Ein Roman von Leila Baalabakki
Leila Baalabakkis Roman erschien 1958. Er sorgte in der arabischen Welt für einen Skandal und in der europäischen Welt für Erstaunen: Vergleiche mit Franà§oise Sagan lagen nahe und solche Literatur im weitentfernt-gedachten Orient zu finden, ließen aufhorchen. Die Ähnlichkeiten zur Frauenliteratur der 50er Jahre in Europa (da vor allem in Frankreich) sah man in den ähnlichen Charakteren, den ähnlich gewichteten Problemen, dem Versagen beziehungsweise Nicht-Lösen-Können dieser Probleme der Antiheldin des Romans. Im Nachkriegs-Europa löste das ein Auf-die-Schulter-Klopfen aus: „Wenn sie ähnliche Probleme wie wir haben, heißt das, dass unser Einfluss via imperialistischer Kulturimport funktionierte.“ (Nachwort, S. 282)
„Ich kämpfe“
Heute gelesen, scheint Baalabakkis Roman doch Unterschiede zur europäischen Literatur aufzuzeigen und klar auf die Region, auf den Postkolonialismus zugeschnitten zu sein. Und aktuell scheint der Roman allemal. Die Straßenbahn ist allerdings aus Beirut verschwunden, mit der Lina, die Protagonistin des Romans, immerzu flüchtet, hauptsächlich von der Familie. Die Straßenbahn ist es auch, die ihr zeigt, wie sie dem Leben ein Ende setzen könnte: Beim Passanten sah „der Hals des Toten aus wie der eines Schafes, das beim Schlachter hängt.“(S.158) Als sie gegen Ende des Buches, mit allem gescheitert, sich selbst vor die Straßenbahn werfen will, schrillt die Trillerpfeife eines Polizisten, und der Fahrer schreit ihr „Du Schlampe!“ zu.
Der Roman könnte auch „ich kämpfe“ heißen, wobei es in der ersten Hälfte des Romans so aussieht, als würde Lina das erreichen, was sie Freiheit nennt. Als Zeichen zum Kampfauftakt werden zum Schock der Familie die Haare kurz geschnitten und eine Arbeit in einer Agentur angenommen. Befriedigend ist die Arbeit nicht, weil unklar ist, was sie überhaupt zu tun hat, aber sie erhält damit zum ersten Mal Geld, das ihr nicht der Vater mit der Aufforderung vor die Füße wirft, sich was Schönes zum Anziehen zu kaufen. Das Geld, das sie verdient, reicht für die Einschreibgebühr auf der Amerikanischen Universität, für die Straßenbahnfahrten und das tägliche Glas Milchkaffee im Studentencafà© „Uncle Sam“ – Lina hat weitgehendst ihre Freiheit erreicht. Das Geld reicht aber nicht für den gelben Designerpullover – am Heimweg im Schaufenster gesehen – dafür aber für die gelbe Wolle und Stricknadeln. Zum Grauen der Mutter und Staunen der Schwestern sitzt Lina jetzt abends im Wohnzimmer und strickt den Pullover nach. Nur vom Dienstmädchen erhält sie anerkennende Blicke. Die Schwestern: „Aber Vater kauft uns doch alles –sag nur ein Wort!“
Der allmächtige Vater, der sich nachts an der dicken, weil immer schwangeren jüdischen Nachbarin aufgeilt, mit der er Fenster-Rendezvous hat, natürlich ohne Wissen der mageren nervösen Ehefrau, an der jedes Negligà© traurig herunterhängt. Warum Lina auch nichts dabei findet, ihr diese wegzunehmen und selber zu tragen.
Des Vaters Macht kann Lina bis zum Schluss nicht abschütteln. Als sie unentschlossen vorm Schaufenster steht und das Haute-Couture-Kleid aus Paris, das Mutter für sie reserviert hat, betrachtet, schnappt sie von Vorübergehenden den Jammer auf, über das Getreide, das im Land fehlt und die Bäckergeschäfte zum Schließen zwang. Lina krallt die Scheine in der Tasche zusammen, die im direkten Zusammenhang mit dem Getreide-Verschwinden stehen. Ihr Vater hat alle Getreidevorräte billig gekauft und an die Ägypter weiterverkauft, danach Getreide in Europa eingekauft, welches nächste Woche teuer auf den libanesischen Markt geworfen werden wird. Wieder ein Coup, der dem Vater gelungen ist und bei Abschluss des Geschäftes mit den Ägyptern wurde jeder Tochter eine ordentliche Summe aufs Sparbuch gelegt, von dem sie sich Kleidung und Schuhe zu kaufen haben, um bei den Gesellschaften repräsentieren zu können.
Die Parallelen zwischen 1957 und 2003 liegen auf der Hand: Es laufen genau dieselben Geschäfte heute ab, weshalb man im Libanon Chiquita–Bananen zu kaufen bekommt, obgleich es an libanesischen Bananen nicht mangelt, weshalb Schiffe mit Mais im Hafen von Beirut entladen werden, obwohl für das kleine Land genug Mais angebaut wird.
Zerrissenheit gegenüber dem Westen
Der Roman spielt in der Zeit von Camille Chamoun, der von 1952 bis Juli 1958 regierte. In seiner Regierungszeit wurde Beirut zum führenden Kapitalmarkt im Nahen Osten. Er und seine Regierung erkannten die Eisenhower-Doktrin an, schlossen engen Kontakt mit Frankreich, Großbritannien und auch mit Israel. Trotz Drängen der arabischen Staaten in der Suez-Kanal-Krise brach der Libanon diese Verbindungen nicht ab. Innenpolitisch kam es Mitte 1958 zu Demonstrationen und schließlich bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen Christen, Moslems und Drusen. Ausschlaggebend war die wirtschaftliche Situation, welche die Christen stark begünstigte. Das ist der geschichtliche Hintergrund des Romans und macht die Zerrissenheit der Antiheldin gegenüber allem Westlichen klar. Einerseits lesen wir da „Hello. Ich kann Englisch nicht ausstehen. …… Als wäre dieser Mann, der sein ganzes Leben in einem arabischen Land verbracht hat, nicht in der Lage in unserer Sprache zu grüßen.“ (S. 82) Auf Linas Frage, was denn das für ein Tabak sei, den junge Männer auf der Uni rauchten, antwortet der Vater verächtlich: „Das ist der Tabak, der bei uns angebaut wird.“ (S.136), worauf er sich eine amerikanische Zigarette anzündet, wofür Lina ihn hasst, findet sie doch das Ritual des Zigaretten-drehens, das sie im Cafà© beobachtet, so faszinierend. Das Essen, das ihr zuhause aufgetischt wird, findet sie auch abscheulich: „Beefsteak mit Püree. ……wieso sollte ich dieses europäische Gericht lieber mögen als Maschtschi, Tabbà»la und Kubba? Ich bin keine Europäerin.“ (S.68) Über die saudi-arabischen Studenten in der Mensa, die mit Messer und Gabel essen und auf englisch diskutieren, fragt sie sich, „wie lange die amerikanische Färbung wohl noch an ihnen haften wird.“ (S.107)
Andererseits ist Lina jeden Tag im Uncle Sam und trinkt Milchkaffee. Die Freiheit, die sie meint, darüber sagt sie ihrem irakischen Freund Bahà¢: die Freiheit „gehört den Männern, denen die Franzosen die Beine zerschossen haben, ……den Waisen, deren Väter von den Osmanen an der Säule am Platz der Märtyrer gehängt worden sind. …… Aber ich bemühe mich jetzt um eine andere Freiheit: die individuelle Freiheit, sie ist die Vollendung der anderen Freiheit!“ (S. 160) Bahà¢, der die kommunistische Partei als einzige Rettung des Iraks sieht, kontert ihr, dass sie in einer Märchenwelt lebe und noch viele Lektionen bräuchte, den Wert der Gemeinschaft zu erkennen. Er, dessen Volk „von den Peitschen der Imperialisten unterjocht“ wird, habe diesen Wert praktisch von Kindheit an, schätzen gelernt, weshalb er wisse, dass sein Volk eine „kollektive, allumfassende Revolution“ brauche. (S.143 f) Über den Libanon sagt Bahà¢, das sei ein Land, das nur aus Widersprüchen bestehe, in dem es monatlich eine Regierungskrise gebe, ohne dass es jemand kümmert. Es ist auch das Land, in dem er das erste Mal Frauen sieht, die nicht „wandelnde Flaschen“ (S. 137) waren, wie in dem Dorf im Irak, von wo er in den Libanon zum Studieren kam. Dass er Frauen nur als „Flaschen“ kennen lernen durfte, nicht aber als Menschen, da sei ihm, sagt Bahà¢, ein grundsätzliches Recht verwehrt worden.
Schwierigkeit des Frau-Seins
Lina dagegen hat ein anderes Problem: Lässt sie den oberen Knopf der Bluse offen, wenn sie außer Haus geht, oder schließt sie ihn? In der ersten Hälfte des Romans, als sie überhaupt zu allem entschlossen scheint, knöpft sie ihn fast immer auf, auch im Cafà©, wenn sie alleine sitzt. Gegen Ende des Romans, als die Haare auch länger und länger werden, wird er meistens schnell wieder zugeknöpft, der Blusenknopf, wenn ihr ein Männerblick zu gereizt vorkommt. Schließlich machen ihr selbst die Beine Probleme: Soll sie sie nebeneinander stellen, übereinander? Auf den letzten Seiten des Buches empfindet Lina auch die Frage, ob sie zum Strand mitgehen wolle, als Schande. Als sie alles aufgegeben hat, Arbeit, Studium, versucht sie Bahࢠnoch einmal für den Kampf gegen die Israelis anstatt für den Kommunismus zu kämpfen zu begeistern, indem sie ein uneheliches Kind von ihm hier in Beirut haben will. Aber Kinder sind nichts als Parasiten, meint Bahà¢. Verächtlich zählt er auf, was Kinder alles machen und wie egozentrisch die sind, vor allem aber, dass sie einen von der revolutionären Tat abhalten und schließlich gilt für Bahࢠder Kommunismus als Lösung für alles – am Tag darauf, nachdem er ihr das gesagt hat, werden im Irak die Demonstrationen blutig niedergeschlagen und seine Genossen flüchten oder landen im Gefängnis. Lina fragte sich noch Tage zuvor, ob die Aktion „dem Volk oder aber den arabischen Imperialisten von Nutzen sein wird.“ (S. 244)
Was war das eigentlich für eine Arbeit, die Lina hinwirft? Ihr Chef ist einer, der nach oben hin buckelt, in der amerikanischen Botschaft auf allen vieren kriecht, nach unten hin autoritär und zynisch waltet und bei jeder Gelegenheit auf Russland schimpft. Baalabakki selbst arbeitete einige Zeit als Sekretärin im libanesischen Parlament. Was sie in ihrem Buch beschreibt, das sind sicherlich Zustände, wie sie sie selbst als Sekretärin erlebt hat, auch wenn ihr expressionistischer Schreibstil besonders beim Thema Arbeit befremdlich und stark übertrieben wirkt. Da ist der Briefkasten, in den Mitarbeiter Beschwerden werfen können. Ihre Aufgabe ist es, den Briefkasten täglich zu kontrollieren, nicht zu leeren, denn natürlich, da ist nie ein Brief, eine Karte drinnen. Und als dann doch einmal ein Brief drinnen ist, sie zitternd damit zum Chef geht und auf dessen Explosion wartet, stellt sich schließlich raus, dass es ein Liebesbrief an sie ist. Vom Kollegen Walà®d. Walà®d arbeitet nachts auf ihrem Schreibtisch, das erfährt sie nur zufällig, als sie was liegen gelassen hat und noch mal ins Büro fährt. Walà®d arbeitet nachts, weil er geheime Dokumente aus der Spionagearbeit übersetzt. Lina, die es moralisch unvertretbar findet, dass er sich so Geld verdient, kontert er mit der Rechtfertigung, dass er kein Helden-Dasein fristen will, sondern Geld braucht für seinen Lebensstil. In Syrien, wo er geboren wurde, würde die Regierung mit anderen paktieren. Aber als Verräter fühlt er sich nicht, denn: „Solange der einzelne bei uns als ein Nichts gilt, können wir uns doch ruhig am imperialistischen Vermögen bereichern.“ (S. 67)
Über die Israelis sagt Lina, das sind „Verrückte, die der Wahnsinn der Naziherrschaft hervorgebracht hat“ und die jetzt ständig über Libanons Grenzen herfallen. (S. 192) Als sie auf der Uni etwas zum Nah-Ost-Konflikt äußert, fährt ihr ein Student dazwischen und sagt, dass sie aufgrund ihrer guten Herkunft da gar nicht mitzureden hätte. „Das ist ein Kuwaiti. Ich glaube, der ist es nicht gewöhnt, dass eine Frau ihre Meinung zu Männerthemen äußert“, beruhigt sie eine Kollegin (S. 89). Vom Chef wird sie zum Flughafen geschickt, den UNO-Generalsekretär zu empfangen und ihn zur amerikanischen Botschaft zu begleiten. Es gibt wieder einen neuen amerikanischen Plan zum Nah-Ost-Konflikt, hört sie. Auch das ist etwas, was in der Aktualität geschrieben werden könnte. Und ebenso: „Der Begriff „Vakuum“ wird häufig im Zusammenhang mit dem neuen amerikanischen Plan verwendet.“ (S.95) Verträge, denkt Lina, werden immer zwischen dem Abschaum der Menschheit, also nur zwischen Imperialisten, egal welcher Herkunft, getroffen, aber nicht unbedingt um eingehalten zu werden. Die Agentur, für die sie arbeitet, hilft den U.S.A., Großbritannien und Frankreich solche Verträge auszuhandeln und unterstützt sie, wenn sie diese dann lieber doch nicht einhalten wollen. Die Kündigung versteht der Chef trotzdem nicht, solange es die U.S.A., Großbritannien und Frankreich sind, die sich das erlauben, kann er daran nichts Schlimmes sehen, das ist was ganz Anderes als mit den Syrern und den Russen.
Der Ladenbesitzer, die Maurer oder der Hausmeister, was die arbeiten, meint Lina, das ist Arbeit, die bauen sich eine glückliche Zukunft auf, aber sie interessiere die Zukunft nicht mehr. Sie findet die Gegenwart unerträglich und kann sich an Bahà¢s revolutionären Gedanken für eine andere Zukunft nicht aufbauen. Am Ende des Romans will Lina nicht mehr raus aus ihrem Bett. Wofür auch? Sie hat ja alles aufgegeben, wofür sie gekämpft hat. Und die Straßenbahn, wissen wir heute, fährt irgendwann auch nicht mehr durch Beirut.
Elisabeth Gschaider
Die Seitenangaben beziehen sich immer auf die Ausgabe des Romans beim Lenos Verlag 1994. Das Buch ist um …€16,– im Dreierpack mit Emily Nasrallahs „Das Pfand“ (Libanon) und Salwa Bakrs “ Der Goldene Wagen fährt nicht zum Himmel“ (Ägypten), alle Lenos-Verlag, erhältlich.