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Gegen die Instrumentalisierung der Opfer

19. März 2004

Erklärung der Antiimperialistischen Koordination zu den Anschlägen in Madrid

11. März, 20 Uhr

Kaum war die Nachricht von den Bombenanschlägen an mehreren Bahnhöfen Madrids in den frühen Morgenstunden bekannt geworden, ließ sich unmittelbar eine politisch Folge erahnen, die dramatischer Auswirkungen haben wird, als die hohe Zahl an zivilen Opfern die die Angriffe forderten: ihre Instrumentalisierung für einen breiten Angriff gegen demokratische Rechte und im besonderen gegen das Selbstbestimmungsrecht des baskischen Volkes.

Die korporativen Medien, die besonders im spanischen Staat eine entscheidende Rolle in der Kriminalisierung und populistischen Mobilisierung zu Gunsten des Establishments spielen, hatten sofort den Schuldigen aufgedeckt: die bewaffnete baskische Unabhängigkeitsbewegung ETA. Die politische Elite Spaniens, allen voran der scheidende Ministerpräsident Josà© Maria Aznar (der sich selbst in seiner Rhetorik mit gebetsgleichen Satzbrocken wie „wir werden die Terroristen besiegen“ schon an George Bush angepasst hat) stellte kategorisch und ohne jeglichen Beweis klar, dass die baskische ETA die Schuld an der Operation trägt.

Während bislang Al Qaida hinter jeder militärischen Operation in verschiedensten Teilen der Welt aufgedeckt wurde (von den Philippinen über den Irak bis nach Lateinamerika), schloss die spanische Regierung die Urheberschaft islamischer Organisationen aus. Dies zeigt klar die politische Instrumentalisierung die hinter dem Begriff des „Terrorismus“ steckt und vom imperialistischen politischen Establishment für seinen Feldzug gegen alle legitimen Widerstandsbewegungen verwendet wird.

Tatsächlich sprechen alle bisher vorhandenen Indizien gegen eine Verantwortung der ETA für die Angriffe in Madrid:
* vor den Anschlägen wurde keine Warnung an die Behörden übermittelt, wie bei Aktionen der ETA üblich.
* die Aktionen der ETA richten sich im wesentlichen gegen einzelne Vertreter des spanischen Staates, von Polizei und Armee.
* der Anschlag fand in den Vorstädten Madrids statt und richtete sich gezielt gegen zivile Ziele, was den Operationen der ETA widerspricht.

Besonders aber die politische Konjunktur des baskischen Unabhängigkeitskampfes spricht gegen eine Verantwortung der ETA für den Angriff und dagegen für das Interesse der spanischen Regierung an einer Instrumentalisierung der Opfer. Trotz des Verbots der baskischen linken Unabhängigkeitspartei Batasuna, die mit etwa 15 % in allen baskischen Institutionen (Gemeinden, Regionalparlamenten) vertreten war und der Offensive des spanischen Staates gegen Bewegungen und Medien der baskischen patriotischen Linken, sah sich der spanische Staat im letzten halben Jahr zunehmenden Unabhängigkeitsbestrebungen in den autonomen Provinzen gegenüber. Selbst die bürgerliche, regierende Baskische Nationalistische Partei (PNV) verschärfte, wenn auch nur rhetorisch, ihren Diskurs zugunsten von mehr Rechten für das Baskenland – ein Indiz für die nach wie vor breite Basis des Strebens nach Selbständigkeit. Die patriotische Linke und die Unabhängigkeitskräfte konnten trotz der Illegalisierung (unter dem nie bewiesenen, sondern medial konstruierten, Vorwurf Teil der ETA zu sein) in die sich vertiefende öffentliche Diskussion über die baskischen Rechte mit einer Position zugunsten eines Unabhängigkeitsreferendums über die Selbstbestimmung des Landes eingreifen und neue Bündnisse von sozialen und politischen Bewegungen anregen, die sich für die Selbständigkeit des Baskenlandes einsetzen. Zuletzt wurde sogar immer wieder über Möglichkeiten eines Waffenstillstandes der ETA gesprochen, für den Fall dass die Volkskräfte diese Dynamik vertiefen und einen politischen Rahmen für einen demokratischen Volksentscheides eröffnen können. Wenn auch eine Verhandlungslösung des Konfliktes noch nicht in unmittelbarer Aussicht stand, so war dennoch deutlich, dass der organisierte Wille zur Selbstbestimmung im Baskenland Möglichkeiten einer Überwindung der bewaffneten Konfrontation denkbar macht.

Dagegen mobilisierte die Regierung von Aznar mit aller Kraft und versuchte den Konflikt zu eskalieren. Nicht nur die baskische patriotische Linke wurde systematisch ihrer demokratischen Rechte beraubt, selbst die baskische Regionalregierung wurde wegen ihrer Forderung für mehr Rechte beschuldigt, den „Terroristen“ in die Hände zu spielen. Der spanische Staat hat eine erschreckende Tradition des Staatsterrorismus und des schmutzigen Krieges, um die legitimen Forderungen der Basken zu bekämpfen, wie etwa in den 80er Jahren die Todesschwadronen der GAL (Antiterroristische Befreiungsgruppen).
Um die zerbrechliche Einheit des pro-spanischen Establishments wieder herzustellen, geht die spanische Regierung nun mit der politischen Instrumentalisierung der Anschläge in Madrid neuerlich in die Offensive. Für Samstag sind Massenmobilisierungen angekündigt, die die Basis für eine folgende Welle von repressiven Schlägen gegen das baskische Volk sein werden.

Aznar kann davon ausgehen, dass nach den Ereignissen von Madrid die bürgerlich nationalistischen Kräfte es nicht wagen werden, gegen eine anti-demokratische Eskalation von Seiten des spanischen Staates gegen die baskischen Rechte zu protestieren und Spanien freie Hand hat, der baskischen Unabhängigkeitsbewegung einen empfindlichen Schlag zu versetzen. Neben diesem Nutzen für den spanischen Staat im allgemeinen, profitiert unmittelbar die post-franquistische Volkspartei mit ihrer US-orientierten Politik der „harten Hand gegen den Terrorismus“ von der Instrumentalisierung der Anschläge.

Die baskische patriotische Linke hat sich in einer Pressekonferenz ihres Sprechers Arnaldo Otegi von den Anschlägen scharf distanziert und eine Urheberschaft der ETA ausgeschlossen. Otegi erklärte, dass aufgrund der Verantwortung des spanischen Staates in der Besatzung des Iraks die Anschläge als Operation eines Sektors des arabisch-islamischen Widerstandes denkbar wären.

Auch auf europäischer Ebene kündigte sich nach den Ereignissen bereits eine neue Offensive gegen den Terrorismus an. Dies wird nicht nur ein weiterer Einschnitt in demokratische Rechte breiter Bevölkerungsteile und unterdrückter Völker wie dem baskische sein, sondern auch den Schulterschluss mit der amerikanischen Kriegspolitik verstärken. Die Politik der Besatzung, Entdemokratisierung, Negierung des Völkerrechtes und des Angriffes gegen jegliche antiimperialistische Opposition der unterdrückten Völker soll durch die Instrumentalisierung der tragischen Ereignisse von Madrid weiter eskaliert werden. Politische Möglichkeiten und Angebote der Überwindung bewaffneter Konflikte mittels der Durchsetzung grundlegender politischer und sozialer Rechte nach Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit werden dagegen kriminalisiert.

Die Antiimperialistische Koordination verurteilt die Instrumentalisierung der tragischen Ereignisse von Madrid für die Politik des Angriffes gegen die Demokratie, insbesondere gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung und das Recht der Basken auf nationale Selbstbestimmung. Nur das Erkämpfen der demokratischen und sozialen Rechte der Völker gegen Besatzung, Unterdrückung und Armut kann Frieden und Sicherheit ermöglichen. Die Kriegspolitik der USA und ihrer europäischen Verbündeten „gegen den Terrorismus“ dagegen wird auch in Zukunft zu tragischen Vorfällen wie in Madrid führen, die auch die europäische Zivilbevölkerung treffen. Unsere Antwort darauf kann jedoch nur der antiimperialistische Kampf für die Überwindung der im imperialistischen System liegenden Gründe sein, die zu solchen Vorfällen führen.

Nachtrag 23.00 Uhr:
Mittlerweile mehren sich die Indizien und Berichte, dass die Anschläge in Madrid von einer islamischen Organisation ausgeführt wurde. Dies liegt nahe, angesichts des engen Bündnisses der Regierung Aznar mit den USA im Krieg gegen den Irak und in der Beteiligung Spaniens an den Besatzungstruppen. Gegen die Opposition von Millionen Menschen auf der Straße, die gegen den Krieg im Irak und Spaniens Beteiligung demonstrierten, hat die spanische Regierung das Land in den US-geführten Angriffskrieg hineingezogen und damit eine entscheidende Verantwortung für die dramatischen Ereignisse in Madrid.
Die staatliche und mediale Kampagne gegen die ETA und die baskische Bewegung ohne jegliche Beweise hat mit aller Deutlichkeit gezeigt, dass hinter der „Antiterror- und Sicherheitspolitik“ des Imperialismus ein Krieg gegen oppositionelle Bewegungen und Völker steht, der mit Lügen und schamloser Instrumentalisierung der zivilen Opfer der westlichen Politik geführt wird

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