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Israels „neue Historiker“

16. Januar 2004


In den 90er Jahren wurde eine Reihe israelischer Historiker auch in Nordamerika und Europa bekannt dadurch, dass sie die „offizielle“ Version israelischer Geschichtsschreibung in einer Reihe von Aspekten in Frage stellten. Größtenteils bestätigen sie in ihren Arbeiten die Forschungsergebnisse, die Historiker in anderen Ländern schon vor Jahrzehnten vorgestellt haben.

Von der Rechtfertigung zur Wissenschaft

Die ersten Autoren, die sich mit der Geschichte der zionistischen Bewegung befassten, waren keine Historiker, sondern Aktivisten dieser Bewegung, die Geschichten des Judentums und zionistischer Organisationen verfassten. Erst Anfang der 60er Jahre etablierte sich in Israel die Geschichtsschreibung der zionistischen Besiedlung, des Yishuv, in universitärem Rahmen. Den Anstoß dazu gab u.a. die Öffnung britischer Archive, Dokumente zur britischen Kolonialherrschaft wurden zugänglich.
Israelische Politiker und Parteien beeinflussten die Historiografie durch Veröffentlichungen von Autobiografien und Unterstützung bestimmter Historiker. Der Großteil der Forschung stützte sich auf mündliche Zeugnisse von Protagonisten der zionistischen Bewegung, die kaum durch schriftliches Material gestützt wurden. Dies wurde damit gerechtfertigt, dass „Untergrundbewegungen“ wie der Zionismus zur Zeit des britischen Mandats naturgemäß kaum schriftliche Dokumente hinterließen, doch tatsächlich ist kaum eine „Untergrundbewegung“ des 20. Jahrhunderts so gut dokumentiert wie der Zionismus. Die Verfügbarkeit von Zeitzeugen ersparte mühsame Archivarbeit und der Wettbewerb förderte das Genre der journalistischen Recherche. Diese akademische Tradition lebt selbstverständlich bis heute fort.
Viele Publikationen genügten grundlegenden wissenschaftlichen Standards nicht, so wurde etwa auf Grundlage zensierter, veröffentlichter Materialien gearbeitet anstatt mit den Originalen in Archiven, selbst wenn diese zugänglich waren. Ein Beispiel dafür ist die Diskussion der Pläne zur ethnischen Säuberung Palästinas in den Führungsgremien der zionistischen Organisationen in Europa und Palästina. In veröffentlichten Protokollen und Tagebüchern etc. konnten israelische Historiker keine Hinweise darauf finden und schlossen daraus, dass es keine Pläne für den „Transfer“, d.h. ethnische Säuberung, gab. Die Hinweise auf die entsprechenden Diskussionen der zionistischen Führung waren jedoch schlicht vor der Veröffentlichung zensiert worden.
Was heute „oral history“ genannt wurde, bildete die Grundlage vieler Arbeiten, doch mit Aussagen von Zeitzeugen wurde nicht sorgfältig gearbeitet, Widersprüche bewusst ausgeblendet. Palästinensische Narrative wurden vollkommen ignoriert. So wird bis heute der Mythos gepflegt, die palästinensischen Notablen hätten die arabische Bevölkerung über Rundfunk und in Flugblättern zur Massenflucht aufgefordert, obwohl diese Behauptungen ernsthafter Forschung nicht standhalten können.

Neue Entwicklungen nach 1967

Der Eichmann-Prozess 1961 stellte ein Thema zur öffentlichen Diskussion, das bis dahin in Israel weitgehend tabu war: den Holocaust. Kommunisten, andere linke Organisationen und orthodoxe Juden hatten die zionistische Führung schon lange wegen ihrer Haltung während des Massenmords an den Juden Europas angegriffen, hatten ihr mangelndes Engagement zur Rettung, Appeasement-Politik gegenüber dem deutschen Faschismus und selbst Kollaboration mit dem Nazi-Regime (besonders in den 30er Jahren) vorgeworfen. Daneben wurde die Rolle der Judenräte (die von den Nazis geschaffene Struktur in den Ghettos und Lagern) diskutiert. In einem Punkt waren sich Zionisten und Antisemiten einig gewesen: dass Juden nicht in Europa leben sollten. Wichtige Vertreter der zionistischen Führung hielten an der Priorität des Aufbaus eines zionistischen Gemeinwesens in Palästina gegenüber der Rettung von Juden aus Europa fest: „Die Katastrophe der europäischen Juden ist nicht direkt meine Angelegenheit“, sagte David Ben-Gurion.1
„Sollten wir jedem helfen, ungeachtet der Qualität der Menschen? Sollten wir dieser Aktivität nicht einen zionistischen, nationalen Charakter geben? Natürlich ist es grausam, die Frage so zu stellen, aber leider müssen wir festhalten, dass wenn wir nur zehntausend von fünfzigtausend Menschen, die zum Aufbau des Landes [Israel] beitragen können, zu retten vermögen anstatt einer Million Juden, die eine Last oder bestenfalls passive Elemente sein werden, wir uns Zurückhaltung auferlegen und die zehntausend von den fünfzigtausend retten müssen – trotz der Anklagen und des Flehens der Million. Es ist tröstlich, dass wir dieses Prinzip nicht hundertprozentig anwenden werden können und dass die Million auch etwas bekommt – doch wir müssen dafür sorgen, dass sie nicht zu viel bekommt“, heißt es in einem internen Memorandum der Jewish Agency von Anfang 1943 über die Rettung von Juden vor der Vernichtung.2
Das wichtigste Thema der „Revisionisten“, wie die „neuen Historiker“ Israels auch genannt werden, ist jedoch nicht der Holocaust und das zionistischen Selbstverständnis, sondern die Gründung des Staats Israel und die Katastrophe der Palästinenser: die Vertreibung und die Massaker.
Der Krieg von 1967 hatte eine ernsthaftere Beschäftigung mit „den Arabern“ zur Folge. Die zionistische Führung hatte vor der Staatsgründung angenommen, dass die Zukunft der jüdischen Siedler in Palästina in London und Genf entschieden würde (und darin hatte sie nicht geirrt). Die Palästinenser und die arabischen Nachbarstaaten waren bislang ein Randthema im zionistischen Selbstverständnis und in der israelischen Geschichtsschreibung gewesen.

Die „neuen Historiker“

Einige Strömungen innerhalb der zionistischen Bewegung, wie etwa ha-Shomer ha-Tsa…‘ir (Junger Wächter) bildeten dabei Ausnahmen. Simcha Flapan, einer der Pioniere der „neuen Historiker“, hatte dem Shomer nahe gestanden, kritisierte aber die Heuchelei in dieser Frage, die Kluft zwischen Theorie und Praxis: Letztlich hatte das nationalistische, zionistische Projekt stets Vorrang gegenüber der sozialistischen Rhetorik.
Völlig unhaltbare Fälschungen und Konstrukte der israelischen Propaganda wurden revidiert – was wütende Reaktionen bei Kollegen und in der Öffentlichkeit auslöste; schließlich fanden die „Erkenntnisse“ der neuen Historiker teilweise Eingang in den Mainstream, z.B. wurden einige der Mythen, die sie widerlegten, aus israelischen Schulbüchern getilgt.
In ihren Methoden unterscheiden sich die „neuen Historiker“ nicht von ihren Vorgängern oder anderen israelischen Historikern. Bei der Betrachtung einiger historischer Ereignisse fordern sie bloß wissenschaftliche Kriterien ein, die eigentlich selbstverständlich sein sollten: seriöser Umgang mit Archivmaterial und Zeitzeugen etc. Rechtsgerichtete Kritiker der „neuen Historiker“ werfen einigen von ihnen vor „unwissenschaftlich“ zu arbeiten, da sich ihre Erkenntnisse angeblich v.a. auf oral history stützten – ein Angriff, der einerseits moderne Methoden der Geschichtswissenschaft abqualifiziert und sich andererseits nur gegen unliebsame Ergebnisse, die von solchen Methoden gestützt werden, richtet – denn schließlich stützt sich das traditionelle zionistische Geschichtsbild vor allem auf ausgewählte Zeitzeugen und nationale Mythen.
In einigen Aspekten konnten auch die „neuen Historiker“ die akademischen Mängel ihrer Vorgänger nicht überwinden. Auch ihre Arbeiten sind durch eher journalistischen Stil, selektive Bearbeitung von Material aus britischen und israelischen Archiven sowie völliger Ignoranz arabischer Quellen gekennzeichnet. Mit einigem Abstand betrachtet unterscheiden sich ihre „Erkenntnisse“ historischer Ereignisse nicht von dem, was arabische Historiker schon seit Jahrzehnten schreiben – nur haben diese keine Stimme, weder im Westen noch in der israelischen Gesellschaft.
Den Hintergrund für das Phänomen der „neuen Historiker“ bilden die mit neoliberalen Reformen einhergehenden Auflösungstendenzen der israelischen Gesellschaft, die noch bis Anfang der 90er Jahre sehr stark korporatistisch geprägt war – eine „Privatisierung“ und damit eine Diversifikation der Geschichtsschreibung setzte ein.
Ein weiterer Anstoß war das Entstehen einer linksradikalen Strömung in Israel (der trotzkistische Matspen), die im Gegensatz zur Kommunistischen Partei Israels (die an der Staatsgründung mitgewirkt hatte und in das zionistische Projekt integriert wurde) eine marxistische Analyse des Nahostkonflikts lieferte und die palästinensische Nationalbewegung als antikoloniale Befreiungsbewegung begriff. Weiters forderten sie eine Ende der Diskriminierung der Juden, die aus den arabischen Staaten eingewandert waren, durch das europäisch bzw. US-amerikanisch geprägte Establishment und die Gleichberechtigung der Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft. Einige der „neuen Historiker“ wie Ilan Pappà© wurden von dieser marxistischen Strömung geprägt.
Der bekannteste Vertreter der „neuen Historiker“ ist Benny Morris, und er ist in mehrfacher Hinsicht ein typischer Vertreter dieser heterogenen Gruppe. Wie die meisten Vertreter dieser Strömung studierte er in Großbritannien und ist von der liberalen akademischen Tradition von Oxford und Cambridge geprägt. Die ersten Werke der meisten „neuen Historiker“ erschienen in der Regel auf Englisch und wurden erst später ins Hebräische übersetzt. Zu den eigentlichen Historikern gesellten sich kritische Soziologen wie Baruch Kimmerling und Aktivisten der Friedensbewegung: die Sprachwissenschaftlerin Tanya Reinhart, der ehemalige Vizebürgermeister von Jerusalem Meron Benveniti und einige Journalisten.

Zurück zur Rechtfertigung

Wie unterschiedlich die Schlussfolgerungen dieser Wissenschafter sind, zeigt sich an einer Diskussion, die im britischen Guardian zwischen zwei „neuen Historikern“ aus Israel geführt wurde. Benny Morris (der den Begriff „neue Historiker“ prägte und sich als Führer dieser Strömung versteht) holte unter dem Titel „Friede? Keine Chance“ zu einem Rundumschlag gegen Palästinenser und Araber im Allgemeinen aus. Seine Verurteilung der palästinensischen Nationalbewegung reicht vom Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft in den 30er Jahren bis zu Arafat heute, den er als „unverbesserlichen Lügner“ beschimpft. Er wiederholt dabei die Propaganda-Phrasen, Arafat hätte schon 1978–1979 israelische Friedensangebote und später das „großzügige Angebot“ von Echud Barak in Camp David 2000 abgelehnt.3 Er macht die palästinensische Bevölkerung und die palästinensische Führung für ihre eigene Enteignung, Vertreibung und Ermordung verantwortlich und verwechselt Frieden mit Unterwerfung. Dazu passt auch, dass er die Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft – die rund zwanzig Prozent der israelischen Bevölkerung ausmacht – „eine zunehmend lautstarke, pro-palästinensische, aufständische Zeitbombe“ nennt. Benny Morris, der bis dato als fortschrittlich, links oder zumindest liberal galt, kommt zu dem Schluss: „Wenn [Ben Gurion] ganze Arbeit [d.h. vollständigen …‚Transfer…‘] geleistet hätte, wäre der Nahe Osten heute wohl ein besserer, weniger gewalttätiger Ort, mit einem jüdischen Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer und einem palästinensisch-arabischen Staat in Transjordanien.“4
In einem Leserbrief an den Guardian entgegnet ihm Avi Shlaim: „Was Israel 1948 tat war ethnische Säuberung, und was Benny uns nun erklärt, ist dass Ben Gurion seine Politik der ethnischen Säuberung gründlicher und umfassender durchführen hätte sollen. Benny scheint jeglichen Sinn für Moral verloren zu haben. …… Benny Morris scheint zur israelischen Rechten übergelaufen zu sein. Die israelische Rechte sieht keine andere Lösung für den Konflikt außer Transfer, und Benny scheint diese Ansicht zu teilen.“5

Georg Kreisel

1 Yad Vashem, Collected Research 13 (1980), S. 147
2 Central Zionist Archives, zitiert nach Segev S. 100
3 vgl. Guardian, 23. Mai 2002
4 Guardian, 3. Oktober 2002
5 Guardian, 5. Oktober 2002

Quellen:
Simcha Flapan: The birth of Israel, myths and realities (New York 1987)
Benny Morris: The birth of the Palestinian refugee problem, 1947–1949 (Cambridge 1987)
Ilan Pappe: Britain and the Arab-Israeli conflict, 1948–1951 (New York 1988)
Tom Segev: Ha-milyon ha-shvi…‘i, ha-jire´elim v-ha-sho´a / Die siebte Million, die Israelis und der Holocaust (Jerusalem 1991)
Avi Shlaim: Collusion across the Jordan, King Abdallah, the Zionist movement and the partition of Palestine (Oxford 1988)
Zeev Sternhell: Aux origines d´Israà«l, entre nationalisme et socialisme (Paris 1993)
Yechiam Vaits: Ben chazon l-revizya, me´a shnot historyografya tsiyonut / From vision to revision, a hundred years of historiography of Zionism (Zalman Shazar Centre for Jewish History, Jerusalem 1997)

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