Diskussionsbeitrag
Vor einiger Zeit richtete A. Holberg untenstehende Anfrage an die AIK. Da wir der Meinung sind, dass die Diskussion über den Charakter des irakischen Widerstandes von zentraler Bedeutung für die gesamte antiimperialistische Bewegung ist, haben wir uns entschlossen, die Anfrage gemeinsam mit unserer Antwort zu veröffentlichen.
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„Die AIK hat zu einer Geldsammlung für den bewaffneten Widerstand im Irak aufgerufen. Die Notwendigkeit, dem Imperialismus – mit dem der USA an der Spitze – im Interesse nicht nur der irakischen Massen eine Niederlage beizubringen, ist offensichtlich. Mein Eindruck ist jedoch, dass die AIK einem wohl im wesentlichen bürgerlich-antiimperialistischen Widerstandsbündnis nicht nur taktische – oder um es traditionell auszudrücken `militärische` – Unterstützung gibt, sondern durch das Fehlen einer offen Kritik am bürgerlichen Charakter dieses offenbar wesentlich von dissidenten Baathisten getragenen Bündnisses auch politische Unterstützung gewährt. Das aber würde bedeuten, dass das AIK nicht nur auf die militärische und politische Niederlage des US-Imperialismus im Irak hinarbeitet, sondern gleichzeitig Illusionen in einen strukturell antiimperialistischen Charakter der von ihm unterstützten irakischen Kräfte nährt. Als bürgerliche oder anders gesagt als pro-kapitalistische können sie aber nur konjunkturell antiimperialistisch sein. Stimmt die AIK dieser Darstellung zu, und wenn ja, wie rechtfertigt sie ihre politische Unterstützung für bürgerliche Kräfte.
A. Holberg“
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So sehr der alte Trotzkismus mit dem Breschnewismus verfeindet war, so hatten sie, ohne es sich einzugestehen, sehr vieles gemeinsam, unter anderem die Dogmatisierung der Kategorie der „Arbeiterklasse“ in einem objektivistischen, deterministischen, soziologisch-positivistischen Sinn.
Währenddessen folgten der Stalinismus der Dritten Periode und besonders der Maoismus einer stark subjektivistischen Deutung des Begriffs. Die chinesische Bauernschaft wurde zum proletarischen revolutionären Subjekt umgestaltet.
Wir wollen hier nicht näher auf diese Diskussion eingehen. Mit so wenigen Worten angeschnitten, dient die Erwähnung dieser Frage eher der Provokation als ihr Klärung. Doch manchmal ist die Provokation ein guter Ausgangspunkt um eingefahrene Denkschemata aufzubrechen. Wir wollen damit die Frage der Klassenbeziehungen hinsichtlich des Irak evozieren. Was bedeutet „Proletariat“ und „Bourgeoisie“ im heutigen Irak sozial und politisch?
Die Bourgeoisie ist zur nationalen Selbständigkeit nicht fähig
Historisch repräsentiert der irakische Baathismus den Versuch der nationalen Bourgeoisie, geführt und erschaffen von der militärischen Intelligenz, einen selbständigen kapitalistischen Entwicklungsweg zu gehen.
Mit dem Niedergang der Befreiungsbewegungen wurde dieses Unterfangen zunehmend schwierig und entwickelte sich zum Bonapartismus Saddam Husseins. Zumindest ab 1991 wurde die vom Baathismus geschaffene Bourgeoisie von diesem nicht mehr vertreten. Der großangelegte Verrat der Generalität angesichts der amerikanischen Aggression ist kein Hirngespinst arabischer Verschwörungstheoretiker (Verschwörungstheorien sprießen überall dort, wo die Massen nicht als Gestalter der Geschichte erkannt werden können), sondern Ausdruck der Tatsache, dass die militärisch geführte Bourgeoisie kein Interesse an einem weiteren selbstzerstörerischen Widerstand gegen den Imperialismus hatte.
Der politisch-soziale Charakter des Widerstands
Der wachsende Widerstand hat vielerlei Komponenten. Eine stellt auf jeden Fall die jakobinische Komponente des alten Regimes dar, die die politischen Unterstützung eines Großteils der sunnitischen Gesellschaft aller Klassen und Schichten auf sich vereinigen kann. Das heißt nicht, dass es sich dabei um persönliche Anhänger Saddams handelt. Solche gibt es natürlich auch. Doch politisch handelt es sich um unspezifische arabisch-irakische Nationalisten aus dem Militärapparat. Natürlich gibt es auch sunnitische Islamisten. Diese dürften allerdings nur in den Unterschichten Unterstützung genießen, während die sunnitischen Moslembrüder (die man kaum als Vertreter eines politischen Islam bezeichnen kann) mit der Besatzungsmacht kooperieren. Insgesamt hat sich in der sunnitischen Gesellschaft die Familien- und Stammesbande viel weniger zersetzt als unter den Schiiten, und eine klassenmäßige Organisierung ist daher kaum vorhanden. Darum kann der arabische Nationalismus unter den Bedingungen der Besatzung fast alle Klassen überstreichen.
Währenddessen besteht unter den Schiiten der potentielle Gegensatz zwischen dem Klerus, der im iranischen Schlepptau zur Kooperation tendiert, und den urbanen Unterklassen, die einem modernen städtischen politischen Islam folgen und gegen die Besatzung kämpfen wollen. Muqtada Sadr drückt den Spagat zwischen diesen beiden Tendenzen aus.
Die alte KP stellte in den 50er, und begrenzt auch noch in den 60er Jahren, den Gegenpol zum Klerus dar. Die sich entwickelnde islamistische Dawa-Partei übernahm in den 70er Jahren diese Rolle teilweise. Sie versuchte ihre Selbständigkeit gegenüber dem Klerus, der eine richtige politische Kaste darstellt, zu wahren. Da dessen Rolle aber in der schiitischen Gesellschaft so wichtig ist, konnte sie keine Frontstellung wie zuvor die KP wagen.
Sozial wird der heutige Widerstand zu aller erst von den von der städtischen Armut, der Bauernschaft, dem verbliebenen, abgesunkenen Proletariat, also den Unterklassen geführt. Doch haben diese keine Führung, die ihre Interessen in einem kommunistischen oder zumindest in einem sozialrevolutionären Sinn zum Ausdruck bringen könnten.
Die politische Führung des Widerstands ist noch keineswegs festgelegt. Es konkurrieren einerseits der aus der alten Elite stammende arabisch-irakische sunnitische Nationalismus, der klassenübergreifenden Einfluss hat, zumal das Angebot der sunnitischen Bourgeoisie mit den Okkupanten zu kooperieren von letzteren ausgeschlagen wurde und diese dadurch auf die Seite des Widerstands getrieben wird. Auf der anderen Seite steht der schiitische Islamismus, dessen politisch-sozialer Charakter noch nicht ausdifferenziert ist – entweder wird die Mehrheit dem libanesischen Modell des radikalen Sozialreformismus oder dem nationalkapitalistischen des Iran folgen.
Wider ein starres klassenmechanisches Modell
Durch das Ende der bipolaren Welt büßten die Bourgeoisien an der kapitalistischen Peripherie fast ihren gesamten Manövrierspielraum gegenüber dem Imperialismus ein. Die USA verlangen die gänzliche und totale Unterordnung. Selbst die moderate Verteidigung eigenständiger kapitalistischer Interessen wird von Washington letztlich mit militärischer Gewalt bedroht.
Die herrschenden Klassen der Peripherie gaben diesem Druck wohl oder übel nach und passten sich an die Anforderungen der Globalisierung Clinton´scher Prägung und jetzt an jene des Amerikanisches Reich von Bush an. Jene die dem Druck aus verschiedenen Gründen nicht nachgaben, vertraten schließlich nicht mehr die Interessen der sozialen Elite wie beispielsweise Slobodan Milosevic.
Unter diesen Bedingungen ist die Bourgeoisie nicht einmal in der Lage, die elementarsten bürgerlichen Errungenschaften zu sichern.
Das war nicht immer so. Kuba ist dafür das beste Beispiel an dem sich die Trotzkisten die Zähne ausbissen, weil sie das geniale Modell Trotzkis von der permanenten Revolution durch die Brille des Ökonomismus anzuwenden versuchten. Während das Proletariat, geführt von der KP, die proimperialistische Diktatur Batistas im Sinne der sowjetischen Außenpolitik, die auf Entspannung mit den USA setzte, unterstütze, mobilisierte der radikale Flügel der bürgerlichen Intelligenz, geführt von Castro, einen Teil der Bauernschaft und brachte Batista zu Fall. Die von Castro ergriffenen sozialreformerischen Maßnahmen führten ihn letztendlich zu einer sozialistischen Umwälzung. In anderen Ländern entfaltete sich eine ähnliche Dynamik, die aber wie beispielsweise in Ägypten vorläufig in einem Patt endete und nach einiger Zeit oft zu Konterrevolutionen führte. Jedenfalls hatten gerade die nationalen Bourgeoisien erheblichen Spielraum zu manövrieren.
Heute ist das Gegenteil der Fall. Palästina ist dafür natürlich das extremste Beispiel. Die elementar-demokratische Forderung nach einem demokratischen Staat für alle Menschen, ob hebräischsprachige Juden oder arabischsprachige Palästinenser, kann von den schwachen bürgerlichen Kräften unter den Palästinensern niemals erfüllt werden. Die Kompromisspolitik Arafats (und dieser repräsentiert immerhin die Tradition des nationalen Befreiungskampfes) hat Israel nicht zu den kleinsten Zugeständnissen bewegt. Zur Erfüllung des demokratischen Staates bedarf es nicht nur einer antiimperialistischen Revolution im gesamten Nahen Osten, sondern auch einer wesentlichen Schwächung des Imperialismus selbst, so dass er Israel nicht mehr zu unterstützen in der Lage ist. De facto erfordert das die sozialistische Weltrevolution. Die Forderung nach einem demokratischen Staat ist der Form nach durch und durch bürgerlich, die in ihr angelegte Klassendynamik führt indes nicht nur lokal zu sozialen Revolution, sondern weltweit.
Um nun auf den irakischen Widerstand zu kommen: Natürlich versuchen die USA, ein aus der lokalen Elite zusammengesetztes Marionettenregime zu errichten. Sie haben aber die angestammte sunnitische Elite verjagt, und müssen daher aus der schiitischen Gesellschaft eine kooperationswillige soziale und politische Führung herausdifferenzieren – kein leichtes Unterfangen angesichts der Breite der Volksbewegung gegen die Okkupation.
Die Forderung nach einem demokratischen Staat in dem das Volks den Souverän stellt, ist heute für die USA unerfüllbar, da sie über keine Marionette verfügt, die die Unterklassen dieses Volkes zu kontrollieren vermag – zumindest auf absehbare Zeit. Die vollständige nationale Souveränität ist eine bürgerliche Forderung, die aber unter den gegebenen Verhältnissen die Mobilisierung der Volksmassen erfordert, und damit tendenziell einen antiimperialistischen und sozialrevolutionären Charakter entfaltet. Die Erkämpfung der nationalen Souveränität birgt also eine potentiell antibürgerliche Stoßrichtung in sich.
Diese muss durch sozialrevolutionäre Kräfte formuliert und entwickelt werden. Dabei stehen zwei Fragen im Fordergrund. Einerseits der Kampf gegen die Usurpationsversuche des schiitischen Klerus, denen mit einem Entgegenkommen gegenüber der Massenstimmung hinsichtlich des kulturell islamischen Charakters einer Republik, aber gleichzeitig mit dem Insistieren auf dem Volk als dem einzigen Souverän begegnet werden kann. Und andererseits die Usurpationsversuche der traditionellen sunnitischen Bourgeoisie und neu aufsteigender schiitischer Elemente (eventuell auch die alte schiitische Grundbesitzerklasse). Da muss an der Verteidigung und Fortsetzung der Sozialreformen von Kassem, wie beispielsweise der Aufteilung des Landes, angesetzt werden. Am aller wichtigsten ist jedoch die Kontrolle über die Ölrente, die nicht durch soziale Teilkämpfe, sondern nur politisch entschieden werden kann.
Die Verteidigung der sozialen Interessen der irakischen Unterklassen kann also nur auf politisch-militärischem Wege vonstatten gehen.
Volksfrontstrategie?
Der Begriff ist heute selbst in Kreisen der antiimperialistischen Linken kaum mehr bekannt, vielleicht sollte man daher besser von der systematischen Kollaboration mit dem temporär progressiven, oder zumindest kooperationswilligen, Flügel der Bourgeoisie sprechen, wie sie in der UdSSR ab dem 7. Weltkongress nach dem Sieg des Hitlerfaschismus formuliert wurde.
Die irakische KP ist an dieser Politik zugrunde gegangen. Sie hat einerseits die Bewegung von 1959 nicht genutzt die Macht zu ergreifen, weil sie sich sklavisch an Kassem hängte, der sie, als er sie nicht mehr brauchte, zu verfolgen begann. Andererseits gab die KP in der ersten Phase der baathistischen Macht, die durch zahlreiche fortschrittliche Reformen und die Anlehnung an die UdSSR gekennzeichnet war, der Partei Saddams die volle Unterstützung. Als dieser seine Macht stabilisiert hatte, sprang die KP über die Klinge.
Das heißt nicht, dass die Unterstützung gänzlich falsch war, doch wäre es darum gegangen, die Reformen weiterzutreiben, die politische Selbständigkeit der Unterklassen und des Proletariats zu entfalten und schließlich die Baath-Partei zu entmachten. Die KP-Unterordnungspolitik bewirkte das Gegenteil. Gegen die spätere Verfolgung rief die KP schließlich den Imperialismus um Hilfe an – was gleichbedeutend mit der vollständigen Kapitulation vor der Bourgeoisie ist.
Jene Strömungen der KP die mit der pro-imperialistischen Politik brechen, betreiben damit noch nicht automatisch Selbstkritik gegenüber der verhängnisvollen Politik der Vergangenheit. Doch das Tor für die Neuformulierung wird zumindest aufgestoßen.
Revolutionäre Linie und politische Unterstützung
Im heutigen Irak eine sozialrevolutionäre, antiimperialistische, antikapitalistische Organisation aufzubauen stellt eine gewaltige Aufgabe dar.
Hauptfaktor dazu ist der konsequenteste Kampf gegen die Besatzung, nicht nur auf militärischer, sondern auch auf politischer Ebene. Der bürgerliche Charakter des Widerstands wird sich vor allem an seiner Kompromissbereitschaft mit dem Imperialismus zeigen, während sich der sozialrevolutionäre Flügel durch seine antiimperialistische Unbeugsamkeit auszeichnen muss.
Wir werden jedenfalls den intransigenten Flügel unterstützen, der sich auf die Mobilisierung des Volkes wird stützen müssen. Derzeit ist ein solcher noch nicht gebildet. Es ist auch völlig unklar aus welchen politischen Quellen er sich speisen wird. Dabei ist es wahrscheinlich, dass seine wichtigsten Bestandteile einerseits aus dem radikalen Nationalismus und andererseits dem politischen Islam kommen – denn die KP hat die kommunistische Bewegung völlig zugrunde gerichtet und zu einem Mittel der Besatzung gemacht.
In unserer Unterstützung für den konsequenten Widerstand mit seinen formal bürgerlichen Forderungen ist keine Unterstützung für die irakischen Bourgeoisie enthalten. Im Gegenteil, die Forderung nach voller nationaler Selbständigkeit und der Souveränität des Volkes ist in seiner Entfaltungsrichtung nicht nur antiimperialistisch, sondern auch sozialrevolutionär. Jede, selbst bürgerliche, Kraft die diesen Kampf führt, trägt zu dieser Entfaltung bei. Global gesehen müssen wir in diesem Kampf eine revolutionäre Führung etablieren und entwickeln. Dazu werden wir alles in unserer Macht stehende beitragen.
Willi Langthaler
Antiimperialistische Koordination
Wien, 13. September 2003