Die „“zeitgleiche Operation““ vom 1. April 2004
Am 1. April 2004 wurde in Europa und in der Türkei eine groß angelegte Polizeiaktion mit dem Prädikat „zeitgleiche Operation“, initiiert von der italienischen Staatsanwaltschaft, begonnen. Der Vorwand für diese Operation war „die Bekämpfung des Terrorismus“. Wer waren nun diese so genannten „Terroristen“, gegen die die Türkei, Italien, Deutschland, Griechenland und Belgien geschlossen vorgingen?
In Europa wurden in Perugia (Italien) drei Mitglieder der Antiimperialistischen Koordination und zwei Türken, SympathisantInnen der DHKC, verhaftet, das Amsterdamer Pressebüro Özgürlük polizeilich gestürmt, eine Person kurzfristig verhaftet und Materialien beschlagnahmt. Auch das Brüsseler Halkın Sesi TV und Radio wurde gestürmt und mehrere Personen verhaftet, die schnell wieder entlassen wurden. In Griechenland wurde ein Mann mit deutscher Staatsbürgerschaft verhaftet, der türkischen Flüchtlingen geholfen hatte. Am 12. Mai 2004 fand der Prozess statt. Die griechische Regierung entschied, ihn nach Deutschland abzuschieben. Gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt, Ende Mai wird erneut verhandelt.
In der Türkei wurden das Kulturzentrum İdil, der Verein für grundlegende Rechte und Freiheiten (Temel Haklar ve Özgürlükler Derneği), die Angehörigenorganisation Marmara-Tayad, der Istanbuler Jugendverein, das Rechtsbüro des Volkes (Halkın Hukuk Bürosu) und das Radio Stimme Anatoliens (Anadolu´nun Sesi Radyosu) gestürmt.
Bei den betroffenen Vereinen und Organisationen handelt es sich durchgehend um demokratische Vereine, die nach den Gesetzen der einzelnen Länder angemeldet sind. Es sind politische Vereine und Organisationen, die sich gegen Krieg, gegen die Militärdiktatur in der Türkei, gegen die Unterdrückung des kurdischen Volkes, für die politischen Häftlinge und gegen den voranschreitenden Neoliberalismus einsetzen. Der Vorwurf, der ihnen gemacht wird, ist, Teil der DHKC zu sein. Diese Vereine sind aber nicht Teil der DHKC. Merkwürdig ist, dass auch innerhalb Europas die Mitgliedschaft in einer in Europa legalen Organisation scheinbar strafbar sein kann. Die DHKC ist in Europa nicht verboten, der einzige Staat, der diese Organisation verboten hat, ist der türkische Staat. Führt die Europäische Union nun schon die Gesetze der Militärdiktatur in der Türkei aus, in der Tausende Leute gefoltert und ohne Beweise eingesperrt werden? Schon vor dem 1. April 2004 hat der türkische Staat versucht, einzelne Länder in der Europäischen Union dazu zu bewegen, in die Rolle ihrer Handlanger zu schlüpfen und die ihnen unliebsamen Personen zu inhaftieren. Bis jetzt weigerten sich die einzelnen Länder diesen Gesuchen nachzukommen. Aber die fortschreitende Entdemokratisierung auch in Europa trägt ihre Früchte. Diese Entwicklung ist gefährlich. Menschen wird aufgrund eines Meinungsdeliktes der Prozess gemacht und sie werden eingesperrt.
In der Türkei ist die Repression gegen Organisationen, die für Demokratie kämpfen, nichts Neues. Sie foltert, sperrt ohne Verhandlungen ein, schließt politische Gefangene in Isolationshaft. Jegliche Form des Widerstandes gegen die verbrecherischen Methoden des türkischen Staates wird kriminalisiert.
Die Angehörigenorganisation Tayad
Ein gutes Beispiel dafür ist Tayad, die Organisation der Angehörigen der sich im Hungerstreik gegen die Isolationshaft befindenden politischen Gefangenen. Um auf das Elend und den Verstoß gegen die demokratischen Grundrechte der Gefangenen aufmerksam zu machen, traten auch die Angehörigen der Todesfastenden in den Gefängnissen in das Todesfasten ein. Ein Jahr nach dessen Beginn in und außerhalb der Gefängnisse wurde das Zentrum der Todesfastenden außerhalb der Gefängnisse, Küà§ük Armutlu, ein armer Vorort von Istanbul, von der Polizei gestürmt. In dieser Polizeioperation wurden vier Personen durch die Polizei ermordet, dreizehn verletzt. Augenzeugen berichten, dass die Polizei schießend das Viertel bis zum Haus der Hungerstreikenden durchschritt, obwohl weder die Bewohner noch die Todesfastenden bewaffneten Widerstand leisteten.
Das Todesfasten dauert mittlerweile über drei Jahre. Bereits hundertelf Menschen sind gestorben. Um den Hungerstreik zu bekämpfen werden die WiderstandskämpferInnen oft zwangsernährt. Dabei wird das für das Nervensystem notwendige Vitamin B nicht hinzugefügt, wodurch die Betroffenen an dem Wernicke-Korsakoff-Syndrom erkranken. Diese Krankheit führt zu bleibendem Gedächtnisschwund, einer Gangstörung und Augen- und Muskellähmungen. Mittlerweile leiden fünfhundert Menschen unter dieser Krankheit. Viele von ihnen wurden dennoch wieder eingesperrt.
Der Kampf der Tayad ist ein demokratischer. Dennoch werden sie vom türkischen Staat als „Terroristen“ bezeichnet. Die aktuelle Repressionswelle gegen Tayad und andere demokratische Vereine dauert bereits Monate an. Der 1. April 2004 stellt lediglich den bis zu diesem Zeitpunkt traurigen Höhepunkt dar. Der Vorsitzende des Marmara Tayad wurde verhaftet. Mit ihm befinden sich Kenan Ustabaş, Sema Koৠund Yeliz Kılıৠin Polizeigewahrsam. Weitere sechs Personen, die am 1. April festgenommen und hinterher wieder freigelassen wurden, werden jetzt steckbrieflich gesucht. (vgl. Tayad-Komitee Hamburg, „Die Repression wird uns nicht einschüchtern.“) Am 15. Mai 2004 wurden während Protesten vor dem Veranstaltungsort des Eurovisionswettbewerbs zwei Demonstranten, Feridun Osmanağaoğlu und Sezai Demirtaş, verprügelt und verhaftet. (www.tayad.de, 21. Mai 2004)
Das Kulturzentrum İdil
Ein anderes Beispiel ist das Kulturzentrum İdil. Seine Lokale wurden am 1. April 2004 gestürmt, Verhaftungen wurden durchgeführt. Festgenommen wurden zwei Mitglieder der bekannten Musikgruppe Grup Yorum, Ali Aracı und Beril Güzel, die Chefredakteurin der Zeitschrift Tavır, Gamze Mimaroğlu, ein Mitarbeiter des Radios Anadolu´nun Sesi (Stimme Anatoliens), Devrim Koৠund Eylem Yerli, eine Mitarbeiterin im Cafà©. Die Begründung für diese Operation war, das Lokal sei Stützpunkt der DHKP-C. Das Kulturzentrum İdil ist eine legale, offiziell angemeldete demokratische Massenorganisation. Auch alle anderen während der Stürmung des Kulturzentrums verhafteten Personen sind ausschließlich Mitglieder legaler und offiziell angemeldeter Vereine (vgl. Presseerklärung von Grup Yorum und dem İdil-Kulturverein zu den europaweiten Razzien am 1. April 2004).
Die Musikgruppe „Grup Yorum“
Beispielhaft sei noch einmal Grup Yorum aufgegriffen. Grup Yorum wurde seit ihrem nun zwanzigjährigen Bestehen verfolgt, Konzerte und ein Album, Feda, verboten, ihre Mitglieder unter Hausarrest gestellt, gefoltert und eingesperrt. So wurde beispielsweise İhsan Cibelik, Mitglied von Grup Yorum, 1993 verhaftet. Nach seinem Zwangstransfer in die F-Typ Zellen im Jahr 2000 trat er, wie viele andere, in das Todesfasten ein. An seinem 253. Tag des Todesfastens wurde er mit der Bemerkung „wenn du sterben willst, geh und stirb draußen“ ohne eine Anfrage seitens İhsans entlassen. Außerhalb des Gefängnisses erkrankte er an dem unheilbaren Wernicke-Korsakoff-Syndrom, das durch das Todesfasten verursacht wird. Am 22. Januar dieses Jahres wurde er trotz seiner schweren Krankheit wieder eingesperrt (vgl. www.grupyorum.net/kampanya).
JuristInnen werden vom türkischen Staat verfolgt
Auch ein Jurist ist von der Repressionswelle, die mit dem 1. April 2004 begann, betroffen. Der Rechtsanwalt BehiৠAşà§ı vom Rechtsbüro des Volkes (Halkın Hukuk Bürosu) wurde verhaftet und ins F-Typ-Gefängnis von Tekirdağ gebracht. Am 1. Mai wurde er wieder freigelassen (vgl. www.tayad.de, 1. Mai 2004).
Ein Resümee
Diese Aufzählungen können lediglich Beispiele bleiben. Doch das Schema bleibt das gleiche. Egal ob politische Aktivität nach den Gesetzen der einzelnen Länder erfolgt oder nicht, dies ist nicht das Kriterium für ihre Kriminalisierung. Kriterium ist vielmehr, ob eine politische Bewegung eine Gefahr für die eigene Legitimität in der Bevölkerung darstellt. In der Türkei existiert eine breit in der Bevölkerung verankerte demokratische Bewegung gegen die Militärdiktatur. Darum muss die Regierung versuchen die revolutionären Kräfte im Volk mit allen Mitteln zu zerschlagen – zu illegalisieren, zu foltern, in Isolationshaft zu sperren.
Die Militärdiktatur in der Türkei hat seit ihrem Bestehen ein umfassendes Netz an Repression geschaffen, in der linke und demokratische Stimmen unterdrückt werden. Eine qualitativ neuere Entwicklung ist jedoch, dass die Europäische Union, begonnen mit der Aufstellung der „schwarzen Liste“ von offiziell nie verbotenen Organisationen, also Organisationen, gegen die kein Prozess geführt wurde, genauso jegliche rechtsstaatlichen Versicherungen über Bord geworfen hat. Wie geplant findet ein Angleichen der europäischen und der türkischen „Demokratie“ statt. Und wenn beide brav sind und sich anstrengen, dann dürfen sie vielleicht auch Mitglied der USA werden.
Sonja Tschurlovits