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Intellektuelle Kolonisierung

10. Juni 2004

von Hannes Hofbauer

Wie die Geschichte des Balkan nach dem Jugoslawien-Krieg durch die Sieger
umgeschrieben wird

Deutsche und österreichische Lehrbücher, so sie sich überhaupt mit der Zerstörung Jugoslawiens in den 1990er Jahren beschäftigen, bauen ihr zeithistorisches Bild der Bürger- und Interventionskriege auf dem Mythos der Befreiung der südslawischen Völkerschaften durch die internationale Gemeinschaft auf. Das ist, im Gefolge der Beteiligung Berlins am NATO Krieg gegen Jugoslawien und Wiens an der Zerstückelung der Föderation, nur folgerichtig. Da wird in den Schulbüchern dem im deutschen Außenamt mit geheimdienstlicher österreichischer Hilfe entstandenen „Hufeisenplan“, der Belgrad die systematische Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo in die Schuhe schieben wollte, wieder neues Leben eingehaucht. Da gilt Franjo Tudjman, bei allen nachträglichen Vorbehalten, als Befreier der Kroaten und Slobodan Milosevic als Tyrann über die Serben. Da wird der NATO-Angriff zur Friedensmission und die Verschleppung von Milosevic vor das Kriegsgericht, das UN-Tribunal in Den Haag, zur gerechten Sache. Wenn sich Christine von Kohl in einem österreichischen Lehrbuch für Geschichte (Achs/Scheuch/ Tesar, Aus Geschichte lernen, 3. aktualisierte Auflage 2002), das heute noch in Gebrauch ist, über die brutale „Serbisierung“ des Kosovo auslassen darf, dann setzt sich zeitgeschichtliche Rezeption dort fort, wo die Kriegspropaganda 1999 aufgehört hat. „Das tägliche Leben der albanischen Bevölkerung im Kosovo“, zitiert der Lehrbehelf die Sachbuchautorin Christine von Kohl mit ihrer Sicht des Lebens im Kosovo vor 1999, „ist einerseits von Polizeiterror geprägt, andererseits dadurch bestimmt, daß den Menschen keine einzige Instanz oder Behörde rechtlichen Schutz bietet“. Kein Wort über die Gewaltakte kosovo-albanischer Extremisten gegen serbische Bewohner, kein Hinweis auf die Guerilla Aktivität der UCK mit ihrer Bombenkampagne gegen serbische Polizeistationen und albanische Loyalisten; und auch keine Aktualisierung des Lehrinhaltes, die angesichts der systematischen Vertreibung der serbischen Minderheit aus dem Kosovo unter den Augen der KFOR und UNMIK längst an der Zeit wäre. Statt dessen wird die Kriegspropaganda des NATO Feldzuges 1999 auch fünf Jahre nach seinem Ende für 17jährige Schülerinnen und Schüler nachgebetet.

Multikulti-Börse

Sich über einen solchen Lehrinhalt in österreichischen oder deutschen Schulbüchern zu wundern, hieße allerdings die politischen Kräfteverhältnisse in Deutschland und Österreich auf den Kopf gestellt zu betrachten.

Schwieriger gestaltet sich die Aufgabe der Sieger in Serbien selbst. Das wirtschaftlich seiner Kräfte beraubte, in seinen sozialen Strukturen weitgehend zerstörte, militärisch der NATO-Allianz ausgelieferte und juristisch seiner nationalen Führer beraubte Land soll jetzt auch noch selbst daran glauben, daß all die Schrecknisse des Krieges und die gesellschaftlichen Verwerfungen im Anschluß daran zu seinem Besten geschehen sind. Diese Aufgabe haben sich jedenfalls Dutzende Intellektuelle aus Westeuropa und den USA gestellt. Sie wollen nicht weniger, als die zeithistorische Wahrnehmung der 1990er Jahre in Serbien an die deutsch-amerikanische Sichtweise anpassen. Dabei treten die „Internationalen“, die in Peter Handkes Stück „Die Fahrt im Einbaum“ treffsicher als parasitäre und krisengeile Clique dargestellt worden sind, betont antinational auf. Ihre intellektuelle Speerspitze besteht auf dem Alleinvertretungsanspruch in Sachen Versöhnung nach der Katastrophe. Die Zerstörung Jugoslawiens, die sie so nie bezeichnen würden, verstehen diese „Internationalen“ als Resultat innerer Zwistigkeiten und nationaler Gegensätze. Der serbische Nationalismus gilt ihnen als Sinnbild der destruktivsten Kraft im ehemaligen Vielvölkerstaat. Der kroatische klerikale Antisozialismus und Antisemitismus eines Franjo Tudjman wird in den Vorbereitungspapieren für eine neue Geschichtsschreibung der Region indes kleingeredet; der Ideologie des politischen Islam eines Alija Izetbegovic (zeitweiser muslimischer Staatspräsident von Bosnien und Herzegowina zwischen 1990 und 2002) wird jede Geschichtsmächtigkeit abgesprochen; der slowenische Sezessionismus als Eintrittskarte in die Europäische Union gefeiert. Mit geradezu spielerischer Leichtigkeit überspringen geistige Mentoren der jüngsten deutschen Kriegsgeschichte wie Jürgen Habermas die Zusammenhänge von Sezession und Nationalismus. Im mehr als gewagten Umkehrschluß wird das Gegenteil daraus: Erst das Ende des Jugoslawismus kann Multikulturalität in neuer Form bringen. Gleich den militärischen Interventen provozieren diese Gedanken mit ihrem städtisch imperialen Multikulturalismus genau jene Nationalismen, die ihnen genehm sind und derer sie sich bestens zu bedienen wissen. Standen Mitte der 1990er Jahre national-kroatische und bosnisch-muslimische Führer an der Multikulti-Börse hoch im Kurs, so sind es später kosovo-albanische und montenegrinische gewesen. Als Instrumente zur Bekämpfung von dem Westen feindlich gesinnten Nationalismen, allen voran dem serbischen, haben sie ihre Schuldigkeit getan.

Gelehrte Kopflanger

Dem Sieg der 19er-Allianz der NATO-Staaten im Jahre 1999 folgte mit der Einrichtung des Haager Tribunals die Siegerjustiz, Jahre später soll jetzt die Geschichte Serbiens umgeschrieben werden.

Im Juni 2004 wird die Grazer Universität jenen Zirkus amerikanisch-deutsch exjugoslawischer Historiker empfangen, der bereits seit 2001 zwischen Novi Sad, Sarajevo und Alberta/USA tourt. The Scholars` Initiative: Resolving the Yugoslav Controversies (Die Gelehrteninitiative: Die jugoslawischen Kontroversen lösen) nennt sich der intellektuelle Trust der Geschichtsklitterer. Die Initiative der Stipendiaten will zeitgeschichtlich Hand an die „nationalistischen Politiker, Journalisten und Akademiker“ anlegen, die „die tragischen Ereignisse der letzten Dekade in einer Weise falsch präsentiert haben, (…) daß sie die kulturelle Kluft zwischen den Serben und ihren Nachbarn vergrößert haben“. „Unglücklicherweise“, so heißt es weiter im englischen Text der Initiative, „hat jede nationale Gruppe unterschiedliche historische Fakten zusammengetragen. (…) Und die tiefste Kluft trennt die große Mehrheit der ethnischen Serben von allen anderen nationalen Gruppen in Bosnien, Kroatien, dem Kosovo und Slowenien.“ Mit einer solch unterschiedlichen historischen Rezeption soll jetzt ein für alle Male aufgeräumt werden. Intellektuelle Homogenisierung heißt die Devise, die fatal an das nationalistische Staatenbildungskonzept in Slowenien und Kroatien erinnert. Auch die serbischen Schulbücher müssen an die Wahrheit des Westens herangeführt werden. „War die Bedrohung der serbischen Minderheit in Kroatien real oder eingebildet?“ fragt z. B. Drago Roksandic von der Soros-Universität in Budapest; oder: „Floh irgendwer vor den NATO-Bomben?“ will der im Informationssystem des österreichischen Verteidigungsministeriums publizierende Miroslav Hadzic wissen. Aber auch kritische Fragen sind – nach der Eliminierung einer west-kritischen Politik – erlaubt: „War die Reaktion von Slobodan Milosevic auf die albanischen Militanten legitim?“ oder: „Inwiefern ist das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag eine politische Institution?“ Sollten Antworten auf solch kritische Fragen nicht NATO-konform ausfallen, ist wiederum die Politik am Zug. Sie braucht ja auf intellektuelle Erkenntnisse nicht zu reagieren.

Die Scholar`s Initiative läßt sich von etwaigen Querschlägen nicht irritieren. Schon aus den Einladungstexten für die historischen Seminare wird klar, daß die Verantwortung für die jugoslawische Katastrophe den internen Konflikten allein, und hier wiederum der serbisch-nationalen Führung um Slobodan Milosevic angelastet wird. Die internationale Community wird als „Brückenbauer zwischen den Regionen“ beschrieben. Insbesondere positiv hervorgehoben werden Medien wie Voice of America, Radio Free Europe und BBC sowie Bildungsinstitutionen wie die Soros Universität, die Friedrich-Naumann-Stiftung und die Konrad-Adenauer Stiftung, Pro Oriente und die Bertelsmann Foundation. Und weil die ganze geballte Macht der intellektuellen Kolonisatoren bisher nicht zum gewünschten Erfolg geführt hat, entwickelt die Scholars` Initiative ein Spezialprogramm zum Umschreiben der Balkan-Geschichte für serbische Schulen. Noch ist der Gegner kulturell nicht besiegt. Denn, so die Einschätzung der Stipendiaten-Initiative, „bislang war keines dieser (oben beschriebenen, d. A.) Medien und Institute in der Lage, die Rezeption der >patriotischen< Führer zu überwinden. Speziell in Serbien ignorieren auch die neuen demokratisch gewählten Führer und die freien Medien die kriminelle Vergangenheit des Milosevic-Regimes." Das muß anders werden. Und dafür touren bis zu 180 Historiker durch Universitäten und Bildungsinstitutionen, um der serbischen Zeitgeschichtsschreibung den westeuropäischen Weg zu weisen.

In 20 Teams werken Spezialisten aus 40 Ländern, die allermeisten davon aus den USA (46 Wissenschaftler), Bosnien (21) und Großbritannien (16). Ihnen zur Seite stehen 38 Serben, die die Botschaft von der Befreiung durch NATO, IWF und EU ins Land tragen sollen. Namen wie Wolfgang Petritsch (Verhandlungsführer in Rambouillet, wo Jugoslawiens Regierung im Frühjahr 1999 der Besetzung ihres Landes zustimmen sollte, und Exkolonialverwalter von Bosnien-Herzegowina) und Stefan Troebst (BRD-Spezialist für Minderheiten) garantieren, daß auch von deutsch-österreichischer Seite nichts als die hierzulande als historische Wahrheit ausgestreute Geschichtsauffassung unters Volk kommt.

Die Sponsoren

Bezahlt werden die Vorbereitungen zum Umschreiben der Balkan Zeitgeschichte von zwei US-amerikanischen Instituten: vom Washingtoner United States Institute of Peace und vom National Endowment for Democracy, die als Sponsoren der Scholar`s Initiative auf deren Homepage ausgewiesen werden. Das US-Friedensinstitut wurde 1986 von Ronald Reagan gegründet, sein wissenschaftlicher Beirat wird zu drei Vierteln vom US-Präsidenten, mit Zustimmung des Senats, ernannt, je ein Mitglied kommt vom Verteidigungs- und Außenministerium, ein weiteres von der National Defense University. Das Friedensinstitut ist damit de facto eine staatliche Einrichtung der USA. Es hat von seiner ganzen Konstruktion her keine andere Möglichkeit, als der Logik jener US-Führung zu folgen, die 1999 78 Tage lang Bomben auf Jugoslawien geworfen und dafür gesorgt hat, daß mißliebige politische Führer fernab ihres Wirkens ins Gefängnis gesteckt wurden. Selbiges Institut lädt seit Jahren den USA genehme politische Kräfte und Journalisten zu Symposien nach Airlie/Virginia bzw. nach Gnjilane/Kosovo, um über Fragen wie „Staatsaufbau im Kosovo“ oder „Die Herausforderungen des Wiederaufbaus einer multiethnischen Gesellschaft“ zu diskutieren. Daß gerade die deutsche Unterstützung der kroatischen, slowenischen und bosnischen Sezessionen der ethnischen Säuberungen Vorschub geleistet hat, kommt dort freilich ebenso wenig zur Sprache wie die Beteiligung von KFOR und UNMIK an der Vertreibung von Serben, Juden, Sinti und Roma aus dem Kosovo. Statt dessen werden im United States Institute for Peace Publikationen herausgegeben, deren Autoren sich in Sachen US-Hörigkeit einen Namen gemacht haben. Wichtige balkanische Persönlichkeiten sind darunter. Gesponsert und verbreitet wird z. B. der Beitrag „Das Kosovo: Blick nach vorne“ vom kosovarischen Ministerpräsidenten Bajram Rexhepi oder „Die Zukunft Montenegros“ von Präsident Milo Djukanovic. Mit solcher Hilfe aus den USA erhalten selbst politische Rauhbeine ein intellektuelles Flair.

Neben dem United States Institute for Peace ist es das National Endowment for Democracy (Nationalstiftung für Demokratie), das Wolfgang Petritsch und Konsorten beim Umschreiben der Geschichte finanziell zur Seite steht. Diese 1983 gegründete Stiftung unterstützt alles, was den USA als demokratiepolitisch wertvoll erscheint, mit Stipendien und Zuschüssen. Im Jahr 2003 lag ein Schwerpunkt der Arbeit auf Venezuela, wo Oppositionsgruppen und Institute, die sich gegen Hugo Chávez stellen, mit mehr als einer Million US-Dollar gefüttert worden sind. Die Liste der Stiftungsmitglieder liest sich wie das Who is who des aktuellen US- amerikanischen Imperialismus. Als Balkanspezialisten sitzen u.a. General Wesley Clark und Botschafter Richard Holbrooke im Direktorium der Demokratiestiftung. Beide waren direkt daran beteiligt, Jugoslawien von der Landkarte zu streichen. Richard Holbrookes „Multikulturalismus“, die
serbische Bevölkerung betreffend, liest sich in seinem Buch „Meine Mission“, das er im Anschluß an seine Funktion als US-Sonderbeauftragter für den Balkan geschrieben hat, wie primitiver Rassismus: „Allmählich entwickelte ich ein Gefühl für die Serben, sie waren eigensinnig und nahmen den Mund gerne voll. Aber wenn man es darauf ankommen ließ und ihnen die Pistole an die Brust setzte, waren es letzten Endes nur kleine Rabauken“. Und weiter im US-Rassendiskurs: „Der Westen hatte während der letzten Jahre den Fehler gemacht, die Serben so zu behandeln, als seien sie rational denkende Menschen, mit denen man ernsthaft diskutieren und vernünftig verhandeln konnte. Tatsächlich aber reagieren sie nur auf Gewalt …“ Die Stipendiaten-Initiative hat offensichtlich von ihrem Förderer Holbrooke gelernt und von vornherein keine serbischen Historiker eingeladen, die der Sichtweise der Sieger skeptisch gegenüberstehen.

Der Historiker-Zirkus, der sich demnächst am Südosteuropa-Institut der Universität Graz trifft, wird also direkt von der stärksten Interventionsmacht in Exjugoslawien unterhalten. Der NATO-Luftkrieg war nach 78 Tagen gewonnen, die offizielle Besetzung von Kosovo, Bosnien und Herzegowina und Kosovo dauert fort. Nun haben USA und EU gemeinsam die Bildungsfront eröffnet. Es geht um die Köpfe der Serben, oder, wie es im Programm dazu heißt: „Die Stipendiaten-Initiative will die Teilnehmer dazu bringen, sich mit ihrem Wissen um die tragischen Ereignisse der Periode 1986 bis 2000 von den Interpretationen nationaler Politiker und Medien, die auf die Massenkultur ausstrahlen, zu befreien.“ Die westliche Herrschaft ist drauf und dran, die Rezeption der Geschichte des Balkans in ihrem Sinne zu transformieren.

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