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Ein Zionist zwischen allen Stühlen

4. September 2003

Rabbi Jeremy Milgrom

Die israelische Rechte möchte die Palästinenser am
liebsten in die arabischen Staaten vertreiben, die so genannte Linke plädiert für zwei Staaten, notfalls getrennt durch einen Elektrozaun (Ehud Barak). Nur noch eine winzige unbedeutende Splittergruppe plädiert in Israel für einen binationalen gemeinsamen Staat für Juden und Palästinenser. Einer von ihnen ist der Rabbiner Jeremy Milgrom, Mitglied der jüdischen Friedensgruppe „Rabbis für Menschenrechte“.

Von Hans-Martin Gloel

„Haben Sie nie Indianerfilme angeschaut?“, ruft Rabbiner Jeremy Milgrom in sein Publikum in der Nürnberger Begegnungsstube „Brücke-Köprü“. „Wer von Ihnen meint, dass Indianer Terroristen sind, der soll die Hand heben!“ Damit ist er bei dem Thema, das derzeit das Leben im Heiligen Land zur Hölle macht.

Aber was will dieser Mann, der im gleichen Atemzug Verständnis für den palästinensischen Widerstand äußern und sich selbst als glühenden Zionisten bezeichnen kann? Wer ist dieser Mann, der es sich in seinem Engagement für Frieden und Menschenrechte sogar mit der israelischen Linken gründlich verscherzt hat, weil seine Forderung, die rund vier Millionen palästinensischen Flüchtlinge zurückkehren zu lassen, auf viele existenzbedrohend wirkt?

„Ich bin Rabbi geworden, weil ich damals schon gesehen habe, was los ist“, sagt Milgrom, der ordinierter Rabbiner der so genannten konservativen Richtung des Judentums ist. „Wir haben ein großes Problem, und es muss sich etwas grundlegend ändern!“

Eine Binsenweisheit – auf den ersten Blick. Doch wer seine bedächtigen Worte hört und seine Erscheinung sieht, ahnt bereits Tiefgründigeres. Die bunte Kippa, die langen, wilden Haare und die ausgewaschene Jeans strahlen den Charme der 68er-Generation aus. Seinen Vortrag an diesem Freitag beginnt er, indem er sich mit der Gitarre zu einem Teil der Sabbat-Liturgie begleitet.

Nicht „verheißenes Land“, sondern „Land der Verheißung“

1968 war es, als er nach Israel kam. Eigentlich hatte der damals 15-jährige amerikanische Jude bei einem Bibelwettbewerb nur eine Reise ins Heilige Land gewonnen – doch er blieb für immer. „Ich habe gespürt, dass ich in dieses Land gehöre“, bekennt er.

Er hat aber auch gespürt, dass etwas nicht stimmt, nämlich als palästinensische Kinder die Reisegruppe mit Steinen bewarfen und riefen: „Geht heim!“ „Zionismus ist nichts Schlechtes“, sagt Milgrom. „Warum sollten wir als Juden unsere besondere Beziehung zu diesem Land nicht spüren und leben?“

Das Problem aber beschreibt Jeremy Milgrom so: In Europa, besonders in Deutschland, war es für Juden nicht mehr möglich, als selbstverständlich akzeptierter Teil der Gesellschaft zu leben. Also sind sie in das Land ihrer Vorfahren, nach Palästina ausgewandert. Sie kamen aus Europa als Europäer. Das heißt, sie kamen nicht als Teil der Bevölkerung dieser Region, sondern haben letztlich die einheimische Bevölkerung beherrscht und verdrängt. Milgrom vergleicht diese Entwicklung mit der Geschichte der USA, Australiens und Neuseelands. „Ich spreche als Amerikaner und Israeli, wenn ich das sage!“
In Israel, nein da kann er nicht so offen sprechen. Am ehesten in Deutschland. Auch in anderen Ländern mag man seine Einschätzungen kaum hören. Dabei bezieht er sich doch nur auf Abraham: „Gott hat Abraham aus seiner Heimat in dieses Land geführt und gab ihm die Verheißung, ein Segen für alle Völker zu sein.“ Milgrom bezieht dies nun als hohen moralischen Anspruch auf sich und sein Volk. „Wenn wir spüren, dass wir in dieses Land gehören, dann müssen wir auch ein Segen sein!“
Jeremy Milgrom spricht nicht vom „verheißenen Land“, sondern vom „Land der Verheißung“. Und diese Verheißung, den anderen dort zum Segen zu werden, sieht er allein in einem partnerschaftlichen Umgang miteinander, in einem tieferen Verständnis beider Völker füreinander.

Das Haupthindernis dafür sieht Milgrom in der Verbindung von Religion und Nationalismus. Zionismus, das Streben von Juden, im Land ihrer Vorfahren zu leben, sei zu einer nationalen Ideologie geworden. Dabei, sagt er, könne Zionismus, diese besondere Beziehung von Juden zu diesem Land, doch etwas so Wunderbares sein!
Neue Olivenbäume für die Palästinenser

Der Rabbiner Milgrom lebt vor, was er mit dieser Form des Zionismus meint. Als Field-Director der „Rabbis für Menschenrechte“ sammelt er Geld, um palästinensischen Bauern neue Olivenbäume zu pflanzen, deren Plantagen von der Armee zerstört wurden. Dafür muss er sich vorwerfen lassen, „Terroristen“ mit einem Hinterhalt auszustatten, von dem aus sie auf Siedler schießen. Sicher, auch in der Tora sei davon die Rede, dass Bäume auch im Krieg nicht verletzt werden dürften, gestehen seine Gegner ein. Aber ob menschliches Leben in diesem Fall nicht wichtiger sei?

„Wir müssen herausfinden, wie wir ganz deutlich machen können, dass wir diese Gewalt ablehnen“, sagt Milgrom. Wenn wir etwa an einer Straßensperre protestieren, dann sieht die Öffentlichkeit uns als pro-palästinensisch an, womit wir kein Problem haben. Aber man sieht uns auch als welche, die palästinensische Gewalt nachsehen, und das ist nicht zutreffend.“ Manchmal wünscht sich Milgrom mehr internationale Unterstützung für die israelische Friedensbewegung, insbesondere für die wachsende Zahl an Kriegsdienstverweigerern in der israelischen Armee. „Die Europäer sollten sich da mehr einmischen“, sagt er.

Zwischen alle Stühle setzt sich Milgrom nicht nur, wo er sich im israelisch-palästinensischen Konflikt engagiert. Sein humanitäres Lieblingsprojekt hilft Menschen, die weder auf israelischer noch auf palästinensischer Seite eine Lobby haben. „Die arabischen Jahalin-Beduinen sind doppelt benachteiligt. Weder die Palästinenser noch die Israelis interessieren sich für sie“, erläutert er. An beiden Intifadas waren sie nicht beteiligt. Wurden sie 1950 von Israel in die Westbank umgesiedelt, so mussten sie in den vergangenen Jahren ihr Weideland verlassen, um der Erweiterung der Siedlung Ma`aleh Adumim Platz zu machen. „Sie sind ein Opfer des Oslo-Friedensprozesses“, sagt Milgrom. „Der Ausbau der Straßen, durch den ihr Weideland durchschnitten wird, wurde von den Verträgen akzeptiert.“

Jetzt vegetieren die etwa 100 Familien in der Nähe einer Müllhalde ohne angemessene Lebensgrundlage vor sich hin und sehen ihre uralte Nomadenkultur bedroht. Die Rabbis für Menschenrechte unterstützen sie in ihren Ansprüchen auf das Land, fördern ihre Infrastruktur und die Ausbildungskosten für die Kinder.

Wie der berühmte Tropfen auf den heißen Stein wirkt dieses Engagement. Doch damit setzt die Gruppe im kleinen Rahmen ein Konzept um, das sie sich für die Zukunft ihres Landes vorstellen kann: Sicherheit durch Gerechtigkeit!

Wie der partnerschaftliche Umgang miteinander in einem größeren Rahmen konkret werden könnte, das deutet Milgrom nur an: Ja, einen langen Weg mit viel Arbeit auf allen Ebenen würde das bedeuten, gesteht er ein. Am Ende könne er sich einen gemeinsamen Staat für Juden und Palästinenser vorstellen.

Als er als Antwort auf seine Vision auf einen umstrittenen Mitdenker hingewiesen wird, scheint er kurz zu erschrecken, zumindest sehr zu staunen: Libyens Staatschef Muhammar al Gaddhafi schlug kürzlich die Bildung eines gemeinsamen Staates „Isratin“ (aus „Israel“ und „Palästina“) vor. Doch dann schmunzelt Milgrom. Vielleicht denkt er sich, dass die „Spinner“ von heute die Realisten von morgen sein könnten. Es wäre nicht das erste Mal…

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