Unabhängig davon, wer palästinensischer Premierminister ist, müssen die Palästinenser zwischen zwei Optionen wählen, so Azmi Bshara
Gerade als der Rücktritt des neuen palästinensischen Premierministers, nach nur hundert Tagen im Amt, bekannt wurde, sprachen Medienberichte von einem Mordversuch gegen den Hamas-Führer Sheikh Ahmed Yassin und davon, dass die Hamas als eine terroristische Organisation von niemand geringerem als der Europäischen Union eingestuft worden war. Es wäre Zeitverschwendung nach einem kausalen Zusammenhang zwischen diesen Entwicklungen zu suchen, wollte man über die offensichtliche Tatsache hinausgehen, dass sie alle Produkte derselben politischen Situation, Symptome derselben Krise sind. Gerade jetzt müssen die Palästinenser der gegenwärtigen Krise geeint ins Gesicht blicken und eine gemeinsame Strategie formulieren, wie mit dieser umzugehen ist. Die laufenden Entwicklungen sind miteinander verknüpft, auf die eine oder andere Art und Weise. Was darüber hinaus als noch bedeutsamer erscheint: Wer auch immer die Entscheidung getroffen hat, eine Operation gegen Ahmed Yassin, den spirituellen Führer und Gründer der Hamas, auszuführen, tat dies in Übereinstimmung mit Geheimdienstberichten und folgte von einer bereits auf höchster Ebene getroffenen politischen Entscheidung. Israels Sicherheitskräfte haben nur auf den richtigen Moment für ihren Schritt gewartet.
Seit mehreren Wochen, besonders seit der Operation in Jerusalem, war es offensichtlich, dass Israel entschlossen war, einen totalen Krieg gegen die Hamas-Führer zu führen. Die israelische Armee und die Sicherheitskräfte hatten ihre Befehle und waren bereit die Angriffe zur geeigneten Zeit auszuführen. In der Vergangenheit pflegte Israel präventive oder Vergeltungsangriffe gegen Hamas-Führer durchzuführen. So geschah es bei der Ermordung von Jamil Salim und Jamil Mansur (31. Juli 2001) in Nablus und beim Anschlag auf Al-Rantissis Leben vor zwei Monaten (10. Juni 2003). Nun sind die Dinge anders. Israel zielt auf die Hamas als Ganzes, unabhängig davon ob sie Operationen durchführt oder nicht. Die Notwendigkeit für eine langfristige Planung übersehend, hat der palästinensische Widerstand bislang bei seinem Vorgehen meist improvisiert. Sein Weg war gespickt mir sporadischen Aktionen, geleitet vom Wunsch nach Vergeltung und inspiriert vom Willen den Israelis eine Lektion zu erteilen. Das geläufige Argument war, dass die palästinensische Gesellschaft nicht die einzige sein sollte, die den Preis zu bezahlen hat und dass die Akte des Widerstands im Allgemeinen politischen Druck auf die Israelis ausüben sollten. Im Westen, besonders nach dem 11. September, wurde diese Art des Denkens als terroristisch bezeichnet – obwohl es genau das ist, was die Israelis tun um den Willen der Palästinenser zu brechen. Die Palästinenser und ihre Freunde führen natürlich an, dass es einen Unterschied zwischen der Gewalt von Besatzern und der Gewalt von jenen, die unter der Besatzung leben müssen, gibt. Was den palästinensischen Widerstandsorganisationen jedoch zu untersuchen entging, ist das Verhältnis zwischen Zielen und Mitteln. Sie hielten nicht inne um die Frage zu stellen: „Wie effektiv ist der Ansatz `Lasst die Israelis dafür zahlen` im Sinne politischer Erfolge“? Oder, wichtiger noch: „Wie kann man politische Erfolge beurteilen, wenn man keine politische Strategie hat?“
Palästinenser benutzten den Begriff „Terror“ um die Operationen von Hamas, Al-Aqsa-Brigaden und dem islamischen Dschihad zu beschreiben, lang bevor Europa diesen Begriff in einem offiziellen Dokument verwendete um die Hamas-Bewegung als Ganzes zu verurteilen. Zu einer Zeit, als solch ein Terminus in Referenz zu einer politischen Bewegung verwendet wurde, die in einer Situation der Besatzung operiert, war ein internen palästinensischer Dialog unvorstellbar – selbst wenn solch ein Dialog strategisch gewesen wäre und sein Ziel darin bestand sich in Hinblick auf eine gemeinsame politische Vision der gegenwärtigen Phase anzunähern und die minimalen Notwendigkeiten für den Widerstand gegen die Okkupation zu definieren. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem palästinensischen Fehlen einer Gesamtstrategie in Sachen Politik und Widerstand und dem europäischen Schritt die Hamas als terroristische Vereinigung aufzuführen. Seit dem 9/11 waren die Europäer sehr widerwillig gegenüber solch einem Schritt. Sie taten es schließlich doch.
Die Israelis, für ihren Teil, sahen im 11. September eine Möglichkeit die gesamte palästinensische Nationalbewegung als terroristisch zu brandmarken. Sie versuchten zu Beginn Parallelen zwischen Arafat und Bin Laden zu ziehen. Als nächstes wurde die gesamte palästinensische Sache neu formuliert als ein Wiederaufbau der palästinensischen Sicherheitskräfte um sie in die Lage zu versetzen den „Terror bekämpfen zu können“. Dass diese Kräfte dann tatsächlich „Terror“ bekämpfen, wurde zur Bedingung um Verhandlungen zu führen, die zu einem palästinensischen Staat nach Sharons Entwurf führen sollten.
Unabhängig von den exakten Details und den exakten Worten, war dies die Essenz des israelisch-amerikanischen Diktats über die Palästinenser, was die Roadmap betraf. Die Palästinenser waren sich darüber im Klaren, als die Gespräche über die Roadmap begannen. Einige Palästinenser, welche diese Gedankenlinie akzeptierten, versuchten ihre Fähnchen nach dem Wind zu richten. Sie akzeptierten das US-Diktat teilweise aber versuchten eine Krise an der Heimatfront zu vermeiden. Andere akzeptierten das Diktat in einem tieferen strategischen Sinn, die ganze Zeit hoffend, dass sie sich aus dem Dilemma rausreden könnten – wenn nur der palästinensische Widerstand ihnen eine Chance dazu geben würde. Auch sie riefen zu einem Waffenstillstand auf, um einen palästinensischen Bürgerkrieg zu vermeiden.
Währenddessen bestand Israel darauf, dass die neue palästinensische Regierung ihre Sicherheitskräfte neu aufbaute, diese Arafats Kontrolle entzog und einen internen Konflikt riskierte unter der Rubrik „Zerstörung der Infrastruktur des Terrors“. Als die palästinensische Führung versuchte eine interne Konfrontation zu vermeiden durch einen Dialog und einen Waffenstillstand, betrachtete Israel dies als einen Bruch der Vereinbarungen der Roadmap und antwortete darauf mit mehr Ermordungen, während es die ganze Zeit über versuchte die neue palästinensische Führung in den Sumpf einer hausgemachten Konfrontation zu ziehen.
Als der Druck stieg und sich Abu Mazen als nicht fähig erwies, die Kontrolle über die Sicherheitskräfte dem gewählten palästinensischen Präsidenten zu entziehen, trat der Premierminister zurück. Dies passierte zu einem Zeitpunkt, als sowohl die USA als auch Israel erklärten, dass der palästinensische Präsident politisch tot sei und eine Debatte am Laufen war, ob Arafat deportiert oder physisch liquidiert werden sollte. Für den zurückgetretenen Premierminister war der Weg von Anfang an mit Fallgruben und Schwierigkeiten übersät. Schließlich musste Abu Mazen das Fatah-Zentralkomitee verlassen um sich selbst von den Resolutionen die von der Fatah beschlossen wurden, zu entbinden, der selben Bewegung, die ihn in den Legislativrat gebracht hatte.
Es gibt einen klaren Widerspruch zwischen der Sprache der nationalen Befreiung, die als eine interne Legitimationsquelle verwendet wird, und der Sprache des Terrors, die als äußere Legitimationsquelle verwendet wird. Dieser Widerspruch zwang Abu Mazen aus dem Amt. Dieser Widerspruch wird mit uns sein, unabhängig von dem Wechsel der Gesichter. Ahmed Qureih, Präsident des Legislativrats und der designierte Premierminister, ist dazu bestimmt sich demselben Dilemma zu stellen. Die einzige Möglichkeit dies zu tun, ist zwischen zwei Optionen zu wählen. Die eine ist Israels Diktat zu akzeptieren, was zu einem palästinensischen Gebilde führen würde – euphemistisch Staat genannt – mit eingeschränkter Souveränität, auf 40% des Westjordanlandes. Der Weg zu dieser Option führt über einen palästinensischen Bürgerkrieg, der in der Errichtung eines palästinensischen Gebildes und einer mit Israel verbundenen Führerschaft enden würde. Der zweite Weg ist jener zur nationalen Befreiung. Der letztere benötigt die Bildung einer geeinten palästinensischen Führung mit einer gut durchdachten Strategie für politische Aktion und Widerstand.
Vergeltungsaktionen und Reaktionen aufs Geratewohl sollten abgestellt werden und alle sollten sich einer gemeinsamen Politik verschreiben, einer Politik, die es dem palästinensischen Volk ermöglicht auf lange Sicht hartnäckig zu bleiben, sein Kampfpotential zu sammeln und sich sowohl an die Weltmeinung als auch an die amerikanische und israelische Öffentlichkeit zu wenden. Die Palästinenser sollten nicht den Blick auf ihr Hauptziel verlieren: jenes der Befreiung von der Besatzung.
Azmi Bshara
17. September 2003
Quelle: http://weekly.ahram.org.eg/