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Buchrezension – Baruch Kimmerling

4. September 2003

Politizid

Ariel Sharons Verbrechen gegen das palästinensische Volk.

„Unter der Führung von Ariel Sharon wurde Israel zu einer zerstörerischen Kraft, nicht nur für die Umgebung, sondern auch sich selbst gegenüber, denn es kennt nur noch ein innen- wie außenpolitisches Ziel: den ´Politizid` am Volk Palästinas“, so die zentrale These des aufrüttelnden Buches von Baruch Kimmerling, Professor für Soziologie an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Geboren in Rumänien kam der Autor 1952 nach Israel. In der Einführung baut Kimmerling gegenüber möglichen Angriffen vor: Er sei israelischer Patriot und habe dieses Buch „voller Schmerz und Trauer verfasst. Es ist keineswegs mein persönliches Ziel, aus ´jüdischem Selbsthass Israel zu diffamieren`, wie die meisten meiner politischen und ideologischen Gegner behaupten werden“. Mit diesem Buch wolle er einen weiteren Versuch unternehmen, „einem gütigen und humanistischen Volk die Augen zu öffnen, das die wahren Gefahren für Israel bis heute nicht erkannt hat“. In drei Kapiteln unterzieht Kimmerling die israelische Politik einer sehr kritischen, aber überaus realistischen Analyse.

Zentraler Fokus seiner Ausführungen ist Ariel Sharon. Seine Politik sei die eines fortwährenden „Politizids“, dessen Ziel es ist, „das Ende der Existenz des palästinensischen Volkes als soziale, politische und wirtschaftliche Größe“ herbeizuführen. Der erste Versuch habe 1948 mit der Vertreibung der Palästinenser im Rahmen der Staatsgründung begonnen, seine Fortsetzung fand er mit dem Massaker von Sabra und Shatila 1982 im Libanon und ist seit der Regierungsübernahme von Sharon in sein finales Stadium eingetreten. Seine Politik werde das Wesen der israelischen Gesellschaft zerstören und die moralische Basis des jüdischen Staates im Nahen Osten untergraben. Das Ergebnis des Sharonismus sei ein doppelter Politizid, das Ende der Palästinenser, aber auf lange Sicht auch das Ende der jüdischen Gemeinschaft. Kimmerling sieht Israel auf dem „Weg zum Faschismus“, da man alles, was anders sei, als existenzielle Bedrohung ganz Israels und jedes einzelnen Israelis begreife. Was vor Sharon als undenkbar galt, nämlich die ethnische Säuberung als eines legitimen Lösungsansatzes für die demographischen Probleme Israels, sei zu einem „ausdrücklich anerkannten Bestandteil des alltäglichen politischen Diskurses in Israel geworden“. Dagegen müssen sich die Israelis durch zivilen Ungehorsam wehren.

Für den Autor ist Israel „eine militärische, wirtschaftliche, und technologische Supermacht“. Israel wurde „auf den Ruinen einer anderen Kultur aufgebaut, die dem Politizid und einer teilweisen ethnischen Säuberung zum Opfer fiel, auch wenn es dem neuen Staat Israel nicht gelang, die rivalisierende Kultur der ´Eingeborenen` auszulöschen“. Anders als andere Staaten Afrikas, „konnten sich die Palästinenser und die arabischen Staaten ihrer Kolonialherren nicht entledigen“. Kimmerling beschreibt den Zustand seines Landes durch die Besatzung wie folgt: „Im Laufe der Zeit wurde dieser Zustand institutionalisiert und Israel wurde von einer echten Demokratie zu einer Herrenvolk-Demokratie.“ Ursprünglich wurde der Begriff für Südafrika geprägt, da dort Gesetze galten, die nicht von allen in Anspruch genommen werden konnte. Die israelischen Gesetze seien zu Gesetzen eines Herrenvolkes geworden. Das habe ein „zweischneidiges Rechtssystem, zweischneidige Gesetze und eine Doppelmoral geschaffen“. Sharon und seine Ideologie seinen Ausdruck einer Krise, die sich seit dem Beginn der Besatzung aufgebaut habe. „Die Kolonisierung der Westbank und des Gaza-Streifens durch jüdische Siedler führte den israelischen Staat in eine Sackgasse.“

Der Autor lässt nochmals Sharon Brutalität und Rücksichtslosigkeit, aber auch seine Verschlagenheit und politische Klugheit für den Leser aufscheinen. Die jetzt gebildete Regierung weise einige Minister auf, die offen für einen „Transfer“ oder ethnische Säuberung der Palästinenser plädieren. „Die eskalierende rassistische Demagogie gegen die palästinensischen Einwohner Israels weist auf die Dimension der Verbrechen hin, die vielleicht bereits geplant oder in Erwägung gezogen werden, als warte man nur auf den ´richtigen Moment`, um sie umzusetzen.“ Auch was der Autor zur historischen Entwicklung des Landes schreibt, hebt sich vom Mythos, der die offizielle Historiographie Israels umgibt, deutlich ab.

Die Ausführungen Kimmerlings vermitteln ein schonungsloses Israel-Bild, das die deutschen Wunschvorstellungen von diesem Land und moralischen Befangenheiten nur als störend empfinden werden. Vielleicht sind einige Analysen überzeichnet. Ob es den Meinungsbildungsprozess der deutschen Öffentlichkeit beeinflussen wird, bleibt abzuwarten. Diese Buch gehört zu den wichtigsten, die in Deutschland veröffentlicht worden sind; es ist überaus empfehlenswert.

Aus dem Englischen von Dirk Oetzmann und Horst M. Langer, Diederichs, München 2003, 244 Seiten, 19.95 …€.

Ludwig Watzal

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