Zur Rolle des Iran im Irak
Seit der bis dahin weitgehend von sunnitischen Kräften getragene nationale Befreiungskampf im Irak Unterstützung durch die Mahdi-Armee des schiitischen Predigers Muqtada al-Sadr erhalten hat, wird insbesondere in US-amerikanischen Medien und politischen Kreisen erneut die Frage nach der Rolle gestellt, welche die – schiitische – Islamische Republik Iran im Irak spielt und entsprechend die Frage nach der gegenüber diesem Mitglied der von Präsident Bush so genanten „Achse des Bösen“ einzuschlagenden Politik.
Seit der Besetzung der US-Botschaft in Teheran nach der Revolution, die mit dem Schah einen der engsten Verbündeten der USA in der Region beseitigt hat, bestehen zwischen den USA und dem Iran keine diplomatischen Beziehungen mehr. Ungeachtet dessen und der Platzierung des Iran auf jener Achse wäre es aber zumindest verkürzt, das Verhältnis zwischen beiden Staaten eindimensional in diesem Sinn zu betrachten. Das aber scheint nicht unerwartet die Sichtweise der neokonservativen Extremisten zu sein, die unter George W. Bush einen bis dahin nicht gekannten Einfluss erlangt haben. So haben neokonservative Propagandisten wie Michael Rubin, Larry Diamond, Leitartikler der Washington Times oder William Safire in der New York Times nicht gezögert, die Erhebung der Mahdi-Armee zu nutzen, um ihre schon zu Beginn der Besatzung vorgetragene Position, dass es jetzt an der Zeit sei, mit dem Regime im Iran aufzuräumen, mehr oder weniger offen zu bekräftigen. Wie u.a. der Rücktritt von Richard Perle, einem der lautesten Vertreter dieser Politik, vom Vorsitz des „Defense Policy Board“ deutlich gemacht hatte, hatten diese Kräfte in letzter Zeit eher etwas an Einfluss verloren.
Dazu haben zweifellos auch der Zusammenbruch ihrer Voraussagen über irakische Massenvernichtungswaffen und insbesondere über die allgemeine Unterstützung, welche die Besatzungstruppen zu erwarten hätten, beigetragen. Gerade dieser letzte Punkt wurde am 10. Mai noch einmal höchst offiziell bekräftigt, als der Leiter des angesehenen Bagdader Forschungszentrums „Iraq Center for Research and Strategic Studies“, Sadoun Dulame, das Ergebnis einer von der Besatzungsbehörde in Auftrag gegebenen Umfrage bekannt gab. Wollten einer entsprechenden Umfrage zufolge vor einem Jahr nur 17% der Iraker den sofortigen Abzug der Besatzungskräfte, wurde dieser Wunsch jetzt von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung geteilt. Die Umfrage war wohlbemerkt im April, d.h. vor dem jüngsten Skandal über die systematische Folter an Kriegsgefangenen durch die „Befreier“, durchgeführt worden.
Was dem Iran und in einem Aufwasch auch einem weiteren Achsenmitglied in der Region, Syrien, aktuell vorgeworfen wird, ist eine finanzielle, aber auch direkte Unterstützung des Aufstands durch Irans Revolutionsgardisten und die auch vom Iran unterstützte libanesische Hizbullah. Dieser Vorwurf wird nicht nur von neokonservativen Ideologen erhoben, sondern auch von Teilen des US-Militärs. Am 12. März beschuldigte der Chef des US Central Command, General John Abizaid, beide Länder der Einmischung, weigerte sich allerdings den Vorwurf zu präzisieren. Als Begründung für die angebliche Politik des Iran gegenüber dem Irak wurde von Rowan Scarborough in der Washington Times bezugnehmend auf ungenannte militärische Quellen angeführt, dass „ein demokratischer Irak die Todesglocken für die Mullahs bedeutet“. Zu den – ungenannten – Stichwortgebern für die Anhänger dieser Position gehören im übrigen die iranischen Volksmojahedin, die im Interesse ihrer im Irak von den US-Kräften internierten Kräfte alles daran setzen, jegliche Verständigung zwischen den USA und dem iranischen Regime zu untergraben. Sie behaupten deshalb seit langem, dass die Mullahs Zehntausende Revolutionsgardisten und Agenten und entsprechende Mengen an Waffen in den Irak geschickt hätten, um dort eine ihnen hörige Islamische Republik zu installieren.
Bei genauerem Hinsehen muss aber an der These der US-Neokonservativen einiger Zweifel angemerkt werden. Die irakischen Schiiten einschließlich ihrer auf religiöser Basis organisierten Kräfte können keineswegs umstandslos als Anhänger des iranischen Regimes betrachtet werden. Die dem Regime in Teheran am engsten verbundene Kraft ist der „Oberste Rat der Islamischen Revolution im Irak“ (SCIRI), dessen Badr-Brigaden vom Revolutionswächtercorps aufgebaut wurden. Der SCIRI jedoch sitzt zusammen mit der schiitischen Da…‘wa-Partei, die in der Saddam Ära ebenfalls Zuflucht im Iran gefunden hatte, im von der Besatzungsmacht etablierten Regierungsrat (IGC). Der oberste religiöse Führer der Schiiten im Irak, der im Iran geborene Großayatolla Ali al-Sistani, gilt nicht als Anhänger der Herrschaft der islamischen Rechtsgelehrten, des der iranischen Verfassung zugrunde liegenden Prinzips der Velayat-e Faqih. Anhänger der Velayat-e Faqih jedoch ist zweifellos Muqtada al-Sadr. Das jedenfalls gehe, so der US-amerikanische Irak-Spezialist Prof. Juan Cole, aus einem Interview hervor, das Muqtada im vergangenen im vergangenen Sommer in al-Hayat gegeben hat. Er verdankt seine Stellung im Irak nicht seinem eigenen religiösen Rang, sondern zum einen der Tatsache, dass er der Sohn eines Ayatollah ist, der – mit größter Wahrscheinlichkeit – vom Saddam-Regime ermordet wurde, und zum anderen, dass er im April 2003 vom im iranischen Ghom residierenden aber irakischen Großayatollah Kadhim Husseini al-Hairi zu seinem Stellvertreter im Irak ernannt wurde. Muqtada aber gilt wie seine Familie gleichzeitig als irakisch nationalistisch und erkennt deshalb die Führung von Irans Revolutionsführer Ali Khamenei über die Gesamtheit aller Zwölfer-Schiiten nicht an.
Der Iran ist natürlich daran interessiert, seinen Einfluss im Nachbarland insbesondere gestützt auf die rund 60 Prozent der Bevölkerung stellenden Schiiten auszudehnen. Das dient gleichzeitig der Sicherung der Grenze gegen die arabisch-nationalistischen Ansprüche, wie sie zuletzt in den 80er Jahren blutig vom Regime Saddam Husseins vorgetragen wurden. Gleichzeitig dient das der Wiederherstellung der regionalen Hegemonie, wie sie zu Zeiten des Schahs bestand, und vor allem der Stabilisierung der klerikalen Herrschaft in Teheran.
Zu diesem Zweck baut das iranische Regime seit dem Sturz Saddams seine Beziehungen zu möglichst vielen schiitischen Kräften aus. Allerdings geschieht das offenbar weniger durch militärische Unterstützung, die im Irak angesichts der jahrzehntelangen Militarisierung der gesamten Bevölkerung ohnehin kaum jemand braucht, als vielmehr mittels des Ausbaus eines sozialen Netzes über die Moscheen. Dieses Netz ist angesichts der Unfähigkeit der Besatzung, die sozialen Nöte der Bevölkerung zu lindern, von eminenter Bedeutung.
Auf dieser Grundlage ist die iranische Politik gegenüber dem Irak und der Besatzung langfristig angelegt und durch ein vorsichtiges Taktieren gekennzeichnet. Auch wenn Revolutionsführer Khamenei jüngst verkündete „früher oder später werden die Amerikaner gezwungen sein, den Irak in Schande und erniedrigt zu verlassen“, ändert das nichts daran, dass der Iran keineswegs daran interessiert ist, den Falken in Washington irgendeinen Vorwand für ihre Aggression zu liefern. Offensichtlich geht es dem iranischen Regime vielmehr darum, langfristig eine mit ihm sympathisierende schiitische Herrschaft zu ermöglichen und gleichzeitig den Druck auf die amerikanische Besatzungsmacht auf einem Niveau zu halten, der dieser nicht etwa einen Vorwand für einen Angriff auf den Iran gibt, sondern sie vielmehr die Vermittlung des Iran suchen lässt.
Genau das ist schließlich auch geschehen. Mitte April betonte Irans Außenminister Kamal Kharazi, es habe eine Menge an Kontakten mit den USA bezüglich des Irak gegeben und die USA hätten den Iran ersucht, dabei zu helfen, die Krise dort zu lösen. In diesem Sinne bemühe sich der Iran. Etwa gleichzeitig räumte auch General Abizaid ein, dass es im Iran „Elemente“ gebe, die den Einfluss von Muqtada al-Sadr zu begrenzen suchten.
Natürlich kann der Iran nur dann eine entsprechende Rolle im Irak spielen, wenn die Besatzungsmacht dort Probleme hat. Das iranische Regime, das in den Wahlen vom 20. Februar seine ohnehin unfähige liberale Fraktion definitiv ausgebootet hat, bereitet sich darauf vor, sich unter der starken politischen Hand der um Ayatollah Khamenei und Hojatolleslam Rafsanjani gescharten rechten Fraktion wirtschaftlich dem Westen weiter zu öffnen und nach chinesischem Modell erneut zur regionalen Hegemonialmacht aufzusteigen. Eine Explosion im Irak mit unbekanntem Ergebnis und bestenfalls partieller Kontrolle durch Teheran liegt nicht im Interesse einer solchen Perspektive.
Wieweit die USA die iranische Strategie nutzen oder verhindern können liegt andererseits wesentlich an der Entwicklung des Widerstands im Irak. Prof. Juan Cole erinnert angesichts der jetzigen Vermittlungsrolle des Iran eine arabische Geschichte. Angesichts der Kälte draußen erlaubt ein Beduine seinem Kamel, die Nase unter das Zelt zu stecken. Dann jedoch schiebt es langsam den Kopf hinein, um schließlich das gesamte Zelt einzunehmen, während der unglückliche Hausherr die kalte Nacht im Freien verbringen muss. Dass das iranische Kamel seine Nüstern nur überaus bedachtvoll unter die Zeltwand schieben kann, hat seinen Grund auch im sich ständig verändernden Gleichgewicht zwischen den Akteuren im Irak, nicht zuletzt auch den religiös-schiitischen. In Anbetracht seines niedrigen religiösen Rangs hat Muqtada al-Sadr seit dem Sturz des Saddam-Regimes seine sich aus den ärmsten Teilen der schiitischen Bevölkerungsgruppe rekrutierende Basis und ihre damit zumindest in der Form besonderen Radikalität in die Wagschale geworfen und eher öfter als seltener eine aggressive Haltung gegenüber den schiitischen Konkurrenten vom besonders pietistischen und „liberalen“ Ayatollah Khui über al-Sistani bis zum SCIRI eingenommen. Sein bis heute andauernder Widerstand gegen die Besatzer hat ihm über die schiitisch-sunnitische Grenze hinweg inzwischen ein hohes Ansehen in der Bevölkerung verschafft und ihn der erwähnten Umfrage zufolge zum zweitrespektiertesten Mann im Irak gemacht. Wenn dem so ist, dann ist es nicht verwunderlich, wenn der SCIRI seine Felle davonschwimmen sieht. Das jedenfalls dürfte der Hintergrund des offenen Angriffs sein, den der Wiener Repräsentant des SCIRI in einer Erklärung zwar nicht gegen al-Sadr, wohl aber gegen die Widerstandskräfte im sunnitischen Fallujah vorgebracht hat.
Angesichts dessen, dass deren Widerstand ebenso wie der Sadrs zumindest fürs erste zu einer breiten und aktiven interkommunitären Solidarität geführt hat, ist die Kritik am Widerstand in Falluja implizit auch eine am Widerstand al-Sadrs. Teil der Schaukelpolitik des Iran ist anderseits auch die Tatsache, dass der ehemalige Staatspräsident und jetzige Vorsitzende des Rates für besondere Angelegenheit, Rafsanjani, al-Sadrs Bewegung als „heroisch“ bezeichnet hat. Das geschah sicher nicht zufällig nur einige Tage nachdem der Direktor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Muhammad al-Baradei, erklärt hatte, dass sich die Geduld der „internationalen Gemeinschaft“ gegenüber Irans Nuklearprogramm, das übrigens mit US-Unterstützung zur Schahzeit initiiert worden war, ihrem Ende zuneige. Andererseits hat sich jedoch Ayatollah Hairi in Ghom von seinem Schützling jüngst vorsichtig distanziert.
Das iranische Regime in all seinen heute ausschlaggebenden Fraktionen ist bedingt zum einen durch seine traditionellen Beziehungen zum einflussreichen Basar und zum anderen durch die engen Verbindungen, welche die Mullahs an der Macht – weder fähig noch willens, mit diesem zu brechen – im Laufe der vergangenen 25 Jahre zum internationalen Kapital eingegangen sind, keineswegs an einem als abenteuerlich gesehenen Bruch mit dem Imperialismus und folglich auch mit den USA als dessen Führungsmacht interessiert, wohl aber an einer besseren Position innerhalb der globalen imperialistischen Strukturen. Die Beziehungen zu den verschiedenen Kräften im Irak geschehen im diesem Spannungsfeld.
Das gilt auch für die zu den tendenziell extremistischen und dem Selbstverständnis nach militant antiimperialistischen der Sadr-Bewegung, die weder an eine starke schiitische Basarbourgeoisie gebunden ist, die sich im Irak angesichts der sunnitischen Vorherrschaft kaum entwickeln konnte, und deren Führer sich mangels langjähriger politischer Herrschaft im Irak auch noch nicht eigenständig ökonomisch in die herrschende Bourgeoisie und damit Rolle eines Juniorpartners oder auch nur Klienten der imperialistischen Mächte hocharbeiten konnten.
Anton Holberg
Anton Holberg lebt als freier Journalist in Deutschland.