KPÖ-Vorsitzender Walter Baier liefert in seiner im Hamburger Magazin konkret erschienenen Replik auf das Buch „Ami go home – 12 gute Gründe für einen Antiamerikanismus“ einen überzeugenden Beweis dafür, wie ein Buch mißverstanden werden kann, wenn es mißverstanden werden soll. „Was dem Leser auf 142 Seiten zugemutet wird“, schreibt der unredliche Rezensent unter dem Titel „Ungute Gründe“, „ist also ein …‘Antiamerikanismus´, der als abstrakte, inhaltsleere Negation eines nicht weniger abstrakten, geradezu metaphysischen …‘Amerikanismus´ offen auch noch für die reaktionärste Interpretation bleibt“. Baier selbst dürfte sich diese Zumutung nicht angetan haben. Andernfalls hätte er sich mit den angeführten 12 Gründen, in dem die Weseneigenschaften des amerikanischen Herrschaftssystems – wie weit kritikwürdig sei dahingestellt – benannt werden, auseinandersetzen müssen. Wenigstens mit ein paar davon. So aber besteht der begründete Verdacht, daß er nur das Vorwort und das Schlußkapitel gelesen hat, in dem ideologiekritisch der zwölfte, gewissermaßen übergeordnete Grund für den Antiamerikanismus ausgeführt wird, nämlich der Amerikanismus, präziser: der US-Amerikanismus.
Was macht die Beschreibung des reaktionären Wesen des US-amerikanischen Systems „offen auch noch für die reaktionärste Interpretation“? Ist es für Linke inzwischen unstatthaft, auf die latente Gewalt in der amerikanischen Gesellschaft (Kapitel 1) hinzuweisen? Läßt sich die Darstellung der inneren Repression in den USA (Kapitel 2), die der Orwell´scher Schreckensvision ziemlich nahe kommt, reaktionär, gegen das amerikanische Volk gerichtet, interpretieren? Bedient die Benennung der den Völkern von der amerikanischen Supermacht aufgezwungenen Verhältnisse als „Völkerrechtsnihilismus“ (Kapitel 4) reaktionäre Ressentiments? Schafft die in mehreren Kapiteln formulierte radikale Kritik an der amerikanischen Gewaltpolitik Platz für reaktionäre Deutungen? Oder gilt es mittlerweile als reaktionär, den sozialdarwinistischen Charakter einer Weltordnung anzuprangern, in der die USA über die Existenzberechtigung von unabhängigen Nationen bestimmen?
Natürlich will das Genosse Baier so nicht gemeint haben. Natürlich dürfte auch er die „patriot acts“ als im hohen Maße illiberal und das amerikanische Gefängniswesen als extrem inhuman empfinden. Natürlich bestreitet er nicht, daß der Krieg gegen den Irak illegitim war. Natürlich liegt es ihm fern, zu behaupten, daß das totalitäre „Projekt für ein neues amerikanisches Jahrhundert“ ein globales Wohlfahrtsprogramm darstelle. Warum aber unterstellt er dann den Buchautoren „ungute Gründe“? „Was Langthaler und Pirker darüber hinaus unternehmen“, schreibt er, ist ein Versuch, der nach dem jüngsten Irakkrieg in Europa landläufig gewordenen Kritik am militaristisch-hegemonialen Charakter der US-Außenpolitik (…) ein populäres Programm zu unterlegen“ – was einem „Arbeiterführer“ wie Walter Baier natürlich äußerst suspekt sein muß. Warum es dem Kritiker der zwölf Gründe aber tatsächlich geht, ist die generelle Zurückweisung einer fundamentale Kritik am US-amerikanischen System in seiner Totalität.
Mit seiner Position befindet sich der KPÖ-Chef voll im zeitgeistigen Trend, dessen Meinungsführer in immer gleichen Wendungen die Legitimität einer kritischen Position gegenüber der US-amerikanischen Politik beschwören. Solange sich der Diskurs im politisch korrekten Rahmen bewegt, was sich als eine äußerst elitäre Veranstaltung erweist. Unkorrekt wird es dann, wenn USA-kritische Haltungen die Massen ergreifen. Dann gerät die Kritik in die Gosse eines primitiven Antiamerikanismus, dann herrscht das dumpfe Ressentiment, und der Irrationalismus treibt seine Blüten. Welch ein Unglück, wenn sich Protagonisten der Friedens- und globalisierungskritischen Bewegung, zu denen sich die KPÖ-Führungsgruppe zählt, plötzlich vor die fatale Situation gestellt sehen, daß auch die „dumpf-reaktionäre Masse“ von einer pazifistischen Stimmung beherrscht wird. Da ist dann Distanz gefordert, um nicht in den Sog der niedrigen Instinkte zu geraten. Von da aus ist es dann auch zu der Unterstellung nicht mehr weit, daß die pazifistischen Haltungen der Mehrheitsbevölkerung in Deutschland und Österreich von deutsch-völkischen Vorurteilen geprägt seien.
Die in dem Buch enthaltene Bemerkung, daß die Friedensbewegung, ohne sich dessen wirklich bewußt geworden zu sein, so nah wie noch nie zum Massenbewußtsein vorgedrungen sei wie in der Zeit vor dem Irak-Krieg, kontert Baier mit der höhnischen Bemerkung, daß sich von Marx, Gramsci oder Lenin inspirierte Linke bisher auf die Idee kapriziert hätten, spontanes Massenbewußtsein zu verändern und nicht zu ihm vorzustoßen. Erstaunlich genug, daß uns der Rezensent in der Rolle eines orthodoxen Leninisten – was sicher nicht seine erklärte Lieblingsrolle ist – gegenüber tritt. Erbärmlich wird es, wenn er Lenins Kritik der Spontaneitätstheorie auf eine Weise rezipiert, wie sie undialektischer nicht sein kann. Lenin hatte die Notwendigkeit einer revolutionären Partei vor allem damit begründet, daß die Arbeiterklasse aus sich heraus kein sozialistisches Bewußtsein entwickeln könne und es deshalb in die Bewegung hineingetragen werden müsse, was für die heutige Bewegung gegen die neoliberale Globalisierung im übrigen noch viel mehr gilt. Doch nicht minder war der russische Revolutionsführer vom „lebendigen Schöpfertum der Massen“ überzeugt.
Eine auf die Veränderung der Gesellschaft gerichtete Theorie ist nur dann lebensfähig, wenn sie den gesellschaftlichen Organismus als ganzes reflektiert, und damit auch das ständigen Veränderungsprozessen ausgesetzte gesellschaftliche Bewußtsein. Die Oktoberrevolution fand statt, als das theoretische Wissen um die Notwendig einer radikalen Umwälzung der Verhältnisse mit der spontanen Einsicht der Volksmassen in die Unerträglichkeit ihrer Lebensbedingungen zusammenfiel. Das auslösende Moment des revolutionären Massenaufschwungs war der imperialistische Krieg.
Von dieser „revolutionären Dialektik“, wie sie Lenin zum Maßstab theoretischen Denkens und seiner Wechselwirkung mit der realen Bewegung gemacht hat, ist heute in der historischen Linken, einschließlich ihres kommunistischen Teils, kaum noch etwas zu spüren. Andernfalls hätte sie die gewaltige Chance, die das spontane Aufbegehren von Millionen gegen den Irak-Krieg – was in dieser Breite, Vehemenz und Klarheit nicht erwartet werden konnte – eröffnet hatte, besser zu nutzen verstanden.
In der Zeitschrift für marxistische Erneuerung beschreibt Frank Ungar, ein in Vancouver lehrender Politologe, diese Eruption im Massenbewußtsein: „Alle diese Gegner Amerikas wissen es vielleicht nicht so genau, aber sie ahnen und fühlen es, daß die sie bedrängenden Zumutungen neoliberaler Reformen und die damit einhergehenden Verunsicherungen ihrer ganz individuellen Existenzen direkt und indirekt bestimmt wird durch die praktische Politik und Ideologie besonders eines Landes in der Welt, nämlich der Vereinigten Staaten von Amerika. Jahrelang waren die nicht-besitzenden Massen dieser Welt wie gefesselt und eingeschüchtert angesichts des Status und des unberührbaren Prestiges der einzig verbliebenen Supermacht, die sich mit naturrechtlichem Pathos die Durchsetzung des absoluten Privateigentums als Grundlage einer globalen Normenordnung zu ihrem erklärten politischen Ziel gemacht hat. Dies und nichts anderes nämlich ist Amerikanismus“. Das ist keine kulturelle und schon gar keine anthropologische Kategorie und ebensowenig ist das der Antiamerikanismus. Er ist die demokratisch motivierte und politisch wohl begründete Gegnerschaft zum imperialistischen System der USA.
Doch dem „kritischen Bewußtsein“ war das Rendezvous mit dem Massenbewußtsein eher peinlich. Die Nomenklatura der globalisierungskritischen Bewegung ignorierte die demokratischen Impulse von unten. Anstatt zu versuchen, dem spontanen Antiamerikanismus einer höheren Bewußtseinsform zuzuführen, stellte sie sich an die Spitze seiner Denunzianten. Diese Haltung fand nach der Eroberung des Iraks in der stillschweigenden Tolerierung der Besatzungsmacht ihre Fortsetzung. Weit davon entfernt, Proteste gegen die illegale Okkupation zu organisieren, um den verlorenen Kampf gegen den Ausbruch des Krieges mit nun wesentlich größeren Erfolgsaussichten fortzusetzen, ereifern sich linke Mainstream-Ideologen umso aufgeregter über die „brutalen, menschenverachtenden und antiemanzipatorischen“ Methoden des irakischen Widerstandes. Diesem Bild des Schreckens steht die Vision einer irakischen Zivilgesellschaft gegenüber, die herzustellen die Amerikaner versprochen haben.
„Langthaler/Pirker“, gibt Walter Baier seinem Erstaunen Ausdruck, „können es sich nicht einmal verkneifen, im …‘irakischen Widerstand´ den jüngsten Ausdruck einer Tendenz zum …‘globalen Gegenmodell des Amerikanismus´ zu erkennen“. Das bleibt so im Raum stehen – als eine sich selbst kommentierende Passage. Der KPÖ-Vorsitzende entfaltet seine Polemik gegen den Antiamerikanismus nämlich in einem ihm würdigen Ambiente. Im Zentralorgan der Antinationalen bedarf es keiner umständlichen Begründungen, um der Bevölkerung eines besetzten Landes ihr völkerrechtlich verbrieftes Recht auf nationalen Widerstand abzusprechen. Die Behauptung, daß sich im irakischen Widerstand die globale Bewegung gegen Neoliberalismus und Imperialismus fokussiert, konnte sich im übrigen auch Arundhati Roy, die imponierendste Erscheinung im globalisierungskritischen Lager, nicht verkneifen – sehr zum Mißfallen der reformistischen Wortführer der Bewegung, einschließlich der KPÖ-Nomenklatura.
Es ist schon eigenartig, daß im kommunistischen Namen auftretende Strömungen, wie die in der KPÖ vorherrschende, ihr letztes politisches Potential dafür zu nutzen versuchten, der Antikriegsbewegung die radikale, gegen das amerikanische Reich gerichtete Spitze zu brechen, die Entwicklung spontan antiimperialistischer Haltungen in Richtung eines abstrakten Pazifismus zurückzudrängen, um dann auch noch den spontan-pazifistischen Grundkonsens (Gegen den Krieg) im Sinne des bürgerlichen common sense (Gegen Krieg und Baath-Regime) zu unterlaufen, was letztlich auf eine Affirmation des „Regime change“ genannten amerikanischen Kriegsziels hinauslief. Da versteht es sich nachgerade von selbst, daß eine solche Partei innige Beziehungen zur Irakischen KP unterhält und deren Beteiligung an dem von der Besatzungsmacht eingesetzten Eingeborenen-Rat als Beitrag zum Aufbau eines demokratischen Iraks zu würdigen weiß.
Was will uns der Kritiker eines „metaphysischen Antiamerikanismus“ eigentlich wirklich sagen? Daß sich die Kritik an den USA in Grenzen halten müsse? Darauf läuft es zwar hinaus, aber so platt will er das sicher nicht gemeint haben. Daß ein differenziertes Amerika-Bild zu entwickeln sei? Dem ist nicht zu widersprechen. Ebenso wie der Tatsache, daß die amerikanische Gesellschaft von Widersprüchen, sogar von äußerst krassen sozialen Widersprüchen geprägt ist, was klarzumachen sicher mehr in der Absicht der Buchautoren lag als in der ihres Kritikers, der es vorzieht, die positiven Züge des „american way of life“ darzustellen. Ach ja, das will er uns sagen: „It´s the economy, stupids!“ – Es geht um die Ökonomie, Dummköpfe!
Mit der Attitüde des gebildeten Marxisten hält Walter Baier, zur Zeit Doktorand der Wirtschaftswissenschaften, den Autoren vor, ihr „Konstrukt des Amerikanismus“ begründe sich „primär nicht in ökonomischen Verhältnissen, sondern vielmehr in einem …‘universalistischen Anspruch´, der heutzutage über den …‘Status des Dollars´ und die …‘Stärke der Wallstreet´ weltweit durchgesetzt werde“. Verkehrter kann ein Text kaum gelesen werden. Denn aus diesem geht klar hervor, daß der Amerikanismus nicht in seinem universalistischen Anspruch begründet ist, sondern der universalistische Anspruch im Amerikanismus. Dieser Anspruch wird ausdrücklich als Anmaßung, als ideologischer Ausdruck der Weltherrschaftspolitik der USA benannt. Außerdem: Bezieht sich die Beschreibung des Dollars als Leitwährung, über den die Vereinigten Staaten die Kontrolle über die internationalen Finanzmärkte ausüben (Kapitel 6: Globalisierung als politische Ökonomie des Amerikanismus) etwa nicht auf die ökonomischen Verhältnisse?
Was Baier durchgängig zum Ausdruck bringen will, ist seine Wertschätzung des amerikanischen Zivilisationsmodells als Sturmbock der Moderne. Als Kronzeugen führt er Marx und Gramsci, aber auch Hobsbawm und Chomsky an.“Ein gewisser Karl Marx“, ruft er in Erinnerung, habe den amerikanischen Bürgerkrieg als Sturmglocke für die europäische Arbeiterklasse bezeichnet. Es ist hier nicht der Platz über die Richtigkeit der Marxschen Prognose zu streiten. Jedenfalls läßt der Fortschritt, den die Sklavenbefreiung im 19. Jahrhundert bedeutete, ja auch auf die Rückständigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung schließen, die bis spät in die Neuzeit die Sklaverei aufrechterhielt.
Natürlich ist es unbestritten, daß sich die amerikanische Gesellschaft im ständigen Kampf zwischen progressiven und reaktionären Tendenzen entwickelte. Ebenso klar sein sollte aber auch, daß sich die progressiven Züge des amerikanischen Kapitalismusmodells spätestens seit 1945 erschöpft haben. Von da an bildeten die USA das Gravitationszentrum der antikommunistischen Revanche und der Zurückdrängung der nationalen Befreiungskräfte. Nach dem Ende der Sowjetunion begann der US-Imperialismus seine Aggressionspotential umso ungehinderter zu entfalten. Nun galt es, das Diktat über die in Abhängigkeit gehaltenen Länder dauerhaft zu festigen. Die von der Bush-Administration entwickelte Doktrin des „endlosen Krieges gegen den Terror“ dient einzig der präventiven Aufstandbekämpfung. Das ist ein imperialistische Programm, das in seinem totalitären Ausschließlichkeitsanspruch, verbunden mit moralischer Selbstüberhöhung, beispiellos ist. Die Sturmglocke des permanenten Krieges verheißt dem Weltproletariat Tod und Verderben. Um das zu erkennen, bedarf es keiner Ausflüge in die Metaphysik. Metaphysisch ist es vielmehr, eine amerikanische Moderne zu affirmieren, die sich längst auf den Marsch in die Barbarei begeben hat.
Wenn Baier – in polemischer Absicht – den Begriff „Amerikanismus“ verwendet, dann stets im affirmativen Sinn. Zum Beispiel, wenn er den britischen „Jahrhundert-Historiker“ Eric Hobsbawm als Zeugen eines richtig verstandenen Amerikanismus zitiert: „Jazz bedeutete Amerika und damit Moderne. Ein Jazzfan sein, heißt nicht nur, aus offensichtlichen Gründen gegen Rassismus und für die Neger zu sein (erst später sollten sie als Schwarze und dann als Afroamerikaner bezeichnet werden), sondern auch Amerika kennenzulernen“. Es gehört schon einiges dazu, ein ursprüngliches Moment der Selbstaffirmation und des kulturellen Protestes der schwarzen Bevölkerung gegen den weißen Rassismus zur Verteidigung des american way of life heranzuziehen. Es stimmt schon, daß die herrschende weiße Kultur den schwarzen Jazz adaptiert hat, was bei aller Restriktivität des amerikanischen Systems auch dessen erstaunliche Integrationsfähigkeit und Flexibilität unter Beweis stellt. Aber ist der Jazz deshalb Amerika? Kennzeichnend für Amerika ist doch in weit höherem Maße die anhaltende strukturelle Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung, das US-Gefängniswesen, über das sich der Staat die soziale Frage vom Leib zu schaffen versucht, das eine neue Form von Sklavenarbeit hervorgebracht hat und dessen bevorzugte Opfer Afroamerikaner sind. Natürlich war die Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassendiskriminierung imposant. Doch daß sie bis in die 1960er Jahre zu kämpfen hatte, um den freien Zugang von Afroamerikanern zu den Universitäten durchzusetzen, zeugt umso vom reaktionären Charakter der amerikanischen Gesellschaft.
Der Rezensent dichtet in das Buch einen generalisierenden, im Grunde chauvinistischen Antiamerikanismus hinein und mahnt eine dialektische Differenzierung an, wie sie Lenin in seiner Theorie der zwei Nationen, in die sich jede moderne Nation teile, vorgenommen hat. Baiers „leninistischem Einwand liegt die Unterstellung zugrunde, daß der Gegenstand der Kritik am Amerikanismus die amerikanische Nation sei. Doch hat das Aufzeigen der inneren Unterdrückung in den USA ja genau diese Differenzierung zur Voraussetzung. Lenin unterschied in dialektischer Ergänzung zur Theorie von den zwei Nationen freilich auch zwischen Unterdrücker- und unterdrückte Nationen, wobei er der ersten Kategorie die russische Nation zurechnete, ohne daß man ihm deshalb Russophobie hätte vorhalten können. Von dieser Differenzierung aber will der große Dialektiker aus Wien nichts wissen. Er ist im linksliberalen Geist der Zeit dem Nationalismus grundsätzlich abgeneigt. Lenin hat wie kein anderer marxistischer Theoretiker die nationale Frage in ihrem revolutionären Gehalt aufgeworfen. Baier, der sie auf antinationale Weise rezipiert, sollte sich deshalb besser nicht auf ihn berufen. Wir haben konstatiert, daß Opfer des Amerikanismus nicht zuletzt auch die amerikanischen Massen sind. Baier führt soziale Bewegungen in den USA an, um den offenen, pluralistischen, zivilgesellschaftlichen Charakter des Amerikanismus hervorzuheben.
Zu fragen ist allerdings, wie entwickelt dieses „andere Amerika“ ist. „Eine der abstrusesten Generalisierungen bei Langthaler und Pirker“, notiert Walter Baier. sei die Behauptung. daß sich in den USA nie ein wirkliches Klassenbewußtsein und ergo auch kein demokratisches herausgebildet habe. Daß die amerikanische Arbeiterschaft in keiner Phase ein über den elementarsten Syndikalismus hinausgehendes Bewußtsein entwickelt hat, müßte eigentlich als bekannt vorausgesetzt werden. Ebenso sollte es für Marxisten kein Streitthema sein, daß das Niveau der Demokratie, auch der bürgerlichen, von der Entwicklung des sozialen Diskurses maßgeblich bestimmt wird. Daß die US-Gesellschaft nicht einmal formal-demokratischen Mindeststandards gerecht wird, machte die Nominierung von George W. Bush zum Präsidenten der USA deutlich. Die Vereinigten Staaten sind das Land unter den kapitalistischen Industriestaaten, in dem die Hegemonie der imperialistischenOligarchie am drückendsten ist, die antikapitalistischen Kräfte am schwächsten sind und das Massenbewußtsein am reaktionärsten ist. Das hat seine Genesis in den ursprünglich progressiven Voraussetzungen der Entwicklung des Kapitalismus in den USA, weil dort das Prinzip der bürgerlichen Gleichheit ungebrochener zur Geltung kam als in Europa, wo die Bourgeoisie an aus der Feudalzeit stammenden Privilegien festhielt und sich die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft über die politische Formierung von – in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehenden – Klassen vollzog. Das Fortwirken des mit dem „American Dream“ verwobenen Gleichheitsmythos hat nie ein antagonistisches Klassensubjekt entstehen lassen. Über die „reiche Tradition der gewerkschaftlichen wie auch wissenschaftlichen Linken in den USA, die Bewegungen der Afroamerikaner und der Native Americans, den Feminismus, die Friedens- und Menschenrechtsbewegungen“ ins Schwärmen geraten kann daher nur jemand, der das Klassenkampf-Paradigma durch das zivilgesellschaftliche ersetzt hat.
Der Vorwurf des metaphysischen Antiamerikanismus suggeriert natürlich auch eine Affinität zu Verschwörungstheorien. „Wo Verschwörungstheorien ins Kraut schießen“, so Baiers ehrenrührige Bemerkung an die Adresse der Autoren – „ist in der Regel der Antisemitismus nicht weit“. Nun ist der Antisemitismus in der Tat verschwörungstheoretisch – von den Juden als Gottesmörder bis zur jüdischen Weltverschwörung – begründet. Aber nicht jede Verschwörungstheorie ist antisemitisch. Auch der Zionismus basiert auf der Annahme, daß sich die ganze Welt gegen die Juden verschworen habe, woraus er seine Mobilisierungskraft bezieht und womit er alle Völkerrechtsvergehen Israels rechtfertigt. Und auch die gängige Gleichsetzung von Antiamerikanismus und Antisemitismus folgt einem verschwörungstheoretischen Muster, weil sie einen Kausalzusammenhang suggeriert, argumentativ nicht ausgewiesen ist und jede rationale Diskussion – durch die Stigmatisierung der Gegenposition als irrational – blockiert.
Die bedauernde Schlußbemerkung des Parteivorsitzenden, daß einer der beiden Autoren es einmal besser gewußt habe, weise ich an ihn zurück.