes hätte ein derartig tiefes Zerwürfnis mit den USA bedeutet, das Frankreich, Deutschland und Russland sich nicht leisten konnten und wollten. Schließlich sind sie Teil des kapitalistischen Weltsystems, dessen Stabilität einzig von den USA gesichert werden kann.
Auf kurze und mittlere Frist ist weder eine einzelne Nation, noch Bündnisse wie die EU in der Lage den globalen Führungsanspruch der USA in Frage zu stellen, geschweige denn herauszufordern. Dazu fehlen auf allen Ebenen die Voraussetzungen, auf der militärischen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen. Die Vorherrschaft der USA ist durch zwei epochale Weltkriege etabliert worden. Nur die Sowjetunion konnte die Aggressivität der führenden imperialistischen Macht für eine bestimmte Zeit lang eindämmen. Die USA werden ihr Imperium niemals freiwillig aufgeben und haben zu dessen Aufrechterhaltung den permanenten, präventiven und globalen Krieg ausgerufen. Nur wenn sie diesen verlieren, können sie vom Sockel gestoßen werden. Den besorgten zweitrangigen Mächten geht es also nicht um ihren eigenen Führungsanspruch, sondern darum, nicht völlig entmündigt zu werden – das meinen sie, wenn sie von einer multipolaren Welt sprechen. Auf die amerikanische Sicherung des kapitalistischen Weltsystem kann und will keine dieser Mächte verzichten. Darum handelt es sich um untergeordnete Widersprüche, die keinesfalls antagonistischen Charakter haben.
Besonders realitätsfern ist die Einschätzung, dass die BRD offen gegen die USA rebellieren würde und den Westmächten wie schon zwei mal zuvor den Rang abzulaufen versuchten. Deutschland ist politisch wie militärisch ein Zwerg. Trotz der formalen Zurückgewinnung der nationalen Souveränität 1991 stehen von den rund 100.000 amerikanischen Truppen in Europa (5), der Großteil davon in der BRD (6). Die Geschichte schließt eine Neuauflage der Vereinigung Europas unter offener deutscher Vorherrschaft aus. Die EU, die vielfach als ein solches Projekt interpretiert wird, ist nicht nur angesichts des Irak-Krieges zutiefst gespalten. Ihre Intention war von Anfang an ambivalent. Natürlich versuchte man wirtschaftliche und politische Macht zu gewinnen, doch die wirkliche Gemeinsamkeit blieb immer, dass dies unter der Schirmherrschaft der USA zu geschehen hätte. Die Idee des paneuropäischen Flügels des Linksliberalismus ist also im Rahmen der EU zum Scheitern verurteilt. Um den USA wirklich etwas entgegen setzen zu können müsste ein Bündnis mit Russland und eventuell mit den aufsteigenden Mächten China und Indien angestrebt werden. Dies mag in einigen avantgardistischen Köpfen herumspucken, eine Strömung unter den Herrschenden inspiriert sie jedenfalls nicht.
Unter diesen konkreten Bedingungen, wo sich im Gegensatz zur Zeit bis zum Zweiten Weltkrieg eben nicht zwei halbwegs gleichwertige imperialistische Blöcke gegenüber stehen, können die Risse in der amerikanischen Vorherrschaft, Spaltungen und Konflikte nur die Schwächung des imperialistischen Systems als ganzes bedeuten. Aus antiimperialistischer Sicht ist die Multipolarität der Monopolarität vorzuziehen, wobei das keineswegs impliziert, dass man die kleineren Imperialisten gegen die USA unterstützt. Die französische oder deutsche Opposition gegen den Krieg ist aber sehr wohl zu einzufordern – wie sie sich in der Forderung nach dem UN-Veto ausdrückt –, denn sie stört den imperialistischen Krieg.
b) Nazi-Altlasten
Zwar ist der Alt- und Neufaschismus angesichts des alles dominierenden Liberalismus eine Marginalie, doch werden vor allem in den älteren Bevölkerungsteilen revanchistische Stimmungen tradiert. In ähnlicher Weise ist der Antisemitismus als Altbestand präsent. In Österreich haben kryptoprofaschistische Ideologen über die Kronenzeitung die Möglichkeit Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen.
Ein nicht zu unterschätzender moderner Faktor, der dieser Strömung Nahrung zuführt, ist der richtiggehende Missbrauch am antifaschistischen Erbe für die Legitimation des Linksliberalismus und Amerikanismus, der dessen plebejische Opfer und Gegner dazu verleitet, revanchistischen Ideen ein offenes Ohr zu leihen.
Doch ist die durchgängige Ablehnung des deutschnationalen Revanchismus durch die herrschende Klasse und ihren zivilgesellschaftlichen Apparat festgeschrieben – beim proeuropäischen Liberalismus oft noch mehr als beim konservativ-proamerikanischen.
In den Unter- und Mittelschichten ist der Deutschnationalismus unpopulär, während es einen weitverbreiteten demokratisch-antifaschistischen Konsens gibt. Jörg Haider hat das verstanden und versteckt seine einschlägige Vergangenheit. Der Antiamerikanismus wird mehrheitlich sozial, demokratisch und antiliberal aufgeladen und keineswegs faschistisch, soviel die Kronenzeitung dafür auch schreiben mag. Analog dazu richtet sich der moderne Chauvinismus nicht mehr so sehr gegen Juden, sondern gegen Arbeitsimmigranten, heute insbesondere Moslems und Araber.
Zusammengefasst besteht also aus zwei Gründen keine reale Gefahr in der antiamerikanisch-revanchistischen Strömung: einerseits wird sie von der Bourgeoisie grundlegend abgelehnt und ist daher von der Macht ausgeschlossen und andererseits ist zumindest die Altnazirhetorik für die Massenstimmung – bis auf wenige regionale Ausnahmen – ungeeignet.
Die Gefahr für antiimperialistische Kräfte besteht als vor allem darin, das Feld des Antiamerikanismus modernen neorevanchistischen Kräften zu überlassen, die sich von ihrem ideologischen Ballast befreien, Wege finden den antiliberalen Unmut aufzugreifen und sich als radikale antagonistische Bewegung darstellen.
Im Grunde haben die antiimperialistischen und antikapitalistischen Kräfte die besseren Karten den entstehenden Antiamerikanismus in ihre Richtung zu kanalisieren. Dazu bedarf es des völligen und vollständigen Bruches mit der in Liberalismus verwandelten Linken.
c) marxistische Orthodoxie
Grundproblem der orthodox-marxistischen Restbestände verschiedenster Provenienz ist die Abstraktheit der Begriffe, die der realen Gesellschaft aufgezwungen, ihr übergestülpt werden, ohne dass sie diese Realität in ihrer Widersprüchlichkeit und ihren Veränderungen erfassen könnte. Sie gehen davon aus, das der Nationalismus im allgemeinen die Arbeiterklasse im allgemeinen spalten würde. Immer und überall.
Sie sehen dabei nicht, dass sich heute das Zentrum, das Herz des sozialen Konfliktes, den Marx richtig als den Motor der Geschichte bezeichnete, zu jedem zwischen Imperialismus und unterdrückten Völkern verschoben hat. Aus verschiedensten Gründen hat sich seine politische, ideologische, kulturelle aber auch soziale Form verändert, weg vom Paradigma des Industriearbeiters. Dennoch handelt es sich beim Kampf der unterdrückten Völker, Nationen und Staaten um nationale Selbstbestimmung in letzter Instanz um einen Klassenkonflikt.
Die westliche Arbeiterschaft, die Unter- und Mittelschichten im allgemeinen müssen politisch nach ihrer Stellung in dieser für die Weltgeschichte und auch für den Kampf um den Sozialismus entscheidenden Auseinandersetzung bewertet werden. Bush paraphrasierend: Wer mit den Verdammten dieser Erde ist, ist potentiell antikapitalistisch, wer sie nicht unterstützt, ist proimperialistisch – ganz gleich welcher sozialen Schicht er zugehörig sein mag. Der Antiamerikanismus erscheit dabei vor allem in der „Dritten Welt“ als die popularisierte Form des Antiimperialismus.
Der antiimperialistische Nationalismus gegen die USA und ihre Verbündeten ist also die konkrete Form der Vereinigung der unterdrückten Klassen, der einzige Internationalismus, der diesen Namen verdient, während der falsche Internationalismus, die nationalen Befreiungskämpfe im Namen eines Internationalismus der Herrschenden ablehnt, die sich allesamt hinter die USA und den Amerikanismus gestellt haben.
Ist nicht Europa ein Sonderfall, da es ja selbst imperialistisch ist? Ja, doch Europa ist hinsichtlich des globalen Kampfes gegen den US-geführten Imperialismus untergeordnet. Fällt dieser so sind alle imperialistischen Mächte gefährdet, weswegen die europäischen Bourgeoisien in der Substanz auf die USA angewiesen bleiben. Der imperialistische Charakter der europäischen Gesellschaft gibt dem Antiamerikanismus hier einen widersprüchlichen Charakter. Dass er fortschrittlich und letztlich antiimperialistisch wird, muss er eben mit sozialen und demokratischen Forderungen und vor allem mit der Unterstützung jeglichen antiimperialistischen Widerstands in der „Dritten Welt“ verbunden werden. Ein kapitalistischer Flügel des Antiamerikanismus ist allerdings unvermeidlich, sei es nun linksliberal-paneuropäisch oder neofaschistisch-großdeutsch oder in sonstiger denkbarer Konstellation.
Der Antiamerikanismus bleibt so lange bedeutungsvoll, solange die amerikanische Gesellschaft im wesentlichen als einheitlicher Block erscheint und auch als solcher handelt. Wir unterstützen zwar mit ganzem Herzen die amerikanische Anti-Kriegsbewegung und vor allem die antiimperialistischen Kräfte in ihr, doch das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie keinen Einfluss auf den Gang der Ereignisse hat. Wenn allerdings, die amerikanische Gesellschaft tatsächlich von tiefen politisch-sozialen Gegensätzen, Klassenkämpfen zerrissen würde, wenn es zwei Amerikas gäbe, so wie während der Weimarer Republik die deutsche Gesellschaft da facto in zwei Teile gespalten war, erst dann könnte sich der Zugang ändern. Doch das ist nicht abzusehen.
Willi Langthaler, 6. April 2003
1 Junge Welt, 15.1.2003
2 Robert Menasse, Der Standard, 22./23.3.2003
3 Peter Pilz, Der Standard, 29./30.3.2003
4 Paper tiger, firey dragon, Andre Gunder Frank, www.rrojasdatabank.org/frank01.htm
5 Der Spiegel, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,234536,00.html
6 Washington Times, www.washtimes.com/national/20030212-89728.htm