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Die Notwendigkeit der Selbsterkenntnis

29. Juni 2003

Kritische Bemerkung zum Österreichischen Sozialforum (ASF) und der Erklärung der sozialen Bewegungen im Anschluss an das ASF

Das vom 29. bis 31. Mai in Hallein veranstaltete 1. Österreichische Sozialforum kann für sich in Anspruch nehmen mit seinen – laut eigenen Angaben – 1.500 Teilnehmern ein Festival gewesen zu sein, das die österreichische Linke in ihrer übergroßen Mehrheit zusammengebracht hat. Im legitimen Enthusiasmus über diese, im österreichischen Rahmen, linke Großveranstaltung liegt aber gleichzeitig das grundlegende Problem des Österreichischen Sozialforums und seiner Träger: eine falsche Einschätzung der politischen Situation in Österreich, des eigenen Standortes und der eigenen politischen Rolle.

Diese post factum offensichtlich falsche Standortbestimmung liegt der Erklärung von Hallein „Soziale Rechte verteidigen und für eine andere Welt eintreten!“ zugrunde: „Mit der Politisierung der Gesellschaft durch die Kampfmaßnahmen der Gewerkschaften und den Mobilisierungen der neuen sozialen Bewegungen, weltweit und in Österreich, fand das erste ASF an einem Wendepunkt statt.“ Eine dreifache Fehldiagnose:
Zum Ersten ist es reichlich euphemistisch die Aktionen des ÖGB gegen die Pensionsreform als „Kampfmaßnahmen“ zu bezeichnen, wenn diese nach, wohl nur für Österreich seit 50 Jahren einzigartigen, Halb- bzw. Eintagesstreiks selbstzufrieden eingestellt wurden ohne auch nur irgend ein substanzielles Zugeständnis erreicht zu haben.
Zum Zweiten zeigten die „Mobilisierungen der neuen sozialen Bewegungen“ – womit wohl die Anti-Kriegs-Demonstrationen gemeint sind – dass diese Bewegungen eine, angesichts ihrer oft spektakulären Masse, tragische politische Wirkungslosigkeit gegenüber dem neoliberalen Staat und der imperialistischen Weltpolitik hat. Um so mehr in Österreich, wo unmittelbar mit dem Sieg der USA und der illegalen kolonialistischen Besatzung des Irak jegliche oppositionelle Regung erlahmte.
In diesem Kontext also drittens von einer „Politisierung der Gesellschaft“ zu sprechen ist schlicht und einfach fern der österreichischen Wirklichkeit. Der – positiv im Sinne eines Vorwärtsschreitens konnotierte – „Wendepunkt“, an dem das ASF stattfand, ist mit dem imperialistischen Sieg im Irak und der Durchpeitschung der Pensionsreform – selbst in Ländern mit einigermaßen seriösem Widerstand wie Frankreich – höchstens einer der widersprüchlichen Konsolidierung des neoliberalen und imperialistischen Weltsystems unter US-amerikanischer Führung und damit einhergehend eines weitergehenden Niedergangs der Bedeutung der traditionellen Linken.

Wir sprechen bewusst von der „traditionellen Linken“ in Bezug auf das ASF sowie die Antiglobalisierungsbewegung im allgemeinen – einer Linken, deren Geburtsstunde politisch und kulturell in der 68er-Bewegung liegt -, da der Mythos der „neuen sozialen Bewegungen“ das zweite Element der Fehldiagnose ist, die falsche Selbsteinschätzung.
Auf den konkreten Inhalt hinterfragt werden mit dem Begriff der „neuen Bewegungen“ in erster Linie Migrantengruppen und Arbeitsloseninitiativen als in den 90er Jahren entstandene Subjekte, sowie die schon in den 80ern sich von der parteimäßgen Linken abtrennenden Frauenbewegungen und Öko-Initiativen angesprochen (letztere gaben dem ASF oft einen bis tief ins Esoterische reichenden Anstrich.)
Eine realistische und kritische Betrachtung dieser Bewegungen zeigt jedoch, dass kaum eine es schaffte eine Dynamik zu entfalten, die tatsächlich eine „Politisierung der Gesellschaft“ bzw. des angesprochenen neuen Subjekts (Migranten, Frauen, etc.) zumindest in seiner relevanten Minderheit erreichen konnte. Die „neuen sozialen Bewegungen“ blieben zumeist kleine Initiativen einiger Engagierter, zumeist Mittelschichtsangehöriger und/oder ehemaliger Linker, die nicht nur vom Medienapparat marginalisiert wurden, sondern an der kaum vorhandenen kollektiven Politisierung und Radikalisierung ihrer „neuen Subjekte“ scheiterten. Daher sind diese „Bewegungen“ viel mehr als politische Initiativen ohne traditionelle Parteiform anzusprechen. Ihr gemeinsamer politischer Ursprung findet sich in der meist nur in ihrer oberflächlichen Erscheinung konstatierten Krise der politischen Partei, der revolutionären, sozialistischen und kommunistischen Gruppierungen sowie der traditionellen Arbeiterbewegung nach dem Ende der Sowjetunion und daraus abgeleiteten Hoffnung als „neue soziale Bewegungen“ einfach und rasch eine Alternative hinsichtlich Subjekt und Organisationsform zu schaffen. In der Abgrenzung von der politischen Partei soll gerade dieser politische Aspekt der „sozialen Bewegungen“ verborgen bleiben und jenseits der politischen Kritik gestellt werden. „Offenheit und Breite“ werden, als Strukturelement einer Bewegung, als neue Identität postuliert, hinter der sich jedoch angesichts der kaum vorhandenen gesellschaftlichen Breite viel öfter ein neoreformistischer Zugang verbirgt.

Die Antiglobalisierungsbewegung hat um die Kategorie der „neuen sozialen Bewegung“ einen politisch von Beliebigkeit gekennzeichneten Diskurs entwickelt, der als eine Form von Neopopulismus bezeichnet werden kann. „Menschen statt Profite“ oder „eine andere Welt ist möglich“ mögen zwar radikale Utopien sein, sind jedoch nichtssagend, solange nicht aus der Gesellschaft selbst die radikalen Bruchlinien als Angriffspunkt einer radikalen Strategie sozialer und politischer Umwälzung entwickelt werden. So bleiben die politischen Schlussfolgerung jenseits der Bekenntnis zur „anderen Welt“ dann häufig realpolitisch-pragmatisch, wie etwa das Projekt der Kandidatur eines Bündnisses der sozialen Bewegungen und Linksparteien zu den Europawahlen, wie sie auf dem Volksstimme Forum zu „Partei und Bewegung“ präsentiert wurde. (Der Zug zur Dominanz des Pragmatismus in der Bewegung stärkt sich um so mehr, als der „ungehorsame“ Subversivismus italienischen Ursprungs sich als strategisch ebenfalls unzureichend und vom hochorganisierten Staat kurzerhand niederknüppelbar erwiesen hat.)

Das führt zurück auf das eigentliche Problem des ASF und der europäischen Antiglobalisierungsbewegung im allgemeinen. Die radikalen Bruchlinien als Basis für ein neues revolutionäres Projekt und eine konkrete radikale Strategie im Westen sind in den neoliberal amerikanisierten und konsumistisch befriedeten westlichen Gesellschaften kaum vorhanden. (Die Gegensätze zwischen den Klassen haben sich mit der Globalisierung noch stärker und brutaler internationalisiert als jemals zuvor.) Das heißt nichts anderes als dass eine revolutionäre Linke sich ihres Überlebenskampfes in einer Gesellschaft unter weitestgehender Hegemonie des Imperialismus bewusst sein muss, ansonsten läuft sie Gefahr sich an der harten Realität aufzureiben, ihre neuen Militanten zu enttäuschen und/oder einer kleinkrämerischen Realpolitik hinter halbreligiösen ethischen Postulaten zu verfallen. Zweifellos birgt die mit Bush durchgesetzte offen militaristische Form der imperialistischen Globalisierung sowie die latente Krisenhaftigkeit des Kapitalismus und der neoliberalen ökonomischen Rezepte eine Verschärfung der Gegensätze auch im Westen mit sich. Doch der damit einhergehende potentielle Verlust von Glaubwürdigkeit, Hegemonie, Stabilität und Kontrolle (der sich im Westen heute durch eine pessimistische Grundstimmung im Gegensatz zur Aufbruchsstimmung zu Beginn der Neuen Weltordnung Anfang der 90er Jahre wiederspiegelt) ist noch weit davon entfernt sich in einer kollektiven politischen Opposition der Unterschichten niederzuschlagen.

Welchen Weg sich die Entwicklung eines tatsächlich neuen Subjekts im Westen bahnen wird, ist heute nicht abzusehen. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass seine politischen Anfänge wohl stärker vom internationalisierten antiimperialistischen Konflikt geprägt sein werden als vom sozialen Verteidigungskampf im Westen selbst. Dass letztlich nur das Element des breiten sozialen Radikalismus, das Durchbrechen der klassenverbindenden Verkleinbürgerlichung im Westen, einem neuen revolutionären Subjekt nachhaltige Wirkung geben wird, bleibt unsere Überzeugung. Wie dieser Prozess konkret verlaufen, unter welchen Schichten der Gesellschaft und in welcher Form er seine ersten Niederschläge finden wird, muss aus der gesellschaftlichen Dynamik selbst entwickelt werden – im Sinne einer „begreifenden Praxis“ der organisierten politischen Avantgarde.
Die prägende Wirkung des internationalen Konfliktes lässt uns aber zutiefst daran zweifeln, dass der Weg zu einer neuen Linken über die traditionelle Linke in ihrer sozialen, politischen, kulturellen und moralischen Prägung führen wird. Vielmehr wird eine Überwindung, vielleicht sogar der umfassende Bruch mit der weitgehend an den subkulturellen Rand gedrängten Linken notwendig sein.
Die konkrete Stellung der Akteure im „ASF-Prozess“ in den relevanten politischen Auseinandersetzungen auf internationaler und nationaler Ebene ist das einzige Kriterium, an dem abzusehen ist, wieweit die Antiglobalisierungsbewegung zur Entwicklung von Teilelementen einer neuen Linken beitragen kann:

+ Welche Stellung nimmt die Bewegung im Konflikt im arabischen Raum ein, insbesondere in seinem Herzstück, dem Befreiungskampf der Palästinenser? Kann sie die unversöhnliche, gewaltsame Form des Kampfes (in seiner völligen selbst völkerrechtlichen Legitimität) mit ihren westlich-„aufklärerischen“ Grundideen vereinbaren oder lässt sie sich durch die Befriedungs- und Beherrschungspolitik („Modernisierung und Demokratisierung der arabischen Welt“) des US-Imperialismus und der EU neuerlich mitreißen?

+ Lässt sich die Bewegung vom liberalen Geheule über den „Antiamerikanismus“ davon abbringen, die USA als entscheidende Stütze des imperialistischen Weltsystems zu begreifen und anzugreifen?

+ Gelingt es ihr, den falschen „Internationalismus“, besser „Antinationalismus“, einer „anderen Globalisierung“ und eines Imperiums ohne Zentrum (Negri) zu überwinden und in einer Welt reicher und armer Länder, unterdrückender und unterdrückter Nationen für die Selbstbestimmung der Völker einzutreten?

+ Nicht zuletzt, wird die Bewegung genug Widerstandskraft haben, um den Sirenenrufen des Institutionalismus, insbesondere auf der Ebene der EU, zu widerstehen oder treibt der derzeitige Rückfluss der Massenmobilisierungen sie in den zerstörerischen Apparat des neoliberalen Wahlspektakels?
Hier wird sich die Rolle der Antiglobalisierungsbewegung im langen Weg zum Aufbau einer neuen revolutionären Kraft im Westen herausstellen, während all die schönen utopischen Bekenntnisse zu einer „anderen möglichen Welt“ dafür gänzlich irrelevant sind.

Antiimperialistische Koordination
Wien, 20. Juni 2003

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