Buchbesprechung
„An der Grenze“ ist die Autobiographie Michael Warschawskis, der seit 35 Jahren für die Anerkennung der Rechte der Palästinenser und für Gerechtigkeit und Frieden im Nahen Osten kämpft. Sie ist vorrangig Zeugnis von Rebellion und Widerstandsgeist und eine Dokumentation der politischen Entwicklungen in Israel während der letzten Jahrzehnte aus der persönlichen Perspektive des Autors.
Die Grenze und Grenzen – sichtbare und unsichtbare – sind zentraler Aspekt des Lebens Warschawskis, des Grenzgängers. Eine entscheidende Grenze verläuft zwischen Israel und Palästina, an der er sich so positioniert: „Die israelisch-palästinensische Zusammenarbeit wird auf der Grenze, und nur auf der Grenze erbaut. Seit 1968 ist es meine Entscheidung, mich dort aufzuhalten; diesseits, in meiner eigenen Gesellschaft, aber auch so dicht wie möglich bei der anderen Gesellschaft. Wenn wir auch nur ein wenig dazu beigetragen haben, dass es Aussichten auf einen israelisch-palästinensischen Frieden gibt, dann aufgrund dieser Positionierung auf der Grenze, die uns die ersten Schritte zu Dialog und Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern ermöglicht hat. Ich lehne es ab, Grenzschützer zu sein, ich will auch weiterhin ein Grenzgänger sein und die Mauern des Hasses und die Barrieren der Segregation durchbrechen …“ (S. 25)
Als Staatsbürger Israels erfüllt Warschawski seine Wehrpflicht und zieht hier seine eigene Grenze. Für seine Weigerung, die Grenzen zum Libanon oder zu den besetzten Gebieten zu überschreiten, wurde er mehrmals mit dem Militärgefängnis bestraft. Für seine politische Arbeit in Israel gilt das Bemühen „grundsätzlich keine Aktionen durchzuführen, durch die wir das Gesetz gebrochen hätten. Wir wollten die Grenze nicht überschreiten, sondern uns am Rand des Gesetzes bewegen …“ (S. 69)
Seine Kindheit verbrachte Warschawski in Straßburg, an der Grenze. Sie war geprägt von religiöser Lebensführung, Antifaschismus, Ablehnung jeder Form von Rassismus sowie einer starken Identifikation mit den Schwachen und Unterdrückten.
Im Alter von sechzehn Jahren beschloss er, seine Talmudstudien in Jerusalem zu vertiefen und begann erst dort, im Krieg von 1967, Israel und die israelische Politik zu entdecken. Zuerst noch stolz, als Israeli die biblischen Stätten erobert zu haben, erkannte er bald, dass er Teil der Besatzer war und sein Mitgefühl wendete sich den Besetzten zu. In einem Klima des israelischen Triumphalismus stieß er auf die Matzpen-Bewegung und schloss sich ihr an. Sie war antizionistisch und radikal, und ihre Mitglieder waren die Ausgeschlossenen und Geächteten in Israel. Sie sahen den Krieg von 1948 als ethnische Säuberungsaktion, waren für das Recht auf Rückkehr der Palästinenser und für die Umwandlung Israels in ein „normales Land“ (S. 48), das heißt in einen Staat all seiner Einwohner. „Von Hebron bis Galiläa – ein einziges Volk und ein einziger Kampf.“ (S. 53)
Warschawski lernte in dieser Bewegung die Palästinenser kennen – als Kampfgenossen, als Bündnispartner, als Freunde – die sie für ihn immer geblieben sind. Sie waren es auch, die die Ausgrenzung in Israel erträglich machten. Es war der Ausschluss aus den Stammesgrenzen, sei es von den Linken, den Normalbürgern, den Rechten. Die Matzpen-Aktivisten begingen das „Verbrechen“, die zionistischen Mauern rund um die israelische Gesellschaft aufzubrechen.
1980 beschlossen Matzpen und die palästinensische Linke, das Alternative Information Centre (AIC) aufzubauen, mit dem Ziel zwischen den beiden Gesellschaften einen Informationsfluss in Gang zu setzen, der bis dahin nicht existierte. Michael Warschawski war nun der bekannte „Mikado“, wie er heute noch genannt wird. Dank eines gemischten Teams und eines Netzwerks an Kontakten in den besetzten Gebieten wurde eine umfassende Medienarbeit eingeleitet. Weiters wurde neuen palästinensischen und israelischen Organisationen Gehör verschafft. Als Hauptziel des AIC, in dem Warschawski auch heute noch arbeitet, wurde die Entwicklung einer gemeinsamen Strategie gesehen, „die schließlich Palästinenser und Israelis im gemeinsamen Kampf für die Zukunft vereinen könnte.“ (S. 132)
Der Einblick in die israelische Gesellschaft, den Warschawski von seiner Perspektive als Matzpen-Aktivist und später als führendes Mitglied des AIC gibt, ist ein besonders interessanter Aspekt des Buches und letztendlich auch des Autors.
Linksintellektuelle wie Uri Avneri, die die Matzpen-Aktivisten als Nazikollaborateure beschimpften, werden später Partner, um den Friedensblock – Gush Shalom – zu gründen. Er sollte die israelische Friedensbewegung, die sich nach dem Camp David Abkommen im Juli 2000 zum großen Teil wieder dem nationalen Konsens in Israel anschloss, neue Kraft geben.
Und die Linkszionisten, die sich auch als Linke begreifen? „Der Linkszionist glaubt an die demokratischen Werte und will in demokratischen Verhältnissen leben. Aber er will auch und vor allem einen jüdischen Staat. Also propagiert er eine Philosophie der Trennung. Trennung nicht bloß als Mittel, sondern als Wert. … Und die Philosophie des Linkszionisten basiert stets auf der paranoiden Vorstellung, der Jude sei, weil er Jude ist, ewig und absolut Opfer.“ (S. 156 f.)
Was die israelische Gesellschaft insgesamt betrifft, zeichnet Warschawski ein düsteres Bild. Sie scheint heute Ben Gurions äußerster Sieg zu sein. Seit 1967 hat sich Warschawskis Darstellung nach ein messianischer Nationalismus, der vorher ausgegrenzte religiöse Gemeinschaften unterdrückte aber jetzt eine neue Synthese aus Religion und Nationalismus betrieb, „zum wesentlichen Bestandteil des neuen nationalen Diskurses, auch in den Kreisen des Arbeiterzionismus“ (S. 197) herausgebildet. „Die zionistische Bewegung und Israel sind nicht mehr eine Lösung der jüdischen Frage, sondern Bestandteil der Erlösung des jüdischen Volks und der Befreiung des Heiligen Landes.“ (S. 197)
Was bleibt da an Perspektive für den Kämpfer, der von sich sagt: „In der Solidarität mit den Palästinensern bestätigt sich meine jüdisch-israelische Identität“ (Zitat am Buchrücken)?
Zwischen einem „Kolonialismus mit menschlichem Antlitz“ und einem nationalistischen und fundamentalistischen Israel auf der Flucht nach vorne, sieht Warschawski Hoffnung in einem dritten Weg, auf dem sich heute Intellektuellenkreise und Teile der Jugend finden. Darunter sind die Neuen Historiker und Neuen Soziologen. Nachdem Warschawski ihre kritischen Positionen zum Beispiel hinsichtlich des Entstehens Israels oder ihre Infragestellung des Prinzips „eines jüdischen und demokratischen Staates“ würdigt, muss er selbst gleich elementare Einschränkungen ihrer kritischen Rolle zugeben. Sie nennen sich „in der Mehrheit lieber Post- als Antizionisten, denn das einzige Thema, das für ihre intellektuelle Angriffslust tabu geblieben ist, ist der Zionismus als solcher.“ (S. 218) Und weiter stellt er fest, „dass die kritischsten Elemente der israelischen Gesellschaft sich auf dem Feld der Politik – wenn nicht in der israelischen Wirklichkeit überhaupt – nicht blicken lassen.“ Eine sehr traurige Bilanz des so genannten dritten Weges!
Und die politisch engagierte Jugend? „Solidarität mit den Palästinensern ist für sie eine Selbstverständlichkeit, sie gehört zu der umfassenderen Solidarität mit all denen auf unserem Planeten, die unter Unterdrückung zu leiden haben, von den Kosovo-Albanern bis zu den von Nike ausgebeuteten philippinischen Kindern, von den Indios Guatemalas bis zu den Robbenbabys in der Antarktis…“ (S. 219) Da ist es nicht verwunderlich, dass sie die Kämpfe gegen McDonalds und genmanipulierten Mais mehr interessiert als die Palästinenserfrage. Aber Warschawski ist zuversichtlich, dass sie die israelische Realität schnell einholen wird. Wie schlimm muss sie eigentlich noch werden, fragt man sich, damit die palästinensischen Menschen wichtiger werden als Robbenbabys?
Nachdem Warschawski die Relevanz seiner Hoffnungsträger mit seinen eigenen Argumenten relativiert, stellt er fest: „Die Brücken über die Grenzen, in den achtziger Jahren fleißig gebaut, sind eingestürzt. Niemand oder fast niemand mehr geht über die Grenze. …“ (S. 225) Er selbst wird immer wieder gefragt: „Warum gehst du nicht, bevor es zu spät ist?“ Seine Antwort ist zu bleiben und „auf den gesunden Menschenverstand zu setzen.“ (S. 227)
Was er damit meint, entwickelt er im Abschlusskapitel „Grenz-Identitäten“. Hier wird die Verschiebung des Schwerpunktes, die schon während der Lektüre des Buches spürbar war, deutlich. Es ist die Zukunft Israels, die klar ins Zentrum rückt, der Warschawskis Sorge vorrangig gilt und die zum Standhalten zwingt: „Die Zukunft einer jüdischen Existenz inmitten eines arabischen Nahen Ostens zwingt zu einem dritten Weg und zum Widerstand sowohl gegen den expansiv-militaristischen Fundamentalismus als auch gegen den Kolonialismus, der selbst in der soften, „schicklichen“ Version immer wieder zu Kriegen mit der arabischen Welt führen wird.“ (S. 230)
Wenn es laut Warschawski eine Zukunft Israels geben soll, muss es sich in die arabische Welt integrieren und die Philosophie der Trennung aufgeben. Voraussetzung dafür ist die Neubestimmung der israelischen Identität. Sie soll eine „jüdische, eine Diaspora-Identität sein.“ (S. 239) Wenn die Israelis ihre wahren jüdischen Wurzeln wieder finden, ihre Weltoffenheit, die sich über zwei Jahrtausende in einer vielschichtigen Beziehung zur Umwelt geformt hat, wird in Warschawskis Überlegungen die Zukunft mit den Palästinensern möglich sein. Die Versöhnung mit ihnen beinhaltet, dass das Unrecht, das an ihnen begangen wurde, anerkannt und die Bitte um Vergebung ausgesprochen wird.
„Nur eine aufrichtige, umfassende Bitte um Vergebung für die begangenen Verbrechen kann die Voraussetzungen für wirkliche Gleichberechtigung zwischen denen, die diese Verbrechen begangen haben, und ihren Opfern schaffen.“ (S. 232)
Auf diesen letzten Seiten von „An der Grenze“ kann man erahnen, was die Gewaltherrschaft Israels auch in den Köpfen seiner Kritiker wie Warschawski anrichtet. Aus der Forderung für das Recht auf Rückkehr ist eine moralische Bitte um Vergebung geworden. Aus politischen Konzepten sind Wunschvorstellungen und Träume geworden, die an der politischen Realität vorbei gehen.
„An der Grenze“ von Michael Warschawski. Edition Nautilus, Verlag Lutz Schulenburg 2004. 255 Seiten
Elisabeth Lindner-Riegler