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„Wir werden überall das Feuer entfachen“

14. März 2004

Jabbar al-Kubaysi über die politische Widerstandsfront im Irak

Wie entwickelt sich der Widerstand gegen die Besatzung?
Ein Beispiel aus dem Alltag: Alte Frauen werden allgemein als unpolitisch wahrgenommen. Doch ich komme oft in die Situation, ältere Frauen fragen zu hören, weshalb ihre Söhne und Enkelsöhne immer noch zu Hause und nicht dort draußen mit dem Widerstand seien. Der Widerstand wird nicht als Bemühung einer kleinen radikalen Minderheit gesehen, sondern als Anliegen des Volks. Jeder hat nach seinen Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten.
Aber gibt es nicht signifikante Unterschiede zwischen dem schiitischen Süden und dem sunnitischen Norden?
Der Unterschied ist geringer, als in den westlichen Medien behauptet wird. Während des letzten Ramadan beispielsweise haben Sunniten und Schiiten erstmals seit dem Schisma am selben Tag zu fasten begonnen. Das ist ein unwiderlegbares Zeichen.
Die Schicht der Kollaborateure des Klerus, der Scheichs, der selbsternannten Politiker und der so genannten Zivilgesellschaft von verwestlichten, zurückgekehrten Intellektuellen ist sehr dünn. Auch Hakims bewaffnete al-Badr-Brigaden und Talabanis Miliz, die unter dem Deckmantel ba…‘thistische Terroristen zu jagen all jene verfolgten, die mit dem Widerstand sympathisierten, sind heute gezwungen im Untergrund zu operieren. Sie haben aufgrund ihrer Kollaboration den Rückhalt verloren, während es den Unterstützern des Widerstands langsam möglich wird durch den Ärger der Bevölkerung in der Öffentlichkeit zu operieren.
Große Massen…­de…­mons…­tra…­tionen in den Städten des Südens, in Kut, Nas…­siriya und Amara, forderten nach Zusammenstößen mit der Be…­sa…­tzungsmacht dutzende Tote und noch mehr Verletzte. Die Demonstranten waren hauptsächlich frühere Angestellte des öffentlichen Dienstes – Lehrer, Universitätsprofessoren, Beamte, Straßenkehrer oder Soldaten – welche mit dem Argument Ba…‘thisten zu sein massenhaft auf die Straße gesetzt worden waren. Viele unter ihnen waren tatsächlich Mitglieder der Ba…‘th-Partei, einige aus Überzeugung, der Großteil aus Karrieregründen – die meisten sind schiitischer Herkunft.
Vor einem halben Jahr, als die proamerikanischen Kräfte eine regelrechte Hexenjagd, ähnlich der McCarthy-Ära, betrieben, mit tausenden Toten, wäre das unmöglich gewesen. Heute hat sich das politische Klima radikal verändert. Ba…‘thismus und die Mitglieder der Ba…‘th-Partei werden als Teil der irakischen nationalen Tradition akzeptiert.
Die Demonstranten verlangten nicht nur, dass sie wiedereingestellt und ihre Gehälter bezahlt werden, sie kombinierten ihr sozialen Forderungen mit der Forderung nach dem Ende der Besatzung. Auch militärische Aktionen nehmen im Süden zu.
Wo findet der Widerstand den stärksten Rückhalt?
Die Situation ist sehr dynamisch. Die Lage im Süden gleicht heute der Fallujas im Sommer. Die Amerikaner haben über jede Stadt eine Ausgangssperre verhängt. In Falluja ist es anders: Dort hat der Widerstand den Amerikanern eine Ausgangssperre auferlegt. Sie mussten die Stadt verlassen und ihre Basis aufgrund der anhaltenden Angriffe außerhalb installieren. Bei Nachteinbruch darf sich keiner von ihnen in der Stadt zeigen. Doch es gibt noch andere Städte, die unter voller Kontrolle des Widerstands stehen.
In vielen Teilen leidet die Bevölkerung unter Methoden der Kollektivbestrafung durch die Amerikaner, so wie sie die Zionisten in Palästina anwenden. Besonders gravierend ist die Situation in Tikrit, wo ganze Dörfer zerstört und isoliert wurden.

Die politische Widerstandsfront

Wieso gibt es noch keine politische Widerstandsfront?
Es ist nicht notwendig sich zu beeilen. Der militärische Widerstand ist stark, 45 bis 70 Angriffe pro Tag, so dass die US-Truppen zunehmend in militärische, finanzielle und politische Probleme geraten. Und politisch gesehen erweist sich die USA als unfähig die Situation zu stabilisieren. Ihr Marionettenregime wird verstärkt isoliert. Nicht nur die Mitglieder des sogenannten Übergangsrats, auch die mit ihnen kollaborierenden Parteien müssen von der Besatzungsmacht beschützt werden. Das zeigt den Menschen, was sie wirklich sind.
Ich werde ein Beispiel aus meiner Heimatstadt Falluja bringen: Nach der Festnahme Saddam Husseins wurden, wie auch in anderen Städten, viele Parteizentralen von kollaborierenden Kräften durch die Bevölkerung zerstört. Als Rache zerstörten die Panzer der US-Armee das Büro der Patriotischen Allianz. Es zeigt sich, dass die Zeit ein guter Verbündeter auf der Seite des irakischen Volks ist.
Die Hauptkräfte des Widerstands haben sich bereits getroffen und ein Entwurf eines gemeinsamen Programms wird besprochen. Die Front wird sich bald öffentlich deklarieren können. Wenn die USA versuchen ihren Marionetten ein wenig Macht zukommen zu lassen, Mitte des Jahre, wird es vielleicht bereits möglich sein sich als Alternative zu präsentieren.
Welches Programm gibt sich die politische Widerstandsfront?
Kurz zusammengefasst das folgende:
1. Die Besatzung muss beendet und alle fremden Truppen aus dem Irak abgezogen werden. Wir verlangen einen vollkommen souveränen, unabhängigen und vereinigten Irak.
2. Alle Formen des Widerstandes gegen das imperialistisch-zionistische Projekt der Besatzung sind legitim.
3. Die Besatzung ist illegal. Deshalb verlagen wir von den Besatzern die Übernahme der vollen Reparationskosten.
4. Alle durch die Besatzer eingesetzten Institutionen sind illegitim. Wir werden diese nicht akzeptieren und auch als legitime Angriffsziele verstehen, falls sie irakisches Personal beschäftigen.
5. Der befreite Irak, für den wir kämpfen, basiert auf den gleichen Rechten aller Bewohner, der politischen Freiheit und auf einer durch die Bevölkerung eingesetzten Verfassung. Diese wird die arabisch-islamische Kultur des Irak schützen.
6. Die amerikanische Besatzung des Irak ist unleugbar mit der zionistischen Besatzung in Palästina verbunden. Das Projekt dieser Besatzungen muss von der arabischen Nation gemeinsam bekämpft werden.
7. Die politische Front ist gegenüber allen Kräften offen, auch wenn diese sich uns erst später anschließen.
8. Die Aggression gegen und die Besatzung des Irak ist nur ein Aspekt des Versuches der USA ein amerikanisches Imperium zu errichten. Unser vorrangiges Ziel ist es daher die Menschheit gegen ihren größten Feind, die USA, zu verteidigen.
9. Wir werden versuchen eine arabische und internationale Front zur Befreiung Palästinas und des Irak zu bilden und das Amerikanische Imperium zu schlagen.
Welche Kräfte sind Teil der politischen Front?
Es gibt vier Hauptströmungen im Land. Wir, die Irakische Patriotische Allianz, die ich als antiimperialistisch und arabisch-nationalistisch beschreiben kann. Wir stehen für Demokratie und soziale Gerechtigkeit, für den Respekt und den Schutz unseres islamischen Erbes. Des Weiteren das sunnitische Islamische Komitee, das die bedeutendsten islamischen Kräfte umfasst. Dieses steht in Opposition zur Muslimbruderschaft, die mit dem Feind kollaboriert. Sie sind bereit mit jedem, der Widerstand leistet, zusammenzuarbeiten – auch mit Christen und Kommunisten. Die dritte Kraft sind Nasseristen, die sich gerade erst reorganisieren. Und schlussendlich die antiimperialistischen kommunistischen Kräfte der IKP (Zentralkommando), die langjährige Freunde sind und mit denen wir hoffen zusammen arbeiten zu können. Während die Hauptkräfte der IKP in den 70er Jahren mit Saddam kooperierten und regierten, wurden die antiimperialistischen Kommunisten und linken Ba…‘thisten eingesperrt. Es gibt noch einige weitere regionale Partein und Koordinationen sowie angesehene Würdenträger, die sich zum Widerstand bekennen.
Und schiitische Kräfte?
Die schiitische Bevölkerung stellt einen bedeutenden Teil der von mir genannten Kräfte dar, in einigen sogar die Mehrheit. Die von den Amerikanern verbreitete Idee, die Schiiten seien ein isolierter, für sich stehender Teil der Gesellschaft, ist nicht zutreffend. Die meisten Schiiten begreifen sich selbst als arabisch, irakisch und beteiligen sich als solche am politischen Kampf. Obwohl sie in der Praxis des Glaubens dem Klerus folgen, gibt es nur wenige, die dies politisch tun. Die kommenden Ereignisse werden es beweisen. Die einzige Möglichkeit des schiitischen Klerus Einfluss zu nehmen ist es, den Widerstand zu unterstützen. Eine steigende Anzahl des schiitischen Klerus und der Scheichs unterstützt bereits unsere politische Front.
Und Muqtada al-Sadr?
Er spielt eine zwiespältige Rolle. Auf der einen Seite steht er von seinen Anhänger aus den unteren Schichten verstärkt unter Druck sich dem Widerstand anzuschließen. Wir haben engen Kontakt zu vielen Kadern seiner Bewegung, die ehrlich versprochen haben mit uns zusammenzuarbeiten. Auf der anderen Seite gibt es einen starken iranischen Einfluss in die andere Richtung. Wir werden auf jeden Fall versuchen mit ihm in Kontakt zu bleiben, aber wir können nicht zulassen, dass solch unentschlossene Kräfte im Namen einer politischen Widerstandsfront sprechen.
Aber sind die schiitischen Gläubigen nicht an das Wort ihres Klerus gebunden?
Die alltägliche Erfahrung der Besatzung sollte nicht unterschätzt werden. Um einen Mann zu fassen terrorisieren die US-Truppen ganze Dörfer. Auch wenn es ihnen nicht gelingt den Gesuchten festzunehmen, bestrafen sie ganze Familien, indem sie ihre Häuser zerstören. Während in Palästina die Olivenbäume abgeholzt werden, verbrennen sie hier unsere Dattelpalmen, da sie unserer Guerilla angeblich als Versteck dienen. An Kontrollposten werden 10-jährige Kinder getötet, weil sie Plastikpistolen auf die Besatzer richten. Wenn die Soldaten sich gefährdet fühlen, schießen sie wahllos. Das sind keine Geschichten aus dem Norden, es betrifft alle. Deshalb werden auch die Schiiten dem Widerstand folgen. Und zumindest ein Teil des Klerus wird sich unter dem Druck der zunehmenden Stimmung für den Widerstand diesem anschließen. Es ist in erster Linie eine politische und keine religiöse Entscheidung mit dem Widerstand zu sein. Man darf nicht vergessen, dass die schiitische Bevölkerung hoch politisiert wurde und die traditionellen sozialen und kulturellen Strukturen weniger stark erhalten sind als in anderen Milieus.

Demokratische verfassungsgebende Versammlung

Wie denken Sie über eine demokratische verfassungsgebende Versammlung?
Wenn ich gegenüber der einfachen irakischen Bevölkerung von Demokratie spreche, werden sie mich mit Schuhen treten. Was bedeutet Demokratie? Sie wissen, dass das Embargo über sie verhängt wurde, um ihnen Demokratie zu bringen, ebenso wie der Krieg und die heutige Besatzung. Die Demokratie, von der sie sprechen, ist eine Waffe gegen unser Volk, da wir uns der westlichen Welt nicht unterordnen wollen.
Doch jeder Befreiungskampf, jede Revolution gegen ein Besatzungsregime muss sich auf den Willen der Bevölkerung stützen.
Natürlich. Doch muss man verstehen, dass wir keine Tradition des Instruments einer verfassungsgebenden Versammlung haben. Wir können nicht im Widerspruch zu den traditionellen sozialen Bräuchen und Netzwerken arbeiten, um so stärker als diese der Besatzung widerstehen. Wir müssen vielmehr diese Elemente mit der Volksbewegung auf der politischen Basis des Kampfs gegen die Besatzung verbinden. Wir werden nationale Treffen von Vertretern der widerständischen Arbeiter, Bauern, Studenten und der Volksmassen organisieren und diese mit Massendemonstrationen kombinieren. Damit wird der Übergangsrat delegitimiert sowie alle diesem ähnliche Marionetteninstitutionen.
Nach welchen Prinzipien wird sich eine Gegenmacht konstituieren?
Die Entwicklung basiert auf der Forderung der Souveränität des irakischen Volks, auf dem Bestehen auf unsere eigene Demokratie auf der Grundlage der Interessen unseres Volks und nicht des Imperialismus. Wir streben nach einer demokratischen Verfassung, die vom Volk durch Inanspruchnahme ihres Rechts auf Selbstbestimmung erlassen wird. Diese umfasst gleiche Rechte für alle, egal welcher Religion oder Nationalität sie angehören, sowie das Recht politische Parteien zu bilden und sie zu wählen. Ein freier Irak wird unsere islamisch-arabische Kultur verteidigen.

Vereinte Nationen

Viele sagen, dass freie Wahlen nur unter der Kontrolle der Vereinten Nationen abgehalten werden können.
Wie kann eine vernünftige Person denken, dass das irakische Volk Vertrauen in die Vereinten Nationen haben könnte? Die Uno hat das Embargo über uns verhängt, das an die zwei Millionen Menschenleben forderte und ein vormals reiches Land restlos zerstörte. Die Uno rechtfertigte 1991 die Aggression gegen den Irak und getraute sich nicht ein einziges Wort gegen die permanenten Verletzungen des internationalen Rechts durch die USA und Großbritannien zu verlieren. Die Uno ist nichts anderes als eine Marionette des amerikanischen Imperialismus. Das Völkerrecht ist einfach nicht gültig – nicht für sie und nicht für uns. Sie verletzen es ohne mit Folgen rechnen zu müssen und uns wird es verweigert. Der Zionismus beispielsweise bricht jedes internationale Gesetz ohne Strafverfolgung. Wir werden keinem Land erlauben uns zu besetzen, ob es nun unter dem Deckmantel der Uno geschieht oder ohne UN-Resolution. Wenn wir Wahlen abhalten, so werden wir internationale Beobachter einladen, aber wir werden jedes Land, das die Besatzung der USA unterstützt, davon ausschließen.
Es wird gesagt, dass es ohne die Aufsicht der Vereinten Nationen zum Bürgerkrieg kommen wird.
Das versuchen sie anzuzetteln. Sie zeichnen ein Szenario, in dem Sunniten gegen Schiiten, Kurden mit den Schiiten gegen Sunniten und Muslime gegen Christen stehen. Sie versuchen unsere arabisch-islamische Identität, die unsere Einheit bedeutet, zu zerstören. Deshalb kann nur der Widerstand die Einheit der irakischen Bevölkerung garantieren. Nur vereint werden wir uns von der Besatzung befreien können und man wird sehen, dass auch unter den Kurden, deren momentane Führung unter Barzani und Talabani stark mit den USA kollaboriert, der Widerstand stärker wird und uns der Islam als gemeinsames Band zusammen hält.
Wie kann man gegen die gesamte Welt, die sich als Einheit unter dem Banner der Uno präsentiert, siegen?
Wer war auf unserer Seite, als wir ausgehungert und in einem ständigen Krieg zerbombt wurden? Wir scheren uns nicht um Uno und Völkerrecht, wenn all das nur dazu entworfen wird, uns zu unterdrücken. Deswegen sind wir Feinde dieser imperialistischen Weltordnung. Tatsächlich ist der Irak ein entscheidendes Schlachtfeld für das amerikanische Imperium. Das irakische Volk wird der Welt beweisen, dass das Imperium verletzbar ist, unter der Vorraussetzung, dass einige Faktoren zusammenkommen: Der Widerstand fügt den Besatzern nicht nur militärische, sondern auch politische und moralische Verluste zu, die sie nicht überstehen werden können. Je länger die Besatzung dauert, um so besser wird die Situation für den Widerstand. Der Widerstand im Irak wird das Feuer in der arabischen Welt entfachen. Die Besatzung des Irak und Palästinas richtet sich gegen die gesamte arabische und muslimische Welt und betrifft damit alle. Daher ist es ein Kampf für die Rechte der Menschheit und daher sind wir mit allen verbunden, die für ihre Befreiung vom US-Imperialismus kämpfen.

Das alltägliche Leben

Wie ist die Situation für die gewöhnliche Bevölkerung?
Ich habe bereits die Brutalität und Willkür der Besatzer beschrieben. Diese hält die Bevölkerung in Agonie. Ein Beispiel sind die rund zweitausend Vergewaltigungen durch US-Soldaten, sowie fünfhundert sexuell misshandelte Kinder. Niemand spricht von den zivilen Opfern der Besatzung. Jeden Tag werden alleine in Bagdad vierzig bis fünfzig Menschen getötet. Die Ärzte berichteten, dass zwanzig von diesen Verletzungen aufweisen, die von US-Schusswaffen verursacht werden. Daraufhin verbot der Übergangsrat jede Statistik, die Hinweise auf die verwendete Munition geben könnte.
Des Weiteren der Diebstahl, der durch die USA und ihre irakischen Handlanger am Volk begangen wird. Wo ist das Geld von mehr als zwei Millionen Fass Öl, die sie pro Tag verkaufen? Warum sind Wasser, Elektrizität, Telephon und andere notwendige Infrastruktur nicht wieder aufgebaut worden, während berichtet wird, dass amerikanische Fabriken einen beachtlichen Umsatz mit unserem Geld machen? Sie haben mehrere Millionen Staatsangestellte unter dem Vorwand gekündigt, sie wären Ba…‘thisten. Ihre Posten werden heute von vollkommen inkompetenten Kollaborateuren besetzt, deren Familien oft bereits mit den Briten kollaboriert haben, wie die Chalabis oder Pachachis. Sie bauen ein mafiöses Familiennetzwerk auf mit dem Ziel, sich in so kurzer Zeit wie möglich so viel wie möglich anzueignen. Gleichzeitig wurden große Teile der Industrie abgebaut und in den Iran gebracht. Wenn Sie heute in eine Fabrik oder Industrieanlage gehen, finden Sie nur leere Hallen. Das Land wurde vollständig deindustrialisiert. Was den Bedarf an Grundnahrungsmitteln betrifft, wurde das „Oil for food“-Programm der Uno abgebrochen. Aufgrund des Krieges konnten viele der bereits geschlossenen Verträge jedoch noch nicht erfüllt werden. Deshalb werden wir noch einige Monate Grundversorgung haben, doch danach müssen die Menschen hungern. Nur diese Rationen dämpfen noch die wachsende Inflation, aber danach wird sie in den Himmel schießen. Schon jetzt hat sich der Preis für Kohlenwasserstoffprodukte vervielfacht. In einem der ölreichsten Länder der Welt müssen Menschen um Benzin anstehen. Von den öffentlichen Sicherheitseinrichtungen gar nicht zu sprechen. Die Menschen, im speziellen Frauen, trauen sich aufgrund der ansteigenden Kriminalität, die die Amerikaner nicht kümmert, nicht mehr auf die Straße.
Was ist mit den Gefängnissen?
Im Moment wird von den Besatzern zugegeben, dass ungefähr 42 000 Iraker illegal in Gefängnissen festgehalten werden. Wir haben Gründe anzunehmen, dass sich in Wirklichkeit weitere 20 000 in unbekannten Anhaltelagern befinden. Die Behandlung all dieser Gefangenen verletzt alle internationalen Regulierungen. Oft wurde den Insassen nicht einmal gesagt, warum sie eingesperrt wurden. Es gibt weder legale Prozesse noch irgendwelche Verhandlungen. Die Besatzer sehen sich nicht dazu verpflichtet Verwandten oder Rechtsanwälten irgendwelche Informationen zu geben. Leute werden genauso willkürlich freigelassen, wie sie inhaftiert wurden, oft unter der Bedingung der Kollaboration. Sie bekommen nicht genug zu essen, die sanitären Standards sind unmenschlich und Folter ist Alltag. Einige Hunderte starben aufgrund der Misshandlungen und noch mehr bleiben aufgrund der Folter für den Rest ihres Lebens behindert. Sogar einige hundert Kinder und Frauen sind eingesperrt. Ungefähr sechstausend wurden entführt. Von der Hälfte der Entführten fand man die Leichen.
Die USA haben angekündigt, dass sie die freie Presse in den Irak bringen.
Das ist völlig lächerlich. Nur die Medien, die mit der Besatzung zusammenarbeiten, sind erlaubt. Gegen die Besatzung zu reden oder zu schreiben wurde als Verbrechen deklariert. Alle Zeitungen, die auf der Seite des Widerstandes stehen, wurden verboten.

Der militärische Widerstand

Wer trägt den militärischen Widerstand?
Schätzungsweise zwischen siebzig- und hunderttausend Kämpfer haben sich den Reihen des Widerstandes angeschlossen, der täglich 45 bis 70 Attacken landesweit durchführt. Der Widerstand ist weder streng zentralisiert noch durch eine Führung von oben streng kontrolliert. Junge Männer schließen sich dem Widerstand an, gleich ob islamische oder ba…‘thistische Kräfte das Kommando innehaben. Kommandanten werden diejenigen, die als erfahrensten gelten, oft frühere Soldaten. Eine Widerstandszelle umfasst Nationalisten, Ba…‘thisten, Islamisten oder sogar Kommunisten. Aber sie alle wollen das arabisch-islamische Heimatland verteidigen.
Wie können Angriffe gegen die Besatzer legitimiert werden, wenn sie zivile Opfer verursachen, deren Anzahl jene der Besatzer bei weitem übersteigt?
Zu diesem Thema wird viel Propaganda verbreitet. Wer ist daran interessiert der Welt zu zeigen, dass der Widerstand irakische Zivilisten tötet? Mit Sicherheit die Besatzung. Einige Bombenexplosionen forderten eine hohe Anzahl ziviler Opfer, für die die Guerilla aber nicht verantwortlich ist. Es kann nur vermutet werden, dass dahinter der amerikanische oder israelische Geheimdienst steht. Es muss auch erkannt werden, dass die US-Armee absichtlich irakische Zivilisten als menschliche Schutzschilder verwendet. Sie versuchen zivile Autos und Menschenmengen um sich und ihre Konvois zu haben, damit die Angriffe Zivilisten treffen. Während des Ramadan, wenn die Menschen nach Sonnenuntergang alle zu Hause sind, waren die Besatzer auf den Straßen weitaus weniger präsent. Dennoch, beim Essen konnte man die Freiheitskämpfer hören, die immer häufiger den Feind angriffen. Der Widerstand versucht so weit wie möglich zivile Opfer zu vermeiden.
Stehen die wahhabitischen Kräfte hinter solchen Angriffen?
Nein, das ist lächerlich! Die Medien versuchen den Widerstand auf sogenannte Saddam-Loyalisten und al-Qa…­…‘i…­da zu reduzieren. Die Wahhabiten betreffend muss man wissen, dass das irakische Volk bereits seit zweihundert Jahren in Opposition zu ihnen steht. Sunniten und Schiiten führten richtiggehende Kriege um den Irak gegen sie zu verteidigen. Warum sollten die Iraker jetzt Wahhabiten werden? Es mag einige ausländische Kämpfer geben, aber es gibt keine signifikante Unterstützung für al-Qa…­…‘i…­da oder ähnliche wahhabitische Gruppen. Die Leute wollen, dass die ausländischen Kämpfer in ihre Länder zurückkehren, um dort die US-Marionettenregime zu bekämpfen.
Zeigt der Widerstand Wirkung auf die Moral der Soldaten?
In der Tat. Mehr als dreitausend Soldaten wurden registriert, die desertierten. Sie verkaufen ihre Waffen und für ungefähr vierhundert US-Dollar bekommen sie arabische Kleidung und es wird ihnen geholfen in die Türkei oder nach Jordanien zu fliehen. Ungefähr 1700 wurden verrückt, viele verwundeten sich selbst um zurückgeschickt zu werden und 56 Selbstmorde wurden gezählt. Die Besatzer fürchten den Widerstand und sind nur noch damit beschäftigt sich selbst zu schützen.

Übergangsrat

Können Sie ausschließen, dass der durch die USA eingesetzte Übergangsrat in der Lage sein kann die Situation zu stabilisieren?
Das ist mit Sicherheit unmöglich. Tag für Tag sind sie isolierter. Diejenigen, die direkt am Regierenden Rat teilnehmen, müssen durch die Besatzungskräfte geschützt werden, da sie das größte Ziel des Widerstandes darstellen. Aber auch ihre Parteien und alle, die mit ihnen kollaborieren, sind vom sozialen Netzwerk ausgeschlossen.
Die bewaffneten, mit den USA kollaborierenden Milizen im Süden und Osten können nicht mehr in der Öffentlichkeit erscheinen. Die kurdischen Peshmergas von Talabani trauen sich nur gemeinsam mit Amerikanern in arabischen Gebieten zu erscheinen. Alleine zu kommen, wie sie es in den ersten Monaten der Besatzung taten, würde zu gefährlich für sie sein. Aber auch die kollaborierende Muslimbruderschaft und die mit ihnen verbundenen Parteien sind in großen Schwierigkeiten. Und die Tatsache, dass manche Kleriker, darunter auch sehr hohe, offen gegen die Besatzung gesprochen haben, ist ein Zeichen des Druckes von Seiten des Volks.
Kann es ihnen gelingen durch die Einnahmen des Ölverkaufs einen signifikanten Teil der völlig verarmten Bevölkerung zu kaufen?
Dazu bräuchten sie ein Netzwerk, eine soziale Pyramide um den Wohlstand zu verteilen. Aber bis jetzt scheinen die Amerikaner einfach unser Öl zu stehlen. Was vielleicht übrig bleibt kommt direkt in die Taschen einer kleinen Anzahl von Kollaborateuren. Die unglaubliche Gier von beiden hilft auf der anderen Seite dem Widerstand, da sie die Leute radikalisiert.
Versuchen die Amerikaner die Scheichs im Süden wieder als Großgrundbesitzer einzusetzen, wie es die Briten taten?
In den letzten Jahrzehnten vor dem Krieg machte der Irak irreversible Veränderungen durch. Er wurde zu einem stark urbanisierten Land. Die Landreform brach die Macht der Grundbesitzer-Scheichs. Aber es ist klar, dass der radikale ökonomische Liberalismus, der durch die Besatzer eingesetzt wurde, Wirkung zeigen wird. Ohne Protektion durch den Staat werden die Bauern nicht in der Lage sein, weiter zu arbeiten und die Schuldenspirale und Konzentration des Landes wird einsetzen. Sie werden mit Sicherheit versuchen uns wieder zu versklaven, aber ich bezweifle, dass die Scheichs in der Lage sein werden, ihre alte Rolle wieder zu erlangen und eine relevante Stütze für ein neokoloniales Regime darstellen zu können.

Die kurdische Frage

Sind die Amerikaner in Kurdistan noch immer willkommen?
Unglücklicherweise ist es wahr, dass die am stärksten in der Bevölkerung verwurzelten Kollaborateure die kurdischen Führer Barzani und Talabani sind. Sie nützten die Situation um in Kirkuk, eine mehrheitlich von Turkmenen bewohnte Stadt, und anderen Orten die Kontrolle zu übernehmen. Viele Araber wurden vertrieben, ihre Häuser konfisziert und durch Kurden wiederbesiedelt. All dies geschah unter dem Vorwand, die Betroffenen wären loyal zu Saddam. Aber auch dort verändert sich die Situation. In den Bergen Kurdistans gewinnt eine islamistische Bewegung an Einfluss, die jede Kollaboration mit den USA ablehnt. Heute halten sich noch immer die Ideen aufrecht, dass Fernsehgeräte nicht erlaubt werden dürfen.
Aber man kann sicher sein, dass sie mit der Zeit, mit der wachsenden Unterstützung der Bevölkerung, realistischere Sichtweisen annehmen müssen und werden. Im Gebiet von Kirkuk und Mosul, wo die Bevölkerung sehr gemischt ist, bestehend aus Arabern, Türken, Kurden, Chaldäern und anderen, entsteht eine moderate islamische Partei, die auch aus Kurden besteht. Wir hoffen, dass sie mit der politischen Widerstandsfront zusammen arbeiten oder sogar ein Teil von ihr werden wird.
Können Sie die Situation in Kirkuk einschätzen?
Die Bevölkerung von Kirkuk wird die kurdische Herrschaft über die Stadt nicht akzeptieren. Die Stadt besteht aus vielen Nationalitäten und sie können nur in Gleichheit zusammenleben, in einem freien Irak, der ihnen ihre Rechte garantiert. Es kann nicht akzeptiert werden, dass die meisten arabischen Beschriftungen entfernt wurden, auch viele der turkmenischen. Die Amerikaner haben ein völlig disproportionales System der „ethnischen Repräsentation“, wie sie es nennen, eingesetzt, das die Macht de facto den kurdischen Parteien übergibt. Kurden, Araber, Turkmenen und Chaldäer haben die gleiche Anzahl an Sitzen. Aber wie können die Chaldäer mit zwei bis drei Prozent das gleiche Gewicht wie die Turkmenen mit mehr als fünfzig Prozent Bevölkerungsanteil haben? Weder die Turkmenen noch die Araber akzeptieren ihre Vertreter. Die letzte Demonstration gegen die amerikanisch-kurdische Herrschaft in Kirkuk war nur das erste Zeichen.
Wo liegt der Grund für ihre pro-amerikanische Haltung?
Nichts kann eine solche Kollaboration rechtfertigen. Längerfristig gesehen werden die Kurden und die Kommunisten schwer dafür bezahlen – auch wenn es falsch ist ein ganzes Volk zu verurteilen. Aber viele Araber denken so, wenn sie von kurdischen Soldaten unter US-Kommando kontrolliert und untersucht werden. Auf der anderen Seite ist es richtig, dass auch die arabische Seite in der Vergangenheit Fehler begangen hat. Es ist uns nicht gelungen den Kurden de facto gleiche Bürgerrechte zu garantieren, was ihnen erlaubt hätte, sich mit dem Irak völlig zu identifizieren und sich selbst als loyale Iraker kurdischer Nationalität zu bezeichnen.

Die kommunistische Tragödie

Was meinten Sie, als Sie sagten, dass die Kommunisten für die Kollaboration bezahlen werden?
Die IKP war einmal die weitaus stärkste Kraft im Irak und ist Teil unserer besten nationalen Tradition. In den ersten Monaten der Besatzung wollten viele Leute zur Partei zurückkehren und setzten große Hoffnungen auf sie. Sie wussten nicht, welche Degenerationsprozesse die IKP in den vielen Jahren im Exil vollzogen hatte. Sie behaupteten gegen die Besatzung zu sein. Für die meisten ihrer lokalen Unterstützer war es ein Schock zu sehen, dass sie am Übergangsrat teilnehmen. Niemand konnte diese Tatsache leugnen. Ihr Büro ist in der grünen Zone Bagdads, die von den Amerikanern bewacht wird. Heute sind sie nicht mehr als eine kleine Gruppe zurückgekehrter Intellektueller und bilden die, wie sie es nennen, „Zivilgesellschaft“ für die Besatzung. In einem gewissen Sinn sind sie sogar schlimmer als die Besatzer. Die Amerikaner verstehen nichts von unserer Gesellschaft. Aber die Kommunisten waren einmal Iraker, sie kennen unser Volk und sind in der Lage es zu betrügen.
Was sind die Gründe für den Betrug?
Die Partei war immer von der UdSSR abhängig. Sie getrauten sich nicht ihre eigenen Entscheidungen zu fällen. In der Zeit von Qasim wären sie in der Lage gewesen, die Macht innerhalb von zwei Minuten zu ergreifen. Aber Moskau sagte nein, also verhielten sie sich ruhig. Als Saddam die Macht übernahm, kooperierten sie zur Gänze mit ihm gegen die linken Ba…‘thisten und die antiimperialistischen Kommunisten, die beide entweder ins Gefängnis geworfen oder getötet wurden. Von einem Kongress zum nächsten gehend und in Fünf-Sterne-Hotels residierend, passten sie sich dem Lebensstil der herrschenden Klasse an. Es ist nicht zufällig, dass ihre direkte Kollaboration bis ins Jahr 1991 zurückgeht, als sie den von der USA geführten Angriff unterstützten. Als die UdSSR zusammenbrach, sahen sie sich nach der verbliebenen Macht um – den USA. Sie vertauschten lediglich den KGB durch die CIA.
Aber es gibt eine oppositionelle Strömung innerhalb der Partei.
Ja, aber sie haben die Angewohnheit zu warten. Seit 1991 drängen wir sie in Aktion zu treten, auch gegen die Partei. Aber sie glauben an ein Wunder, nämlich dass sie es schaffen werden die Partei zu übernehmen. Welchen weiteren Beweis brauchen sie noch um zu sehen, dass die Partei definitiv auf die Seite des Imperialismus gewechselt ist? Kann es etwas Schlimmeres geben als die Unterstützung von zwei Kriegen, dem Embargo und der Besatzung? Ich befürchte, sie werden für immer warten.
Was ist mit der IKP (Zentralkommando)?
Sie sind die einzigen, die die große Tradition der Kommunistischen Partei retten können. Schon in den 60er Jahren stellten sie sich gegen die Linie, die von Moskau bestimmt wurde, eine Sozialistische Einheitspartei mit dem nasseristischen Präsidenten Arif nach dem ägyptischen Modell zu bilden. Sie ergriffen 1967 die Waffen und die Mehrheit der Parteimitglieder war mit ihnen, während die Mehrheit des Zentralkomitees später die Nationale Front gemeinsam mit Saddam bildeten. In dieser Zeit trafen wir uns in den Gefängnissen. Wir beide, die antiimperialistischen Kommunisten und die linken Ba…‘thisten, haben unseren Kampf verloren. Aber seit dieser Zeit schätzen wir uns gegenseitig und wir hatten in den wichtigsten Fragen dieselben Positionen. Sie verteidigten das Heimatland 1991 und 2003, sie kämpften gegen das Embargo und jetzt kämpfen sie gegen die US-Besatzer. Obwohl sie sehr geschwächt wurden, werden sie bald die offizielle KP an Zahl übertreffen. Wir hoffen, dass sie es schaffen werden, die wirklichen Kommunisten zu sammeln.
Was denken Sie über die Arbeiterkommunisten?
Sie werden durch die USA und die Zionisten völlig gedeckt. Sie sind keine wirkliche irakische Partei. Diese merkwürdige Sekte ist nur mit den protestantischen Missionaren vergleichbar, die der US-Armee folgen. Für sie ist der Widerstand der Hauptfeind. Sie stellen sich diametral gegen unser kulturelles Erbe. Sie verlautbarten, dass Englisch die offizielle Sprache des Landes werden soll. Sie greifen die Geschichte und Kultur des Volks an und wollen sie zerstören, in einer Situation, in welcher der Islam als Identifikation dient um die Invasoren zu bekämpfen. Westliche Leute müssen eines verstehen: Wenn irakische Frauen auf einmal wieder vermehrt den Schleier tragen, dann geschieht das nicht aus einem konservativen oder reaktionären Grund. Kürzlich traf ich eine Ingenieurin, mit der ich vor vierzig Jahren studiert hatte, die nie den Hijab getragen hatte, diesen aber nun trägt. Ich fragte sie warum und sie antwortete, als Zeichen des Widerstandes.

Antiglobalisierungsbewegung

Was denken sie über die Bewegung gegen den Krieg?
Welche Bewegung gegen den Krieg? Der Krieg ist vorbei, jetzt gibt es Besatzung und Widerstand. Wenn die Bewegung ernsthaft wäre, würde sie nicht zögern sich auf die Seite des Widerstandes zu stellen. Aber wir wissen, dass in Europa der Zionismus sich sehr verbreitet hat, nicht alleine innerhalb der regierenden Kräfte, sondern auch innerhalb der Linken. Für diese Leute sind Israel und die Linke sakrosankt. Was wir heutzutage brauchen ist eine Bewegung gegen die USA, eine antiamerikanische Bewegung.

Das Gespräch führte Willi Langthaler. Jabbar al-Kubaysi ist Vorsitzender der Irakischen Patriotischen Allianz

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