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Krise und Normalisierung des oligarchischen Militärregimes in der Türkei

29. Juni 2004

Herausforderung an die revolutionäre Bewegung

Nach dem blutigen Militärputsch 1980, der von der NATO Rückendeckung erhalten hatte, entwickelte sich die Türkei zum bedeutensten Stützpunkt des Imperialismus im Nahen Osten nach Israel. Seit der Etablierung des modernen türkischen Staates hat das Militär eine bedeutende Rolle innerhalb des politischen Regimes innegehabt – ein Zustand, den der Kemalismus vom Osmanischen Reich übernommen hatte.

Nachdem das Militär einen historischen Sieg über die revolutionäre Bewegung und die gesamte Linke davon getragen und mit eisener Hand einige Jahre als offenes oligarchisches Militärregime regiert hatte, wurde versucht schrittweise einen demokratischen Deckmantel wieder aufzubauen, der es ermöglichte Parteien zu gründen und Wahlen abzuhalten. Trotzdem wurde niemals das Ruder aus der Hand gegeben. Jeder wusste, dass hinter der Fassade das letzte Wort bei dem allmächtigen Nationalen Sicherheitsrat (MGK) lag.

In der Mitte der 80er wurde das Militärregime durch eine wachsende bewaffnete kurdische Befreiungsbewegung, angeführt durch die PKK, herausgefordert. Während die einst unruhigen Städte im westlichen Teil Anatoliens großteils durch brutale Gewalt befriedet worden waren, begann h die Rebellion im kurdischen Volk. Selbst der regelrechte Krieg den die türkische Armee entfachte konnte die Befreiungsbewegung nicht zerstören. Im Gegenteil, die PKK war fähig für mehrere Jahre die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung in der Türkei für ihre Unterstützung zu mobilisieren.

Der eskalierende Konflikt brachte auch der türkischen Linken neuen Wind. Millionen Kurden wurden vertrieben und zogen in die großen Städte wie Istanbul, Ankara oder Izmir, und brachten dort die Slums, genannt Gecekondu („das Haus das in einer Nacht erbaut wurde“) zum Überquellen. Viele Flüchtlinge, die vor der Politik der verbrannten Erde der Armee flohen gehörten zu den Alewiten, einer häretischen islamischen Sekte, die in mehrere Rebellion gegen die osmanischen Sultane involviert gewesen war und bekannt für ihre oppositionelle und protosozialistische Tradition ist.

1995 brach ein Volksaufstand in dem Istanbuler Stadtteil Gaziosmanpasa, in dem vorallem neu angekommene Alewiten lebten, aus, der einen breiten Widerhall in anderen alewitischen Gemeinden im ganzen Land fand. Formen der Massenorganisation des Volkes wurden errichtet. Während mehrerer Monate fanden heftige Zusammenstösse mit der Polizei statt. Trotz des beachtenswerten Momentum der Rebellion konnte sie die Begrenzungen der alewitischen Gemeinde nicht überwinden. Durch die kombinierten Faktoren der staatlichen Repression und der politischen Isolierung war diese Rebellion dazu verdammt früher oder später unterzugehen.

Nach dem Militärputsch – während der überwiegende Teil der historischen Linken einen opportunistischen und legalistischen Standpunkt vertrat – führten nur wenige Gruppen der revolutionären Linken ihren Kampf im Untergrund fort, allen voran Devrimci Sol, die spätere Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKC). Auch wenn es einige bewaffnete Aktionen gegen die Militärjunta sowohl in den Städten als auch am Land gab, waren schwere Zeiten für die Bewegungen angebrochen. Die Revolte der alewitischen Flüchtlinge half den Revolutionären Zulauf zu erhalten und neuen Boden zu gewinnen. Während einer bestimmten Periode genossen sie sogar Massenunterstützung spezifischer Sektoren der Bevölkerung.

Aber diese Tendenz befand sich im starken Gegensatz zu dem generellen Trend der in der türkischen Gesellschaft vorherrschte. Während soziale Unruhen von Zeit zu Zeit gegen das neoliberale Austeritätsprogramm ausbrachen und die Unzufriedenheit gegen die Marionettenregierungen der militärischen Oligarchie wuchs, drückte sich dies in wachsenden islamischen Ansichten aus. Dies ist die Linie welche die Entwicklungen im Nahen Osten im allgemeinen genommen haben, wo die sozialen und antiimperialistischen Forderungen islamische Formen annehmen.

Trotz des verbreiteten türkischen Chauvinismus entwickelten die islamischen Trends und Bewegungen eine tolerantere Position gegenüber den Kurden. Sie tendierten eher zu panislamischen Konzeptionen, in denen die türkisch kurdischen Widersprüche ihre Wichtigkeit verloren. Deswegen erreichten besonders in Kurdistan die islamischen Parteien ihre besten Ergebnisse, da offen prokurdische Parteien verboten worden waren.

Seit den frühen 90ern stellte das Militärregime die islamischen Parteien regelmäßig außerhalb des Gesetzes um sie von öffentlichen Ämtern fernzuhalten. Dennoch wurde von radikaler Repression Abstand genommen, um sie nicht zu radikalisieren. Aber keine der Maßnahmen konnte ihr ständiges Wachstum verhindern.

Die Niederlage der PKK

Nach dem Kollaps der Sowietunion und dem weltweiten Rückschlag der Befreiungsbewegungen wurde auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) von dem konterrevolutionären Druck betroffen. Innerhalb der PKK traten ersten Zeichen auf, ihren Standpunkt zu erweichen und eine verhandelte Einigung mit dem türkischen Staat zu erzielen, welche dem vollen Recht auf nationale Selbstbestimmung entsagte. Diese Tendenz entwickelte sich in vollem Umfang in der Mitte der 90er. Der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, ließ sich auf dieses Projekt ein um wenigstens einen Teil der EU gegen die US-türkische Achse zu wenden. Aber er scheiterte kläglich. Er wurde entführt und schließlich inhaftiert mit der schweigenden Hilfe jener Mächte, die er um Hilfe bat.

Vom Gefängnis aus verkündete er die endgültige Kapitulation der kurdischen Befreiungsbewegung. Aber selbst das half nichts. Der türkische Staat führte unbeeindruckt dessen seine Kampagne gegen die Kurden fort. Kein bedeutender Schritt wurde bis lang unternommen Rechte für die Kurden zu sichern.

Man könnte annehmen, dass die Niederlage der kurdischen Befreiungsbewegung das türkische Regime gestärkt haben würde, und in gewisser Weise hat sie das auch. Paradoxerweiser kamen genau dann Zeichen der politischen Krise zum Vorschein als die chauvinistische Kampagne gegen die Kurden sich etwas entspannte da die bewaffneten Auseinandersetzungen zu einem Ende gekommen waren.

Der Erdrutschsieg der AKP

2002 gewann die islamische „Gerechtigkeits-, und Entwicklungspartei“ (AKP) mit einem Erdrutschsieg die Wahlen, während die traditionellen Parteien des politischen Systems des Militärregimes noch nicht mal die 10% Marke erreichten, die früher von ihnen eingerichtet worden war um die kurdischen Parteien aus dem Parlament draußen zu halten. Neben der AKP schaffte es nur die „Republikanische Volkspartei“ (CHP), Erben von Kemal Atatürk, Parlamentssitze zu gewinnen – vielleicht nur deswegen, weil sie die Marke 1999 bei den Wahlen nicht erreicht hatten und deshalb nicht für die Regierungspolitik der letzten Legislaturperiode verantwortlich gemacht werden konnten.

Für die militärische Oligarchie war dies eine zerschmetternde politische Niederlage. Sie hatte jegliche Glaubwürdigkeit innerhalb des Volkes verloren, obwohl sie erfolgreich die kurdische Rebellion für Selbstbestimmung zerschlagen hatte – eine demokratische Forderung die weit verbreitet von allen sozialen Schichten der türkischen Gesellschaft abgelehnt worden war – innerhalb des islamischen Milieus nur wenig geringer. Tatsächlich verschwanden die Gründe für die chauvinistische Einheit sobald die behauptete „kurdische Bedrohung“ ausgelöscht war. Die tiefe Kluft zwischen dem Volk und der militärischen Oligarchie konnte an die Oberfläche dringen. Das war auch der Krise des türkischen Kapitalismus zu verdanken, der das Land nahe an den finanziellen Kollaps manövriert hatte. Die liberalistischen Rezepte, die von den globalen Finanzinstitutionen verordnet worden waren führten zu einer allgemeinen Verarmung der Volksmassen.

Es ist anzunehmen, dass es Kräfte innerhalb der kommandieren Ränge der Armee gab, die dazu rieten, die politischen Vorrechte der Generäle durch einen neuen Militärputsch zu verteidigen, wie es in der türkischen Geschichte schon passiert war. Aber die Situation erlaubte keine so dramatische Maßnahme. Vor allem existierte ja keine militante Massenbewegung, welche gegen das Regime war, wie in den 70ern, sondern eine moderate bürgerliche islamische Partei, welche die abweichenden Hoffnungen der breiten Volksmassen kanalisieren konnte. In keiner Weise stellte die AKP eine wirkliche Bedrohung des Regimes dar. Im Gegenteil war eine Regierung der AKP die einzige Möglichkeit die liberalistische sozioökonomische Politik und die proimperialistische Rolle in der Region fortzuführen und gleichzeitig eine Art Deckmantel zu sein. Weder die USA noch die EU hätten einen politisch zu kostspieligen und unnötigen Militärputsch gebilligt. Daher hatte die Armee keine andere Möglichkeit als die Amtsübernahme durch die AKP zu akzeptieren.

Tatsächlich eröffnet die AKP Regierung die Frage nach einer historischen politischen Reform im türkischen kapitalistischen Regime, die 1980 während der Junta gestellt worden war, und während dem Krieg gegen die PKK eingefroren worden war. Die Tiefe politische Krise die durch den überwältigenden Sieg der AKP offen zu Tage trat, zeigt die Unfähigkeit der militärischen Oligarchie auf gewohnten Pfaden weiterzuwandeln. Sowohl die Generäle selbst als auch die Parteien des Regimes die von der kemalistischen Tradition kommen, zeigten dass sie unfähig sind für die Sicherung des Regimes notwendige Reformen zu ergreifen. Die türkische Bourgeoisie, die substantiell dem Imperialismus ergeben ist, ist unfähig eine solide Hegemonie innerhalb der Volksmassen auszuüben. Deshalb muß sie sich auf die Armee als bonapartistischen Schiedsrichter stützen.

Das was die AKP erreichen will könnte „Normalisierung“ genannte werden. Im Grunde geht es darum das System von jenen Elementen zu säubern die vom Militärregime geerbt wurden, die einst notwendig waren die Linke und den kurdischen Befreiungskampf zu unterdrücken. Nach der Niederlage beider würde ein Weitergehen auf demselben Weg bedeuten, zu scheitern, ein Regime zu installieren, das die notwendige politische Hegemonie aufweißt und würde neues Risiko für Instabilität und Unruhe in sich bergen.

Die Mitgliedschaft in der EU

Die Frage der EU Mitgliedschaft ist der Katalysator für die Reformprogramme. Jede strategische Frage ist involviert, auch jene nach der zukünftigen Architektur Europas und des Nahen Ostens.

Obgleich die Türkei um Mitgliedschaft schon im Jahre 1987 angesucht hat, ist es in keiner Weise gesagt, dass die EU den Antrag tatsächlich akzeptieren wird. Die Risiken sind hoch:

Die USA unterstützen den Antrag in jeder Hinsicht. Nach dem jüngsten Zugewinn mehrerer osteuropäischen Staaten unter ihre Fittiche, würde eine EU-Mitgliedschaft der Türkei ihnen ein noch größeres Standbein innerhalb der EU sichern. Mit der Türkei in der EU, eine der bedeutensten und standfestesten Verbündeten der USA auf der ganzen Welt, könnte ausgeschlossen werden, dass die EU einmal der Vorherrschaft der USA entkommen könnte.

Währenddessen sind die EU-Mächte immer vorsichtiger. Schon jetzt bestehen große Probleme innerhalb der institutionellen Rahmenbedingungen der Gemeinschaft. Sie geben den dominierenden Mächten nicht genug Macht, sondern gestatten jenen Ländern, die als neokolonialer Hinterhof Europas angesehen werden, ein fast disproportionales institutionelles Gewicht. Rumänien und Bulgarien, als echte Dritte Welt Staaten mögen aber noch verdaulich sein.

Gegenteilig zu den schwachen Staaten des Balkans ist die Türkei mächtig, wenn auch dennoch ein Staat der Dritten Welt. Man muß im Auge behalten, dass sie Deutschland an Bevölkerungszahl in einigen Jahren überholt haben wird. Nach Soldatenzahl hat sie die stärkste Armee und sie spielt eine Schlüsselrolle im Nahen Osten.

Auch von einem sozialen Standpunkt her würde die Mitgliedschaft der Türkei die EU erschüttern, die konzipiert war als eine Gemeinschaft imperialistischer Gesellschaften mit dominanten Mittelklassen. 50 Millionen armen Türken die selben Rechte zu geben ist von einem bürgerlichen kapitalistischen Standpunkt aus nicht nur eine große Gefahr sondern einfache Dummheit.

Der türkische Antrag ist von demselben Kaliber wie jener von Russland. Beide sind von außerordentlicher geostrategischer Bedeutung. Vom Blickwinkel der wichtigsten europäischen Mächte aus müssen sie ihre Macht fest in Händen halten und den Antragstellern den Status von maximal Assoziierten geben.

Die Türkei selbst ist gespalten über diese Frage. Die EU hat sich auf die Linie des demokratischen Imperialismus eingelassen, als Garant der Menschenrechte. Diese sogenannten „Europäischen Werte“, welche von der Türkei gefordert werden eingehalten zu werden, haben bislang als Vorwand gedient, die Mitgliedschaft zu verweigern. Die Forderung nach Reformen inkludiert die entscheidende Frage einiger elementarer Autonomierechte für die Kurden, das Ende der unilateralen Besatzung Nordzyperns und den Abzug der Armee von der politischen Bühne. All das würde bedeutende Änderungen zum Beispiel der Gerichtsbarkeit bedeuten aber auch eine Lösung für die tausenden politischen Gefangenen verlangen.

Es ist offensichtlich, dass die führenden Leute in der Armee außerordentlich skeptisch zu den Vorbedingungen der EU stehen, da sie ihre historische Rolle nicht aufgeben wollen.

Auf der anderen Seite gibt es einen starken Block der aus der liberalen Bourgeoisie, großen Teilen der Mittelklasse und auch wichtigen Teilen der Volksmassen besteht, der das Reformprojekt begrüßt. Innerhalb mancher Teile der Bourgeoisie mag auch die Idee existieren etwas der strangulierenden Hegemonie der USA gegenüber zustellen. Auch wenn es einen breiten Konsens gibt, die nationale Souveränität zu sichern, wird die EU dennoch als ein Instrument gesehen, die Generäle unter Druck zu setzen, etwas wozu sich alle nationalen Kräfte bis lang als zu schwach erwiesen haben. Was von der morderaten Linken übrig geblieben ist, hat sich ebenfalls auf diese Linie eingelassen.

Mit diesen heterogenen Kräften im Rücken versucht die gegenwärtige AKP Regierung sanft und vorsichtig die Armee Schritt für Schritt zu Zugeständnissen zu bewegen.

Der Premierminister Recep Tayyip Erdogan erreichte seinen ersten Erfolg in Zypern. Er manövrierte die Armee und ihren historischen Führer auf Zypern, Rauf Denktas, der den Status quo beibehalten wollte, aus. Während die Mehrheit der türkisch sprechenden Zyprioten ihre Unterstützung für die Wiedervereinigung der geteilten Insel unter der Hoheit der UNO begrüßten, lehnten die griechischen Zyprioten ab. Plötzlich war der Spieß umgedreht. Der bislang gültige Grundsatz, dass die Türkei verantwortlich für die Blockierung einer Lösung sei, der sich auf dem internationalen Parkett etabliert hatte, galt nicht mehr. Auch wenn die Wiedervereinigung nicht stattgefunden hat, was als Niederlage interpretierbar ist, so gewann Erdogan auf der anderen Seite eine Runde gegen die türkische Armee, indem er bewies, dass für seine Reformen Konsens besteht.

Auf dem Gebiet der kurdischen Rechte sind die Veränderungen am wenigsten zu sehen. Schon vor zwei Jahren wurden private Sprachkurse und private Fernsehstationen gestattet. Nichtsdestotrotz bleibt die kurdische Sprache in der Öffentlichkeit eine Sprache non grata. Eine Kampagne von Studenten für kurdische Sprachkurse auf der Universität endete mit dem Ausschluß dieser Studenten von der Hochschule. Mehrere repressive Gesetze bleiben in Kraft. In jüngster Zeit wurde es Eltern offiziell verboten die Buchstaben q,w und x in Namen ihrer Kinder zu verwenden – da diese Buchstaben im türkischen Alphabet nicht existieren und daher kurdische Herkunft anzeigen. Man kann vermuten, dass die Reformkräfte sehr nachlässig sein werden, was die von der EU verordnete Entspannung angeht, da der chauvinistische antikurdische Konsens noch immer sehr stark ist.

Ein anderes Minenfeld ist der Konflikt über den Laizismus. Historisch betrachtet sich die Armee als der Garant des säkularen Systems, das von Atatürk errichet worden wurde. Während der Bildung der Republik diente er zu Zerschlagung der alten herrschenden Klasse, die mit dem osmanischen Sultanat verbunden war, heute mit der immer mehr wachsenden Welle an islamischen Gefühlen innerhalb der Bevölkerung wird er mehr und mehr ein Instrument des Ausschlusses der Volksmassen und dient dazu die Militäroligarchie an der Macht zu halten. Die Tatsache, dass Studentinnen, die das Kopftuch tragen, der Zugang zum Hochschulstudium verwehrt ist, ist nur die Spitze des Eisberges.

Die AKP weiß sehr gut, dass sie die Lockerung der restriktiven antidemokratischen Gesetze nicht beschleunigen kann, ohne eine Reaktion der Armee zu riskieren. Erst vor kurzem wurde ein Gesetz verabschiedet, das den Studenten der islamischen imam-hatip Schulen das Fortführen ihrer Bildung an öffentlichen Universitäten gestattet. Obwohl die säkulären Kräfte protestierten konnten sie das Gesetz nicht verhindern. Weitere vorsichtige Schritte sind zu erwarten.

Bezüglich der Frage der politischen Gefangen, so entließ die AKP mehrere Tausend von einstmals an die 15.000. Auch wenn der Widerstand der revolutionären politischen Gefangenen weitergeht, gewann die Regierung etwas öffentlichen Respekt indem sie das Problem zumindest berührt hat. Nichtsdestotrotz ist es ebenso klar, dass notwendige entscheidende Schritte noch gesetzt werden müssen. Das Fortbestehen des repressiven Charakters des Staatsapparats und der Gerichtsbarkeit wird breit angeklagt – aber die AKP hat einen politischen Vorsprung gewonnen, von dem sie einige Zeit zehren kann.

Auch darf man nicht den außergewöhnlichen Effekt der Parlamentsabstimmung vergessen, welche den USA es untersagte ihren Angriff auf den Irak von der türkischen Grenze aus zu führen. Dadurch hat die AKP vermutlich die größte Reputation gewonnen. Die jüngste Kritik am zionistischen Massaker gegen die Palästinenser hat denselben propagandistischen Wert.

Die Herausforderung der revolutionären Linken

Auch wenn Teile der im Sytem integrierten Linken die AKP wegen des Säkularismus ablehen, sind sich alle einig in der Forderung nach demokratischem Druck von seiten der EU. Genau wie Abdullah Öcalan all seine Hoffnung fünf Jahre zuvor in die EU gesetzt hat.

Es gibt nur wenige revolutionäre Gruppen, welche einen Beitritt zur EU ablehnen, von denen die stärkste die „Revolutionäre Volksbefreiungsfront“ (DHKC) ist. Korrekterweise argumentieren sie, dass die Intentionen der EU nichts mit einem wirklich demokratischen System und der Verteidigung der sozialen Interessen der Volksmassen zu tun hat. Die europäischen Imperialisten streben nach einem stabileren Regime damit die Ausbeutung der Volksmassen einerseits gesichert ist und andererseit die Funktion der Türkei als Brückenkopf der imperialistischen Interessen im Nahen Osten gestärkt wird. Demokratisierung und soziale Gerechtigkeit können nur durch die Volksmassen selbst erreicht werden, indem sie gegen das kapitalistische türkische Regime jeglicher Schattierung und gegen den Imperialismus kämpfen.

Weiters halten sie die AKP für eine Fortsetzung der alten Parteien der Militäroligarchie. In vielerlei Hinsicht ist das wahr. Die AKP führt die ultra-liberalistischen Rezepte die von den USA und globalen Institutionen wie dem IWF und der Weltbank verordnet wurden, fort. Trotz ihrer islamischen Rhetorik führen sie die Allianzen mit Israel und den USA weiter und stärken sie auch noch. Und sie fahren fort in der Repression der revolutionären Bewegungen. Das ist der Grund warum die militärische Oligarchie sie im Amt akzeptierte.

In ihrem legitimen und notwendigen Kampf diese Gemeinsamkeiten herauszuheben und gegen die Illusionen in die islamische Regierung breiter Volksschichten anzukämpfen tendieren die revolutionären Kräfte dazu, die neuen Elemente und Veränderungen die durch die AKP hervorgebracht wurden zu minimieren oder zu bestreiten.

Das zeigt sich deutlich bei der Verwendung des Begriffs „faschistisch“ für das derzeitige Regime. Die Verwendung dieses Terminus kommt vom Militärputsch durch General Evren 1980. Um den extrem diktatorischen und reaktionären Charakter anzuklagen vor den Massen auf eine plakative Art, war dessen Verwendung – abgesehen von der sicheren Vereinfachung – in Ordnung. Bezogen auf die späten 80er und 90er, als die Junta sich schrittweise von der vordersten Front zurückzog und die Regierung Zivilkräften übergab, damit eine demokratische Fassade errichtet werden konnte, wurde der Terminus „faschistisch“ benutzt um die Täuschung zu denunzieren. Hinter den Kulissen behielten die Generäle die Macht in ihren Händen, was in den Vorrechten des allmächtigen Nationalen Sicherheitsrates festgeschrieben war. Dennoch wurde der Begriff schon damals indifferent und schwammig, weil die Veränderungen des Regimes nicht gefasst werden konnten. Ein Element, das von den türkischen revolutionären Organisationen kaum erwähnt wurde, jedoch bis zu einem gewissen Grad den Begriff wiederum rechtfertigt, war die chauvinistische antikurdische Massenbasis, welcher sich die Militäroligarchie und ihre politischen Marionetten bedienen konnten.

Mit dem Ende der PKK einerseits und dem US-amerikanischen „Krieg gegen den Terror“ andererseits stellte sich das etablierte politische System als ein Auslaufmodell dar und führte zu einer unerwarteten Isolierung der Militäroligarchie. In dieser Situation betrat die AKP die Bühne um die der Oligarchie verlorengegangene politische Hegemonie in neuer Form wiederzuerrichten. Aber dies erforderte eine entscheidende Wende, einen glaubwürdigen Bruch mit der Vergangenheit. Das ist genau das Programm, das von der EU entworfen wurde, in dem in der Substanz eine vorgegaukelte Demokratisierung enthalten ist, was wir als Normalisierung zu beschreiben versuchten.

Seine Aufgabe ist es das implizite antiimperialistische Potential der islamischen Bewegung zu erpressen und zu zähmen indem es in das System integriert oder komplett isoliert wird, und gleichzeitig die revolutionäre Bewegung zu zerschlagen.

Historisch leidet die linke Bewegung darunter, dass sie stark auf die Alewiten konzentriert und beschränkt war. Während die wirklichen Zahlen der demographischen Stärke der Alewiten wegen politischer Interessen im Dunklen sind, kann man davon ausgehen ohne zu übertreiben, dass diese häretische islamische Gemeinschaft etwa 10% der Bevölkerung ausmacht, was in absoluten Zahlen rund 7 Millionen machen würde. Sie stellen eine solide Basis der revolutionären Kräfte dar, aus der sie sich immer wieder erneuern können.
Andererseits beeinflusst der alewitische Hintergrund stark den kulturellen und politischen Charakter der Bewegung wodurch ein gefährlicher Abstand zu der sunnistischen Mehrheitsbevölkerung entsteht.

Mit der Erstarkung des Islam wird dieses Problem entscheidend. Während die Alewiten großteils säkulär und links bleiben (mit dem minoritären Phänomen des alewitischen Kommunalismus), zeigen die sunnistischen Proteste gegen die Oligarchie islamische Formen, die mit den Alewiten unvereinbar sind. Dieses Problem birgt das Potential die revolutionäre Linke gefährlich von der sunnitischen Volksmassen zu isolieren, wenn keine Gegenmaßnahmen getroffen werden.

Ein Beispiel ist das Problem des andauernden Kampfes der revolutionären politischen Gefangenen. Während bestimmter Perioden hatten die demokratischen Forderungen der Gefangenen breite Unterstützung. Das Todesfasten der DHKC, was bereits zu mehr als Hundert Märtyrern führte, zeigt eine sehr unterschiedlich Aufnahme speziell in der alewitischen und sunnistischen Gemeinde. Das soll nicht bedeuten, dass dieser Kampf religiös motiviert ist oder religiöse Ziele hat. Es ist ein politischer Kampf, was auch daran zu sehen ist, dass etwa die Hälfte der Märtyrer einen sunnistischen Hintergrund hatten. Nichtsdestotrotz ist das Märtyrertum eine Konzeption die aus der schiitischen Tradition kommt, von der die Alewiten entfernt abstammen. Das Märtyrertum legt Zeugnis für den Glauben ab. Unter den Osmanen bekam diese Tradition mehrere Male einen revolutionären Charakter und führte zu Aufständen gegen den Sultan. Heutiges Märytertum kann von den Alewiten als Zeugnis für die revolutionäre Sache verstanden werden. Während für die sunnitische Gemeinschaft dies fremd ist, noch mehr da sie die revolutionären Ziele nicht teilen.

Ein anderes Beispiel ist das Aufkommen der Selbstmordattentate in Palästina und innerhalb des sunnitischen Islamismus, ein eigentlich junges Phänomen. Es wurde von den Schiiten übernommen als ein Mittel im assymetrischen Krieg, der vom Imperialismus geführt wird. Dies ist breit akzeptiert in der arabischen und islamischen Welt. In der Türkei erscheint es umgekehrt. Das Märtyertum kann zurückverfolgt werden innerhalb der alewitischen Gemeinde, aber durch den Rückgang der revolutionären Bewegung und die Befriedung wird es nicht breit in den Volksmassen aufgenommen.

Auf einer allgemeineren Ebene drückt sich diese Tendenz auch in der politischen Konzeption hinter dem fortgeführten bewaffneten Kampf aus. Augrund des halbkolonialen Charakters der Türkei wird eine ständige revolutionäre Situation angenommen. Deshalb ist der bewaffnete Kampf eine permanente Notwendigkeit unabhängig von den konkreten politischen Umständen und der Dynamik des Kräfteverhältnisses – ein großer und tragischer theoretischer und politischer Fehler. (Diese Konzeptionen sind zwischen den Organisationen offensichtlich unterschiedlich. Daher sind dieser Überlegungen zunächst sehr schematisch.) Zweifellos kann auch hier eine Art des politischen „Zeugnisablegens“ gefunden werden, was politischer Taktik entkommt, die vorsichtig an die konkrete politische Situation angepasst werden muss.

Der bewaffnete Kampf – reduziert auf propagandistische Aktionen – scheint unangebracht zu sein für die heutige Türkei, mit Ausnahme vielleicht von Kurdistan. Die fokistische Konzeption nach der der bewaffnete Kampf die Avantgarde sei, die notwendig sei um die Massen zu erwecken und zu Aktion zu bewegen, ist falsch. Die breiten Volksmassen betreten die Arena des Kampfes nicht nach Aufforderung der Revolutionäre, sondern als Resultat sozialer und politischer Faktoren. Die Revolutionäre können und müssen die Krise des Systems antizipieren, aber sie können sie nicht auf voluntaristische Art und Weise herbeiführen. Die Massenbewegung erlitt eine historische Niederlage und die Situation wurde befriedet. Die Oligarchie ließ sich auf das Projekt ein, Unwillen im Volk durch die AKP zu integrieren, was ein „weicherer“ Ansatz ist im Vergleich zum letzten Vierteljahrhundert. Unterschiedlich zu der Periode des revolutionären Aufschwungs während der 70er sowie auch während der Periode der Selbstverteidigung gegen die Diktatur, ist der Hebel zu den Massen, die Kluft zwischen ihren Forderungen, von denen sie hoffen, dass sie durch die islamischen Kräfte impelementiert werden und dem Unwillen und der Unfähigkeit der letzteren dies zu tun, weil sie einen bürgerlich kapitalistischen Charakter haben, zu öffen. Ihre falschen Versprechungen können entlarvt werden. Währenddessen geht der bewaffnete Kampf davon aus, dass ein bedeutender Teil der Volksmassen ihn unterstützen würde und ihn als einzige Möglichkeit sehen, ihre Interessen zu verteidigen, was offensichtlich nicht der Fall ist.

Es ist absolut unumgänglich die konkrete Situation zu analysieren, nicht nur um den widersprüchlichen Charakter des Widerauflebens der islamischen Bewegung und die Spaltung der Bourgeoisie zwischen den pro-EU und pro-US Kräften zu fassen, sondern auch um die politischen Konsequenzen daraus zu ziehen. Die revolutionäre Linke muß um jeden Preis verhindern in die Falle zu tappen, in dem sie diese Widersprüche negiert und dieses Phänomen liquidiert in dem sie einfach die AKP-Regierung als faschistisch bezeichnet und weiterhin auf frontalem Angriffskurs fährt. Einerseits ist es wahr, dass sie ein neues, noch nicht verbrauchtes Gesicht der Militäroligarchie ist. Andererseits ist es ebenso wahr, dass ein Aspekt innerhalb der islamischen Bestrebungen es ist, politischen und sozialen Protest gegen die kapitalistische und proimperialistische Oligarchie auszudrücken. Die Hoffnungen der Massen richten sich auf die AKP, die völlig unfähig ist, diese zu erfüllen. Das ist der Hebel an dem die revolutionären Kräfte ansetzen müssen.

Die Revolutionäre können die gegenwärtige politische Krise benützen und die demokratischen Bestrebungen gegen das Regime, welches sich selbst durch die Ausbeutung eben derselben Bestrebungen erneuern will, wenden. Abgesehen vom Insistieren auf soziale Gerechtigkeit gegen die ultraliberalistischen Pläne können die Revolutionäre Zuspruch gewinnen indem sie a)die Kooperation zwischen dem Regime, Israel und den USA hervorheben, was im Gegensatz zu der islamischen Rhetorik steht b)das kurdische Selbstbestimmungsrecht fordern, was nach wie vor eine brennende Frage ist c) die Implementation der versprochenen demokratischen Reformen fordern, was auch das Recht der revolutionären Kräfte auf Meinungs-, und Organisationsfreiheit, aber auch der kurdischen nationalistischen Kräfte und der noch immer unterdrückten islamischen Strömungen umfassen muss.

Willi Langthaler
Wien, Juni 2004

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