Ein israelischer Historiker mit der Mentalität der europäischen Siedler
In der Folge veröffentlichen wir einen auf YellowTimes.org erschienen Artikel des Journalisten Gabriel Ash als Antwort auf das Interview, das der israelische Historiker Benny Morris im Januar der israelischen Tageszeitung Ha´aretz gab. In besagtem Interview rechtfertigte Morris Gewalt und Genozid an den Palästinensern.
Der israelische Historiker Benny Morris überschritt neuerlich eine Grenze, als er seine akademische Qualifikation und sein Ansehen dafür hergab, einen zukünftigen Völkermord an den Palästinensern „moralisch“ zu rechtfertigen.
Benny Morris ist der israelische Historiker, der in der Geschichtsschreibung über das Jahr 1948 der palästinensischen Sicht in besonderem Maße Recht gab. Das Leben von ungefähr siebenhunderttausend Menschen wurde zerstört, als sie von der jüdischen Miliz (und später von der israelischen Armee) zwischen Dezember 1947 und Anfang 1950 aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Morris ging die israelischen Archive durch und berichtete akribisch über die Vertreibung. Er dokumentierte jedes „ethnisch gesäuberte“ Dorf und jeden Gewaltakt, von dem Aufzeichnungen vorhanden waren, und stellte diese Ereignisse in den Kontext der militärischen Ziele und Wahrnehmungen der Täter.
Die Apologeten Israels versuchten vergeblich die Glaubwürdigkeit von Morris als Historiker anzugreifen. Von der anderen Seite wurde er ebenfalls angegriffen und beschuldigt, dass seine Schlussfolgerungen nicht tiefgreifend genug wären und er die versteckten Aussagen zu wenig beachtet hätte, da er behauptete, der Vertreibung wäre kein genauer Plan zugrunde gelegen. Trotzdem ist sein Buch „The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949“ eine wichtige und zuverlässige Aufzeichnung der Vertreibung.
In Hinblick auf die überarbeitete Neuauflage erschien ein Interview mit Morris in der Tageszeitung Ha´aretz. Die neuen Materialien und Dokumente, die zur Überarbeitung des Buches führten, zeichnen ein noch düstereres Bild.
Das neue Archivmaterial sind Aufzeichnungen über Routinehinrichtungen von Zivilisten, von 24 Massakern, unter anderem eines in Jaffa, und von mindestens zwölf Fällen von Vergewaltigungen verübt von Militärs – Material, das laut Morris wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs ist.
Außerdem sagt er, dass die neu entdeckten Dokumente für die weiterreichenden Schlussfolgerungen seiner Kritiker sprächen, denn die Vertreibung war genau geplant gewesen und konkrete Anweisungen dazu wurden schriftlich gegeben, wobei einige davon Ben Gurions Handschrift tragen.
Morris fand auch Dokumente, die belegen, dass die Evakuierung von Frauen und Kindern aus bestimmten Dörfern von arabischer Seite angeordnet wurde. Er behauptet nun interessanterweise, dass diese Tatsache die zionistische Propaganda unterstütze, dass nämlich die Palästinenser ihre Dörfer verließen, weil es ihnen die eindringenden arabischen Staaten befohlen hätten. Es ist eigenartig – der Versuch arabischer Kommandos die Zivilbevölkerung vor Vergewaltigung und Mord zu schützen, soll die zionistischen Märchen glaubwürdiger machen?
Der missglückte Versuch, Unvoreingenommenheit zu demonstrieren, ist jedoch das geringste Problem, denn im Zuge des Interviews entpuppt sich Morris immer deutlicher als gespalten: Morris, der Historiker, präsentiert Fakten professionell und mit der nötigen Vorsicht – Morris, der Intellektuelle, ist krank.
Seine Krankheit ist geistiger und politischer Natur. Er lebt in einer Welt, die nicht von Mitmenschen sondern von rassistischen Abstraktionen und Stereotypen bevölkert wird. Das Interview strotzt von Bildern wie „Die palästinensischen Bürger von Israel sind eine Zeitbombe“ nicht Mitmenschen. Der Islam sei „eine Welt, in der menschliches Leben nicht denselben Wert hat wie im Westen“ und die Araber seien (wie die) „Barbaren“ vor den Toren des Römischen Reiches. Die palästinensische Gesellschaft sei „ein Serienmörder“, der hingerichtet werden sollte und „ein wildes Tier“, das in einen Käfig gesperrt werden müsste.
Diese Krankheit, an der Morris leidet, wurde vor über vierzig Jahren von Frantz Fanon diagnostiziert. Ausgehend von seinen Erfahrungen im unterworfenen Afrika schrieb er, dass „die koloniale Welt eine manichäische Welt ist. Es genügt den Siedlern nicht, mit Hilfe ihrer Armee und Polizei den Lebensraum der ansässigen Bevölkerung physisch einzuschränken. Als ob der totalitäre Charakter der kolonialen Ausbeutung noch mehr Ausdruck bräuchte, stellen die Siedler die indigene Bevölkerung als Quintessenz des Bösen dar …… Sie hat keine Moral, …… ist der Feind jeglicher Werte. …… Sie ist das zersetzende Element, das alles zerstört, was in seine Nähe kommt …… das unbewusste und unrettbar verlorene Instrument von blinden Kräften“ (aus: Die Verdammten dieser Erde). Und weiter: „Die Begriffe, die die Siedler verwenden, wenn sie über die indigene Bevölkerung sprechen, sind der Zoologie entlehnt.“
Die Metaphern von Morris spiegeln die Bezeichnungen anderer Israelis für Palästinenser wider: Begin nannte sie „Tiere auf zwei Beinen“, für Eitan waren sie „hirnlose Kakerlaken“ und für Barak, besonders feinsinnig, „Lachse“1. Morris ist nur ein Fall in der Psychopathologie des Kolonialismus.
Guter Völkermord, schlechter Völkermord
Wenn die Siedler auf Indigene treffen, die sich nicht demütig verhalten, tritt die Krankheit ins nächste Stadium – mörderische Soziopathie. Morris, der über das Ausmaß des Terrors gegenüber den Palästinensern im Jahre 1948 genau Bescheid weiß, sieht ihn als gerechtfertigt an, denn die Alternative wäre der Völkermord der Palästinenser an den Juden gewesen. Dieser Gedanke ist reinste Hysterie. So gibt Morris auch sofort eine plausiblere Erklärung: Die Vertreibung war die Voraussetzung für die Gründung eines jüdischen Staates, das heißt sie diente einer bestimmten politischen Idee und war kein Akt der Notwehr.
Die politische Erklärung, dass die Vertreibung die demographischen Verhältnisse zugunsten der jüdischen Bevölkerung schaffen sollte, ist Konsens unter den Historikern. Die Behauptung, dass den Juden Völkermord drohte, wird jedoch (von Morris) in einer offensichtlicheren, rassistischen und aus der Luft gegriffenen Behauptung wiederholt: „Wenn es ihr möglich ist, wird (die islamische Gesellschaft) Völkermord begehen.“
Für Morris ist das alles selbstverständlich. Für ihn hat Ben Gurion leider versagt, denn er erreichte kein „araberreines Palästina“. Also schlägt Morris weitere ethnische Säuberungen unter den Palästinensern, einschließlich der israelischen Staatsbürger, vor. Nicht jetzt, aber „innerhalb von fünf bis zehn Jahren“ können diese in einem „apokalyptischen Szenario“, wie beispielsweise in einem regionalen Krieg mit unkonventionellen Waffen, einem möglicherweise nuklearen Krieg, „der in den nächsten zwanzig Jahren geführt werden könnte“, stattfinden. Für Morris ist die Möglichkeit eines nuklearen Krieges in der absehbaren Zukunft nicht das furchtbare Resultat eines Unterfangens, das nie begonnen werden sollte, sondern ein Meilenstein, dessen Folgen in der Kontinuität der zionistischen Politik durchaus vorstellbar sind. Er kann sich einen Krieg mit unkonventionellen Waffen zwischen Israel und nicht näher definierten regionalen Staaten als legitimes Mittel vorstellen, um „das unvollendete Werk von 1948 zu vollenden“.
Er spricht ausdrücklich von einer weiteren Vertreibung, und indem er gleichzeitig nach einer moralischen Entschuldigung für die vergangenen und zukünftigen Vertreibungen sucht, präsentiert er ein allgemeineres Argument, das nicht nur Vertreibung sondern auch Völkermord rechtfertigt.
Der Vormarsch der Zivilisation und die Leichen der Unzivilisierten
Man muss sich genauer ansehen, wie Morris rassistisches Denken als Legitimation von Völkermord verwendet. Wegen seiner schamlosen Offenheit ist das Interview mit ihm auch eine besonders gute Einführung in das zionistische Denken.
Sein Rassismus ist nicht auf die Araber beschränkt. Völkermord, sagt er, ist gerechtfertigt, wenn damit „das Gute“ erreicht werden kann. Aber welches gute Ziel rechtfertigt die „erzwungene Auslöschung“ eines ganzen Volkes? (Morris verwendet übrigens das Wort „hachchada“ [Vertilgung, d.Red.], ein hebräisches Wort, das mit dem Ausrotten einer Tierart assoziiert wird. Außerdem sollte Morris darüber informiert werden, dass es die Indianer Nordamerikas noch gibt – siehe unten).
Die Errichtung einer fortschrittlicheren Gesellschaft rechtfertigt also Völkermord: „Ja, sogar die große amerikanische Demokratie konnte nicht ohne die erzwungene Auslöschung der indigenen Bevölkerung etabliert werden. Es gibt Zeiten, in denen das umfassende, höchste Gute grausame Taten rechtfertigt.“ Solche Vergleiche zwischen der Zukunft, die die Palästinenser erwartet, und dem Schicksal der indigenen Bevölkerung Nordamerikas, ist unter den israelischen Apologeten durchaus üblich.
Die Herrenmenschenideologie von Morris, in der die „westliche Zivilisation“ menschliches Leben mehr schätzt als der Islam, ist in der moralischen Akzeptanz von Völkermord, wenn er dem „Fortschritt“ dient, begründet. ……
Das ist dieselbe Logik, mit der die Zionisten behaupten konnten, Palästina sei ein unbewohntes Land gewesen, trotz seiner Million Einwohner. Es läuft alles auf eines hinaus: Ob ein Dutzend Araber oder eine Million Araber getötet werden ist nur ein technisches Detail. Es ist akzeptabel, wenn es notwendig ist die politischen Ziele der Juden zu verteidigen, denn die Juden sind Teil des überlegenen Westens, während die Araber zu den Minderwertigen gehören. ……
Die Hautfarbe der Juden
Morris versichert uns, dass seine Werte die des zivilisierten Westens sind, nämlich die Werte einer universellen Moral, des Fortschritts usw. Aber dann nimmt er für sich das Primat besonderer Loyalitäten in Anspruch und bezieht sich dabei auf Albert Camus. Um seine Loyalität sowohl zum westlichen Universalismus als auch zum jüdischen Partikularismus als Einheit zu sehen, muss man offensichtlich vergessen, dass diese beiden Identitäten in der Geschichte im Widerspruch zueinander standen.
Es ist kaum verständlich, wie Morris mit seinem Wissen um den ethnischen Darwinismus umgeht. Er wurde ja benutzt um die Abschlachtung von Millionen Nicht-weißen wie der schwarzafrikanischen Sklaven, der Indigenen Amerikas, der Araber und anderer zu rechtfertigen; genauso sollte er aber auch den Versuch der Auslöschung der Juden rechtfertigen. Wie kann Morris die Legitimation von Völkermord im Dienste der „Zivilisation“ unterstützen, wenn dieses Konzept den Völkermord an den Juden beinhaltet? Wie kann er gleichzeitig behaupten, dass der Holocaust eine der Rechtfertigungen für den Zionismus ist? Vielleicht sieht sein zerrissener Verstand die Verbindung nicht …… oder vielleicht lebt er eine der Psychopathologien der Unterdrückten aus, nämlich die Identifikation mit dem Unterdrücker.
Vielleicht spielt es sich im Kopfvon Morris – halb Stammesdenken und halb universalistisches Gedankengut – so ab: Die Juden wurden ermordet um einer höheren, reiner arischen, europäischen Zivilisation Platz zu machen, und die Juden, die heute in der israelischen Armee dienen, sind gleichzeitig Teil und nicht Teil dieser Gruppe. Sie gehören dazu, wenn Morris die Stammestotems beschwört um Loyalität zu rechtfertigen; doch wenn er sich dem universalen Prinzip der „höherstehenden Zivilisation“ zuwendet, dann sind diese Juden wie ausgelöscht, wie arme Verwandte, derer man sich schämt, sie werden aufs Abstellgleis der großen Masse der entmenschlichten Nicht-Weißen geschoben. Im Gegensatz dazu sind die Juden Israels – die sich als Europäer verstehen – vom Zionismus chemisch gereinigt und gebleicht, Weiße geworden, und mit ihrer „neuen Hautfarbe“ beanspruchen sie das Privileg, das die Weißen schon immer hatten: das Privileg, die Angehörigen der „weniger entwickelten Rassen“ zu massakrieren.
Falsches Zeugnis
Es ware wunderbar, wenn Morris der Historiker seine objektive Distanz aufrechterhalten könnte, während Morris der Zionist mit den Dämonen des eurozentrischen Rassismus tanzt; doch die Mauer des Professionalismus – und in Morris´ Fall ist es eine sehr dicke und beeindruckende Mauer – hält dem Ansturm des Hasses nicht stand.
Morris lügt zum Beispiel über sein Verständnis des Gipfels in Camp David 2000. In Ha´aretz sagte er: „Als die Palästinenser Baraks Angebot im Juli 2000 und Clintons Vorschlag im Dezember 2000 ablehnten, verstand ich, dass sie nicht bereit waren eine Zwei-Staaten-Lösung zu akzeptieren. Sie wollten alles. Lydda und Akka und Jaffa.“
Doch in seinem Buch „Righteous Victims“ erklärt Morris das Scheitern der Verhandlungen folgendermaßen: „Die PLO-Führung hatte allmählich verstanden – oder schien verstanden zu haben –, …… dass Israel 78% des historischen Palästina behalten würde; doch die PLO wollte die übrigen 22 Prozent. … In Camp David hatte Barak der Gründung eines palästinensischen Staats …… [auf nur] 84–90% dieser 22 Prozent zugestimmt. …… Israel sollte auch das Gebiet zwischen einem stark vergrößerten Jerusalem und Jericho kontrollieren und damit das Herz des zukünftigen palästinensischen Staats entzwei schneiden ……“ Das Kapitel über die 90er Jahre in Morris´ „Righteous Victims“ lässt einiges zu wünschen übrig, doch man kann den Wunsch nach distanzierter Analyse erkennen. Im Gegensatz dazu liefert Morris in Ha´aretz Behauptungen, die jeder Grundlage entbehren und von denen er weiß, dass sie falsch sind.
Morris lügt über die jüngste Geschichte, liefert ein grob verzerrtes Bild von den Gefahren für die Juden in Palästina 1948 – eine Periode, für die er Experte ist –, und seine Behandlung allgemeinerer historischer Zusammenhänge ist einfach lächerlich, eine erstaunliche Mischung von Andeutungen und Klischees. So möchte Morris uns z.B. daran erinnern, dass „das arabische Volk einen großen Teil unserer Erde gewann – nicht durch seine eigenen Tugenden und Fähigkeiten, doch durch Eroberung, Mord und Zwangskonversion der neuen Untertanen“. (Was will er damit sagen? War die ethnische Säuberung Palästinas ein Werk jüdischer Tugenden und Fähigkeiten und nicht Eroberung und Mord?)
Das ist nicht Geschichte, sondern rassistische Beschimpfung. Spanien zum Beispiel wurde im Prinzip in einer einzigen Schlacht 711 n.Chr. von einer Bande nordafrikanischer Berber, die gerade erst zum Islam übergetreten waren, erobert. Spanien wurde innerhalb von zwei Jahrhunderten mit sehr wenig religiösem Zwang völlig islamisiert und arabisiert, und von einer ethnischen Säuberung kann nicht die Rede sein. Als jedoch die letzten islamischen Herrscher 1492 durch die christliche Armee von Ferdinand und Isabella vertrieben wurden, verweigerte ein großer Teil derselben Bevölkerung Spaniens – die Jahrhunderte zuvor bereitwillig den Islam angenommen hatte –, das Christentum, trotz der Verfolgung durch die Spanische Inquisition. 1608 wurden schließlich 600000 spanische Muslime vertrieben.
Die islamische Welt hatte natürlich ihren Anteil an Krieg und Gewalt. Doch das obige Beispiel zeigt, dass die islamische Zivilisation im Vergleich zum mörderischen religiösen Wahn in Europa im 16. Jahrhundert, im Vergleich zum Serien-Völkermord in Afrika und Amerika und schließlich zu den Schlächtereien des 20. Jahrhunderts relativ milde aussieht. Woher kommt also dieser Hass? Warum ist Morris Feuer und Flamme für die Islamophobie?
Leben in einem anderen Land
Die israelische Siedlergesellschaft, besonders ihr europäischer Anteil, die Aschkenasim, und der Teil, der sich selbst als „Friedenslager“ oder als zionistische Linke usw. definiert, basiert auf dem Hass gegen alles Östliche und Arabische. …… „Araber“ ist ein Schimpfwort, das für alles und jeden, einschließlich Juden, verwendet werden kann. Der Hass ist das einigende Element. Es ist das Verbindungsglied der Ausführungen von Morris in Ha´aretz mit Ben Gurions ersten Eindrücken von Jaffa im Jahre 1905; Er empfand Jaffa als dreckige und deprimierende Stadt.
In einem anderen Artikel, in der Zeitschrift Tiq…qun, macht Morris „den Ultranationalismus, den Provinzialismus, den Fundamentalismus und den Obskurantismus“ der arabischen Juden in Israel für den schlechten Zustand des Landes verantwortlich (obwohl Begin, Shamir, Rabin, Peres, Netanyahu, Barak, Sharon und die meisten der israelischen Generäle, Führungspersönlichkeiten und Meinungsmacher der letzten zwei Jahrzehnte europäische Juden waren). Für Morris ist alles Östliche korrupt und Ursache jeder Korruption. ……Was die psychologischen und politischen Ursachen dieses Hasses (auf alles Östliche) betrifft, findet man einige interessante Gemeinplätze, die bei Morris (und im israelischen Diskurs allgemein) immer wieder vorkommen. Morris beschuldigt Arafat, dass er Israel als „Kreuzfahrerstaat“ bezeichnet, als fremdes Element, das schließlich dorthin zurück geschickt werden wird, wo es herkommt. Vielleicht stimmt diese Anschuldigung. Aber es ist nicht Arafats Schuld, dass Morris ein Fremder im Nahen Osten ist. Warum sollte Arafat Israel nicht als Kreuzfahrerstaat sehen, wenn Morris selbst ihn so sieht? „Wir sind der verwundbare Teil von Europa in diesem Raum, so wie es die Kreuzfahrer waren.“
So wie ein großer Teil der israelischen Elite besteht Morris darauf, ein Fremder zu sein, der den Nahen Osten verachtet und von einem obskuren Europa, das aus der Distanz verherrlicht und rein erscheint, träumt. Wenn Israel ein Kreuzfahrerstaat ohne Wurzeln ist und deshalb auch verschwinden könnte, ist das nicht denen anzulasten, die diese Beobachtung machen, sondern jenen Israelis, die wie Morris den Nahen Osten hinter hohen Mauern und Stacheldraht beherrschen möchten.
Was Israels Zukunft betrifft, ist Morris sehr pessimistisch und er teilt diesen Pessimismus mit anderen in Israel. Das Ende für Israel scheint immer zu drohen, scheint hinter jeder Entwicklung zu stehen, sei es die Geburtenrate der Beduinen oder der Internationale Gerichtshof. Und natürlich gefährdet in dieser Logik jede der palästinensischen Forderungen das Überleben. Dieses Gefühl der existenziellen Gefährdung kann bis 1948 zurückverfolgt werden und wurde seither von allen Regierungen gehegt und gepflegt, weil es die ständige Gewalt des Staates und die Hegemonie des militärischen Apparates rechtfertigen soll. Irgendwann einmal könnte es sich um eine selbsterfüllende Prophezeiung handeln.
Aber die existenzielle Angst geht tiefer. Sie wurzelt im unterdrückten Wissen (das von Morris angesprochen und gleichzeitig verdrängt wird) von der Unrechtmäßigkeit, die dem politischen System und der Identität Israels inhärent ist. „Israel“ ist pure Gewalt. Mit den Worten von Morris heißt das: „Es läuft darauf hinaus, dass wir nur mit Gewalt erreichen können, dass sie (die Palästinenser) uns akzeptieren.“ Aber rohe Gewalt ist gefährlich, denn die Zeit nagt an ihr, Müdigkeit zersetzt sie, und je mehr sie angewendet wird, desto mehr zerstört sie die Akzeptanz und Legitimität, die sie eigentlich erreichen will.
Für Israels Zukunft ist daher die fundamentale Frage, ob die Israelis den Kolonialismus überwinden können. Die Prognose ist düster. In einem Artikel im Guardian erklärt Morris, dass die Anerkennung des Rückkehrrechts der palästinensischen Flüchtlinge die israelischen Juden ins Exil treiben würde. Aber warum würden Juden Israel verlassen müssen, wenn Israel ein bi-nationaler demokratischer Staat wird? Das Argument ist nur verständlich, wenn man die koloniale Verachtung des Nahen Ostens, die Morris so ausgezeichnet beschreibt, sieht. Unter diesem Aspekt hat Morris leider Recht. Viele israelische Juden, besonders die europäischen Juden, die eine zweite Staatsbürgerschaft haben, würden eher emigrieren als gleichberechtigt mit den Palästinensern in einem bi-nationalen Staat zu leben.
Dazu noch einmal Frantz Fanon: „In dem Moment, in dem die koloniale Herrschaft zusammenbricht, ist der Siedler weder an Zusammenarbeit noch am Verbleib im Land interessiert.“
Gabriel Ash ist in Rumänien geboren und in Israel aufgewachsen. Er lebt in den USA.
1 Barak spricht im Zusammenhang mit dem palästinensischen Widerstand von einem „Lachs-Syndrom“: Nach drei Generationen erlahme das Verlangen von Lachsen, gegen den Strom zu schwimmen. (Anm.d.Red.)
2 hachchada, „Vertilgung“. (Anm.d.Red.)
Der Artikel wurde von der Redaktion übersetzt und leicht gekürzt.