Interview mit Abna el Balad
Das Interview wurde am Antiimperialistischen Sommerlager 2004 in Assisi für die Zeitschrift Intifada geführt.
Yoav Bar ist Aktivist bei Abna el Balad, einer linken palästinensischen Bewegung, die innerhalb der Grünen Linie, also in den Gebieten, die 1948 von Israel besetzten und heute als israelisches Staatsterritorium betrachteten Gebiete, aktiv ist. Sie steht für die Abschaffung aller Formen des Rassismus, für das Recht auf Rückkehr für alle palästinensischen Flüchtlinge und die Errichtung eines säkularen, demokratischen Palästinas.
Intifada: Abna el Balad ist wiederholt Opfer von Repression von Seiten des israelischen Staates. Wie ist die Situation Ihrer Organisation zur Zeit?
Yoav Bar: Abna el Balad ist, wie Sie wahrscheinlich wissen, aktiv innerhalb der sogenannten Grünen Linie, der 1948 besetzten Gebiete des historischen Palästina. Es gibt rund eine Million Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft, die vom israelischen Staat vollkommen marginalisiert sind. Alle Bereiche ihres Lebens sind von dieser systematischen Diskriminierung betroffen. Diese Palästinenser werden auch von den Palästinensern außerhalb Israels abgeschnitten sowie vom Rest der arabischen Nation. Diese Marginalisierung erfolgt nicht über den Versuch einer Integration oder Assimilation in den israelischen Staat, sondern schlicht und einfach durch eine vollkommene Isolierung. Die israelischen Palästinenser haben keinerlei Möglichkeit ihr eigenes Leben zu gestalten und sie haben keinerlei Einfluss auf die Gesellschaft, in der sie leben. Abna el Balad ist seit 45 Jahren aktiv um diese Menschen zu organisieren, einerseits um sie in ihrem täglichen Überlebenskampf zu unterstützen, andererseits um ihren Kampf um nationale Rechte und ihre nationale Identität zu organisieren.
Natürlich hat unsere Bewegung viele unterschiedliche Aspekte. Wir arbeiten beispielsweise in lokalen Organisationen, Schüler- und Studentengruppen, machen kulturelle und politische Aktivitäten sowie Aktivitäten rund um die nationale Identität. Wir sind natürlich auch Teil der Bewegung der palästinensischen Massen. Beim Ausbruch der Intifada beteiligten sich auch die Palästinenser innerhalb der Grünen Linie in gewisser Weise an diesem Aufstand, manchmal in Form von Demonstrationen und Zusammenstößen mit der Polizei, manchmal auch in Form von materiellen Unterstützungen, z.B. Lebensmittelsammlungen für die Menschen in den Zonen, wo Ausgangssperren herrschten. Die Form der Beteiligung hängt von den jeweiligen Bedingungen ab. Abna el Balad ist eine der Kräfte, die diese Aktivitäten organisieren und Initiativen setzen.
Wenn die Bewegung eine Aufschwung erfährt, so wird auch sofort die Repression schärfer. Im letzten Jahr hat die Repression sehr stark zugenommen. In der Westbank werden jeden Tag Dutzende von Menschen verhaftet und einige getötet. Innerhalb der Grünen Linie ist das Niveau der Widerstandsbewegung und der politischen Aktivität natürlich niedriger. Man hört vielleicht einmal die Woche von Verhaftungen und Erschießungen in den Straßen kommen ungefähr einmal im Monat vor. Es gibt oft Konfrontationen mit der Polizei, wenn beispielsweise Häuser oder Felder von Palästinensern zerstört werden.
Die jüngsten Zielsetzungen der israelischen Politik betreffen die Abtrennung der Massenbewegung von ihren Führungen. Innerhalb der Grünen Linie gibt es vier politische Organisationen, welche die palästinensische Bevölkerung vertreten, das ist die Islamische Bewegung, die Kommunistische Partei, die Nationale Demokratische Allianz und Abna el Balad. Die Führung der beiden radikaleren Organisationen, der Islamischen Bewegung und von Abna el Balad, befinden sich derzeit im Gefängnis. Das ist Teil der Politik der israelischen Regierung um zu verhindern, dass sich die Menschen radikalisieren oder auch dass sie die Bevölkerung im Westjordanland und im Gazastreifen unterstützen.
Die Führung der Islamischen Bewegung befindet sich in Haft, weil ihr vorgeworfen wird, die Opfer der Intifada materiell unterstützt zu haben. Die Bewegung hatte beispielsweise elftausend Waisen im Westjordanland adoptiert, die meisten von ihnen waren durch die gewaltsame Besatzung der israelischen Armee zu Waisen geworden. Die Kinder erhielten monatliche Zahlungen um überleben zu können. Dadurch, so der Vorwurf der israelischen Regierung, würde die Bevölkerung im Westjordanland ermutigt, Widerstand gegen die Besatzung zu leisten. Die Unterstützung von Waisenkindern ist also jetzt ein Verbrechen in Israel. Fünf Führungsmitglieder der Islamischen Bewegung befinden sich schon seit 15 Monaten in Haft.
Was Abna el Balad betrifft, so sitzt der Generalsekretär Mohammed Kana´ane, Abu Assad, nun schon seit mehr als einem halben Jahr im Gefängnis. Er wird auf Grundlage eines speziellen israelischen Gesetztes festgehalten, das den Kontakt zu sogenannten ausländischen Agenten untersagt und mit 15 Jahren Haft bestraft. Als ausländische Agenten werden alle Menschen bezeichnet, die einem Land dienen, das als feindlich eingestuft wird. Der Punkt ist, dass alle palästinensischen Organisationen als feindliche Organisationen eingestuft werden. Das sind die linke PFLP, die Hamas, Jihad und alle anderen, aber das gilt auch für die Fatah, die ja mit der israelischen Regierung zusammenarbeitet. Die Treffen, deren Abu Assad angeklagt ist, waren keine geheimen Treffen, sondern öffentliche, als Teil seiner öffentlichen politischen Aktivität. Es waren Treffen mit George Habash, Ahmed Saadat (1) und anderen, die meist auch öffentlich über Presseerklärungen angekündigt worden waren. Eine gewisse Zeit lang haben die israelischen Behörden nichts gemacht, doch dann haben sie Abu Assad auf Grundlage dieses Gesetztes verhaftet. Zur Zeit ist der Prozess im Laufen und es besteht die Gefahr, dass er einige Jahre im Gefängnis bleiben wird.
Das ist ein Beispiel für die politische Repression, mit der wir konfrontiert sind. Ein anderes Beispiel sind unsere Sommerlager, die wir jedes Jahr für Kinder und Jugendliche abhalten. Das ist in erster Linie eine soziale und rekreative Aktivität. Im israelischen Schulsystem lernen die Kinder nichts über palästinensische Geschichte, über die Dörfer, die zerstört wurden oder über arabische Poesie. Sie lernen auch nicht sich selbst zu respektieren. Um hier abzuhelfen organisieren wir jedes Jahr Sommerlager für Hunderte von Kindern. Letztes Jahr wurde unser Lager von der Polizei angegriffen und aufgelöst, einige unserer Aktivisten, darunter auch ich, verhaftet. Es ging nicht um politische Aktivitäten oder Demonstrationen, sondern einfach darum ein Kinderlager organisiert zu haben. Sie hielten uns fünf Tage gefangen und bis heute gehen die Untersuchungen bezüglich dieses Lagers weiter. Gerade vergangene Woche war ich wieder zu einer Einvernahme deswegen bei der Polizei.
Das ist nur ein kleines Beispiel. Auch nach Demonstrationen gibt es oft Verhaftungen oder die Menschen werden bedroht und eingeschüchtert, sie könnten ihre Arbeit verlieren, wenn sie weiterhin aktiv wären. Es ist einfach Alltagsleben unter feindlicher Herrschaft.
Intifada: Die israelische Regierung erlässt immer wieder neue Gesetze und Verordnungen, die speziell die arabische Bevölkerung Israels diskriminieren. Können sie diese systematische Diskriminierung erläutern? Ein wichtiger Punkt sind hier auch jene Palästinenser, die vertrieben wurden und als Flüchtlinge innerhalb Israels leben. Sie gelten als Absentees, also Abwesende. Sind sie in irgendeiner Weise organisiert?
Y.B.: Die palästinensischen Flüchtlinge innerhalb der Grünen Linie werden meist vergessen, wenn es um die palästinensische Frage geht. Das dient natürlich israelischen Interessen und den Interessen all jener, beispielsweise auch der Europäer, die behaupten, dass Israel im Grunde ein demokratischer Staat sei, der nur ein „Grenzproblem“ oder ein „externes“ Problem im Westjordanland und Gazastreifen hätte. Doch die Wahrheit ist, dass Israel ein rassistischer Staat ist, und zwar im Inneren wie im Äußeren. Das beginnt mit der Erklärung anlässlich der Staatsgründung Israels – es gibt keine Verfassung – die Israel als einen jüdischen Staat definiert. Der Rassismus ist ein zentraler Aspekt in allen Aktivitäten des israelischen Staates. Auf die arabische Bevölkerung, die wohlgemerkt schon vor der Gründung Israels dort gelebt hat, wird immer als ein Feind Israels Bezug genommen, den es gilt zu unterdrücken und letztendlich zu vertreiben. Es gibt so viele Aspekte dieser Diskriminierung, dass ich versuchen werde das Gesamtbild durch einige Beispiele zu erklären.
Beginnen wir mit der Gesetzgebung zu den Abentees, Gesetzte, die es seit der Staatsgründung Israels gibt. Sie besagen, dass Menschen, die an einem bestimmten Tag des Jahres 1948 nicht an ihrem Wohnsitz angetroffen wurden, zu Absentees, Abwesenden, erklärt werden und dass ihre Besitztümer dem israelischen Staat zufallen. Wenn also Menschen aufgrund des damals herrschenden Krieges, aber auch aus persönlichen Gründen, zu Studienzwecken etwa, oder weil sie jemanden besuchten, an diesem Tag nicht zu Hause waren, wurde ihr Besitz vom israelischen Staat beschlagnahmt. Von diesem Gesetz sind heute ein Viertel der palästinensischen Bevölkerung mit israelischer Staatsbürgerschaft betroffen, die existent und präsent sind, aber nicht für das Gesetz. Ich persönlich kenne Personen, die seit 1948 an den israelischen Staat monatlich Miete zahlen um in ihren eigenen Häusern wohnen zu dürfen. Die Moschee in dem Viertel, in dem ich wohne, würde laut Gesetz der Person gehören, die sie bauen ließ. Doch da diese Person den Status eines Absentees hat, gehört die Moschee dem israelischen Staat, der damit machen kann, was er will.
Die Absentees beginnen sich immer stärker zu organisieren. Es bildeten sich zum Beispiel Komitees aus Menschen, die aus dem gleichen Dorf stammen und zwar nicht in dieses Dorf zurück können, aber sich zusammentun um den Friedhof, die Kirche oder die Moschee des Dorfes zu säubern und wieder in Stand zu setzen. Oft werden diese Kirchen oder Moscheen vom Staat wieder zerstört oder zu militärischen Zonen erklärt, um zu verhindern, dass die Menschen sie renovieren. Der Papst wurde während seines Aufenthaltes in Israel in eine dieser wiederaufgebauten Kirchen eingeladen, doch er kam nicht, um seine offiziellen Beziehungen zu Israel nicht zu belasten. Diese Aktivität ist für die Menschen sehr wichtig, sie bedeutet auch eine Verteidigung der eigenen Rechte, eine Pflege der eigenen Wurzeln. Die einzelnen Komitees haben sich inzwischen in einem Nationalen Komitees Interner Flüchtlinge zusammengeschlossen. Seit zehn Jahren organisieren sie jedes Jahr, am Tag der Staatsgründung Israels, dem palästinensischen Tag der Naqba (Katastrophe), eine Versammlung für das Rückkehrrecht. Dieses Jahr haben sie eine große nationale Konferenz für das Rückkehrrecht in Haifa veranstaltet. Wenn Israel also hofft, dass das Rückkehrrecht in Vergessenheit geraten wird, so ist das Gegenteil der Fall. Die Menschen haben an Bewusstsein dazu gewonnen und sie fordern mehr als früher die Anerkennung des Rückkehrrechts.
Ein weiteres Problem sind die Dörfer, die vom israelischen Staat nicht anerkannt werden. Die Behörden haben einen Bebauungsplan für das ganze Land und manche Zonen wurden zu reinem Agrarland erklärt, auch wenn dort Dörfer sind, die schon vor der Staatsgründung Israels existierten. Diese Dörfer sind vom Staat nicht anerkannt und daher haben sie kein Anrecht auf Wasser- und Stromversorgung, auf Schulen und Krankenhäuser oder ein Straßennetz. Manche dieser Dörfer werden zerstört, doch die meisten existieren weiterhin in diesem nichtanerkannten Status. Wenn aber irgendwelche jüdische Israelis an so einer Stelle eine Siedlung errichten wollen, dann ist es natürlich kein Problem den nationalen Bebauungsplan zu ändern. Und es werden Straßen gebaut und Schulen und Schwimmbäder, Strom und Wasser werden eingeleitet, aber für arabische Dörfer gibt es eine solche Umwidmung des Planes nie. Das ist auch eine Form der langsamen systematischen Vertreibung, um die Araber aus Israel fortzubekommen. Es ist im Grund nichts anderes als ethnische Säuberung.
Die Benachteiligung zieht sich durch alle Bereiche des Lebens, was zum Beispiel Finanzierungen betrifft, im Arbeitsleben usw. In der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft sind etwa nur sechs von mehreren Tausend Angestellten arabischer Herkunft, doch als im Jahr 2000 die zweite Intifada ausbrach, weigerte sich die Elektrizitätsgesellschaft Reparaturarbeiten in den arabischen Wohngebieten durchzuführen. Alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen sind Teil dieses Apartheidsystems. Ein weiteres Beispiel sind die Universitäten. Laut Gesetz muss zur Errichtung einer Universität das Unterrichtsministerium seine Zustimmung erteilen. Als eine arabische Universität gegründet werden sollte, damit die arabische Bevölkerung Universitätsstudien in ihrer Sprache absolvieren kann, wurde ein Gesetz erlassen, das besagte, dass es in Israel genügend Universitäten gäbe und keine weiteren errichtet werden dürften. Wenn allerdings in einer Stadt eine hebräischsprachige Universität gegründet werden soll, so wird sie einfach zur Zweigstelle einer bereits existierenden Universität erklärt, um dieses Gesetz zu umgehen.
Ähnlich ist es mit der Gesundheitsversorgung. Bis heute wurde nicht ein einziges Krankenhaus von der israelischen Regierung in arabischen Wohngebieten errichtet. Das ist einfach Apartheid, wobei ich glaube, dass es in Südafrika durchaus Krankenhäuser für die schwarze Bevölkerung gab. In Israel nicht.
Diese Beispiele zeigen, dass in Israel alles darauf ausgerichtet ist, Israel gemäß seiner Selbstdefinition als jüdischen Staat zu konsolidieren. Seit einem Jahr gibt es nun auch ein Gesetz, das die Familienzusammenführung verhindern soll. Dieses Gesetz besagt, dass es keine Familienzusammenführungen zwischen Personen, die im Westjordanland oder Gazastreifen leben, und solchen, die in Israel leben, geben darf. Das betrifft nicht nur Palästinenser. Wenn beispielsweise ein jüdisches Mädchen aus Jerusalem einen Palästinenser aus Ramallah heiratet, darf er nicht in Jerusalem und sie nicht in Ramallah leben. Es gibt auch viele Fälle von Ehepaaren, die seit Jahrzehnten zusammenleben und nun aufgrund dieses Gesetzes getrennt werden.
Intifada: Nach vier Jahren Intifada scheint sich die Situation für die Palästinenser eher zu verschlechtern als zu verbessern. Wie schätzen Sie die Möglichkeiten ein, dass die palästinensische Bewegung zumindest die derzeitige Eskalation stoppen und längerfristig ihr Ziel der nationalen Selbstbestimmung erreichen kann?
Y.B.: Zunächst muss man feststellen, dass es kein Kräftegleichgewicht zwischen den Palästinensern und den Besatzern gibt. D.h. es handelt sich nicht um eine Situation, in der man frei entscheiden kann, was man tut. Das Westjordanland wurde wieder vollständig besetzt und mit dem Gazastreifen machen die Besatzer sowieso was sie wollen, sie zerstückeln ihn, bombardieren, wie und wo es ihnen einfällt. Was die Palästinenser vor allen Dingen tun können, ist zu beweisen, dass es Widerstand geben wird, so lange es die Besatzung gibt. Und das ist es, was sie tun. Sie können der Besatzung keine Niederlage beibringen, aber sie können die Normalisierung der Besatzung verhindern. Wenn die israelische Regierung heute von der Möglichkeit eines Rückzugs aus dem Gazastreifen spricht, so ist das ein Ergebnis der Intifada, denn zuvor war davon keine Rede. Auch während der Periode der Oslo-Abkommen sprachen die Israelis davon, doch es geschah nichts. Daher kann man sagen, dass der Intifada etwas gelungen ist, und zwar unter den schlechtesten Bedingungen, was Oslo nicht gelungen ist.
Man kann also nicht sagen, dass die Intifada nichts erreicht hätte, im Gegenteil, die Intifada hat viele Dinge erreicht. Beispielsweise hat sie das Wachstum der israelischen gestoppt, sie hat die jüdische Immigration nach Israel weitgehend gestoppt. Heute gibt es mehr Auswanderung aus Israel als umgekehrt. Die Intifada hat auch dem israelischen politischen und sozialen Establishment eine schwere Krise zugefügt, weil sie deutlich gemacht hat, dass es keine Normalisierung der Besatzung geben wird. Zu Zeiten der Oslo-Abkommen dachten die Palästinenser fälschlicherweise, dass es Frieden geben würde, doch die Israelis dachten, dass sie die Besatzung und ihr schönes Leben weiterführen könnten. Und sie haben damit bis zum Ausbruch der zweiten Intifada Recht behalten. Sie setzten den Ausbau der Siedlungen und die Ausbeutung der palästinensischen Arbeitskraft fort, die Wirtschaft blühte, die Immigration nach Israel auch und sie bekamen dafür auch noch internationale und arabische Anerkennung. Doch seit Beginn der Intifada befindet sich Israel in einer vielschichtigen Krise und die Regierung ist gezwungen die politische Situation in die eine oder in die andere Richtung zu bewegen. Sie versucht natürlich das so langsam wie möglich zu tun und den Palästinensern so wenig Konzessionen wie möglich zu machen, doch selbst die rechteste israelische Regierung ist dazu gezwungen mehr Zugeständnisse zu machen als die linken Regierungen in sogenannten Friedenszeiten. Das beweist die Kraft der Intifada.
Die Strategie, welche die israelische Regierung verfolgt, ist die palästinensische Bewegung in einen Bürgerkrieg zu treiben. Das war auch die Logik der Oslo-Abkommen. Und ein Ergebnis dieser Strategie sind die jüngsten innerpalästinensischen Machtkämpfe in Gaza, die vom israelischen Establishment begeistert aufgenommen und als erstes positives Ergebnis des einseitigen Rückzuges aus Gaza gewertet werden. Die Menschen im Gazastreifen sagen, dass es bei den jüngsten Konflikten nicht darum geht, tatsächlich die Korruption zu bekämpfen, sondern dass damit israelischen Interessen gedient werden soll. Der große Traum der Israelis ist, dass sich die Palästinenser gegenseitig umbringen und sie sich nicht mehr die Hände mit der militärischen Besatzung schmutzig machen müssen. Doch ich bin überzeugt, dass die Palästinenser beweisen werden, wie sie das schon viele Male zuvor getan haben, dass sie nicht in diese Falle tappen, sondern einen Bürgerkrieg verhindern werden. Es gilt die Einheit der palästinensischen Bewegung gegen die Besatzung zu bewahren, auch wenn es Uneinigkeit in vielen Fragen geben sollte. Das bedeutet, dass es zur Zeit keine Möglichkeit für einen revolutionären Sieg im Gazastreifen oder im Westjordanland gibt, aber es ist möglich und nötig, die nationale Einheit zu bewahren, Basisorganisationen und den Widerstand zu stärken.
Intifada: Von Europa aus betrachtet, erscheint der palästinensische Widerstandskampf immer stärker als ein rein militärischer Kampf. Wie ist das Verhältnis zwischen der politischen und der militärischen Ebene?
Y.B.: Ich glaube, dass es in Europa falsche Vorstellungen von den tatsächlichen Bedingungen in Palästina gibt. Zunächst gab es in den ersten Monaten der zweiten Intifada kaum tatsächliche militärische Kämpfe, sondern hauptsächlich Massendemonstrationen. Als es zu den ersten gewaltsamen Ausschreitungen an Checkpoints kam, verwandelten diese sich in Massaker, weil die israelische Armee keinerlei moralische Bedenken hat, in palästinensische Demonstrationen hineinzuschießen und Menschen zu töten. Die Situation ist nicht wie in Argentinien oder Bolivien, wo es bei Ausschreitungen zu einigen Todesopfern kommt und die Regierung stürzt. Die israelische Regierung genießt Unterstützung in der ganzen Welt und noch so viele palästinensische Todesopfer beeinflussen die öffentliche Meinung kaum. Es mag natürlich von außen romantischer erscheinen Massendemonstrationen von Unbewaffneten zu organisieren, doch nach etlichen Massakern erweist sich das als eine höchst unverantwortliche Methode. Das Ergebnis dieser Massaker ist, dass sich der palästinensische Widerstand dazu entschloss hat gezielter vorzugehen um auch den Besatzern Schaden zuzufügen. Vor einem Jahr ungefähr erklärte die palästinensische Seite eine einseitige Waffenruhe, doch die israelische Armee tötete weiterhin täglich palästinensische Menschen. Daraufhin haben auch die palästinensischen Organisationen den Waffenstillstand aufgekündigt, nachdem sie einige Monaten vergeblich versucht hatten, die Bedingungen für andere Formen des Widerstandes zu verbessern.
Es gibt auch jetzt eine Menge unbewaffneter Demonstrationen. Jeden Tag gehen ganze Dörfer, die vom Mauerbau von ihren Feldern abgeschnitten werden, um sich vor die Bulldozer zu stellen. Doch das stoppt die Bulldozer nicht. Die israelische Armee hat kein Problem damit, die friedlichen Demonstrationen brutal zu unterdrücken.
Intifada: Ihre eigenen persönlichen Erfahrungen sind sehr interessant. Wie kam es dazu, dass Sie als jüdischer Israeli sich der palästinensischen Befreiungsbewegung anschlossen?
Y.B.: Vielleicht kann ich es so ausdrücken: Nicht alle Menschen haben die Gabe Rassisten zu sein. Mir gelingt es einfach nicht. Zu meiner eigenen Identität möchte ich noch folgendes sagen. Ich kann mich nicht als Juden bezeichnen, da das Judentum eine Religion ist und ich nicht religiös bin. Ich kann mich aber auch nicht als Israeli bezeichnen, da Israel ein koloniales Projekt ist und ich Antikolonialist bin. Meine Familie wanderte aufgrund der antijüdischen Pogrome aus Russland aus und so wie ein Teil von ihnen nach Frankreich und Amerika ging um dort zu versuchen gute Franzosen und Amerikaner zu sein, so versuche ich, dessen Eltern nach Palästina gingen, ein guter Palästinenser zu sein.
Da Israel eine rassistische Gesellschaft ist, kann ich mich als Antirassist einfach nicht als ein Teil von ihr empfinden. So habe ich angefangen nach etwas anderem zu suchen und habe gesehen, dass sich die palästinensische Bevölkerung gegen diese Ungerechtigkeit wehrt und dass ich auf ihrer Seite stehe. Zunächst war ich bei verschiedenen linken Organisationen aktiv, schließlich habe ich mich Abna el Balad angeschlossen, der wichtigsten linken palästinensischen Organisation innerhalb der Grünen Linie. Für mich ist es so, dass ich immer mehr den Eindruck habe von Israel nach Palästina zu emigrieren. Ich lebe jetzt in einem palästinensischen Flüchtlingslager in Haifa, ein arabisches Viertel, dessen Bewohner aus ihren Häusern vertrieben wurden. Das sind Menschen mit einer langen kämpferischen Tradition Menschen, die ein hohes Maß an Solidarität untereinander leben. Ich nehme an ihrem Leben und an ihren Organisationsformen teil, so wie ich an Abna el Balad teilnehme, denn es gibt nur eine Lösung für den Konflikt in Palästina: einen gemeinsamen demokratischen Staat, in dem alle Menschen gleichberechtigt leben können. Das ist das Ziel von Abna el Balad.
Intifada: Wie reagiert die israelische Gesellschaft auf Ihre Entscheidung, Seite mit dem palästinensischen Befreiungskampf zu beziehen?
Y.B.: Natürlich wird meine Entscheidung von vielen jüdischen Israelis als Verrat betrachtet, dennoch habe ich üblicherweise Probleme mit der israelischen Polizei, nicht mit den Menschen. Ich wurde viele Male verhaftet und war ungefähr zehn Mal aufgrund meiner politischen Aktivität vor Gericht angeklagt, wurde aber immer frei gesprochen. Während eines Prozesses sagten acht Polizisten gegen mich wegen angeblicher Gewaltanwendung auf einer Demonstration aus. Ich hatte Glück, denn es existierte eine Videoaufzeichnung, die belegte, dass ich auf dieser Demonstration von der Polizei von hinten geschlagen worden war.
Intifada: Oft wird von den Massenmedien, insbesondere im deutschen Sprachraum, von einem „natürlichen“ arabischen Antisemitismus gesprochen. Ihre Erfahrungen scheinen eher das Gegenteil zu bestätigen.
Y.B.: Natürlich. Meine Kinder beispielsweise gehen auf eine arabische Schule. Ich kenne viele arabische Kinder in jüdischen Schulen und hier sind Benachteiligung und Diskriminierung an der Tagesordnung. Meine Kinder hatten nie derartige Probleme, im Gegenteil, in der Regel sind arabische Menschen meist sehr froh, wenn sie auf nicht-rassistische Israelis treffen, so dass meine Kinder sogar ein bisschen verwöhnt sind. Ich habe auch wiederholt das Westjordanland besucht und wurde dort von der palästinensischen Bevölkerung immer mit offenen Armen willkommen geheißen. Alle sind glücklich über nicht-rassistische Juden. Es gibt keinerlei Symmetrie zwischen anti-arabischem und anti-jüdischem Rassismus oder fehlender Akzeptanz der anderen Seite. Im Gegenteil, der Rassismus ist einseitig und gegen die Palästinenser gerichtet. Die Palästinenser hingegen streben nach einer neuen Definition der Beziehungen zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, die auf gegenseitigem Respekt, Freiheit und Würde basieren.
Intifada: Vielen Dank für das Gespräch.
(1) George Habash und Ahmed Saadat sind Führungsmitglieder der PFLP, Volksfront zur Befreiung Palästinas.