Interview mit Shraga Elam
Shraga Elam ist ein aus Israel stammender Journalist, der heute in der Schweiz lebt. Er gilt als unmissverständlicher Kritiker der israelischen Unterdrückungspolitik gegenüber der palästinensischen Bevölkerung und Gegner des zionistischen Konzeptes eines jüdischen Staates. Statt dessen propagiert er den gemeinsamen Kampf von jüdischer und arabischer Bevölkerung für eine demokratische Lösung des Nahost-Konfliktes.
Sie sind als scharfer Kritiker der israelischen Besatzungspolitik bekannt und sprechen sich auch gegen die so genannte Zwei-Staaten-Lösung aus.
Shraga Elam: Die Zwei-Staaten-Lösung ist keine. Das Scheitern der Osloer Abkommen war kein Zufall. Israel als zionistischer Staat kann keinen vollwertigen palästinensischen Staat neben sich akzeptieren. Auch die Genfer Initiative (GI) hat in dieser Hinsicht nichts zu bieten. Sie wiederholt im Grunde die gleichen Prinzipien der Abkommen von Oslo.
Das Hauptproblem der GI and des Oslo-Prozesses ist, dass aus israelischer Sicht eine Art postkoloniales Modell angestrebt wird. Das bedeutet, dass die Unterdrückung der PalästinenserInnen ausgelagert werden sollte, dass eine Art „outsourcing“ betrieben wird. Palästinensische Polizeieinheiten sollen selbst die Rolle der Unterdrücker übernehmen. Das ist effizienter und außerdem kostengünstiger. Dazu gibt es in Israel zur Zeit eine heftige Diskussion. Der Inlandsgeheimdienst Shin Bet und Teile der Wirtschaft befürworteten noch vor einigen Jahren diese „saubere“ Lösung, die auch schon Rabin propagiert hat. Das Militär hingegen sagt, die Palästinenser seien gar nicht in der Lage diese Rolle zu übernehmen. Die Shin Bet vertritt heute ebenfalls die Linie des Militärs.
Die heutige herrschende Clique in Israel setzt hingegen eindeutig auf die Politik der ethnischen Säuberung. Diese drohende Gefahr abzuwenden, ist unsere zentrale Aufgabe, und zwar gemeinsam, jüdische und arabische Menschen. In dieser gemeinsamen Form der Praxis zeigt sich dann auch, dass der gemeinsame Kampf möglich und notwendig ist, dass er keine Abstraktion ist. Dieser Prozess hat auch begonnen, die ersten Ansätze dazu gibt es schon.
Sie sprechen vom gemeinsamen Kampf von Palästinensern und Juden gegen das zionistische Projekt. Von Europa aus betrachtet, hat man meist den Eindruck, dass der zionistische Konsens unter der israelischen Bevölkerung fast lückenlos ist und auch die Linke und das so genannte Friedenslager weitgehend mit einschließt.
Ich sprach nicht von einer antizionistischen Massenbewegung, die gibt es natürlich leider in dieser Form nicht. Dennoch wird antizionistisches Gedankengut zunehmend salonfähig in Israel. Es gibt in dieser Hinsicht beträchtliche Veränderungen im Vergleich zu den 70er Jahren. Dieses Gedankengut ist natürlich nicht einheitlich, aber ein Charakteristikum ist, dass es den Gedanken der Aufhebung von Israel als exklusiv jüdischem Staat beinhaltet. Anfang dieses Jahrzehnts wurde sogar auch in den öffentlichen Medien die Frage diskutiert, ob Israels Charakter als Judenstaat mit seinen Ansprüchen, ein demokratischer Staat zu sein, vereinbar sei.
Auch die Tatsache, dass die Besetzung der palästinensischen Gebiete nicht erst 1967, sondern bereits 1948 begonnen hat, ist heute viel sichtbarer geworden und ist darum auch mehr Thema als früher. Selbst über das Rückkehrrecht für die palästinensischen Flüchtlinge wird heute offener diskutiert. Dennoch bleibt zu sagen, dass viele Menschen in Israel keine konkreten Vorstellungen haben, was dieses antizionistische Gedankengut in der Praxis bedeuten kann.
Für mich persönlich hat es bedeutet, dass ich aus Israel weggegangen bin, obwohl ich dort geboren wurde und an zwei Kriegen teilgenommen habe. Ich glaube, dass viele Israelis, vor allem junge Leute, der Möglichkeit ins Ausland zu emigrieren positiv gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür ist Deutschland, wo es in den letzten Jahren zu einem rapiden Ansteigen der jüdischen Bevölkerung gekommen ist. Das missfällt der israelischen Führung und die Jewish Agency hat sogar von der deutschen Regierung gefordert, die Einreisebestimmungen zu verschärfen um den Zuzug zu stoppen. Eine ähnliche Anekdote gibt es auch aus Australien, das traditionell gute Beziehungen zu Israel unterhält. Als der australische Außenminister Alexander Downer Israelis zwischen 18 und 30 zur Immigration nach Australien einlud, fand seine Aussage bei der israelischen Regierung gar keine Wertschätzung.
Es hat in der Geschichte Israels immer wieder Auswanderungswellen gegeben. Die Auswanderer sind von der israelischen Gesellschaft allesamt als Verräter betrachtet worden, was heute nicht mehr durchgängig so ist. Die Emigranten, vor allem die, die in den 70er Jahren mehrheitlich in die USA gingen, waren sehr stark pro-zionistisch und haben gar nicht bemerkt, dass sie durch ihre Auswanderung in der Praxis ihre Ideologie in Frage gestellt haben.
Inzwischen sind viele zionistische Dogmen unterhöhlt. Beispielsweise leistet ein Viertel der Wehrpflichtigen keinen Militärdienst. Das ist meist kein politischer Akt, sondern einfach Unwillen, sich der Wehrpflicht zu unterwerfen. Mit Ausreden, Krankheitszeugnissen usw. wird versucht, diese Pflicht zu umgehen. Ein Ergebnis dessen ist auch, dass es in Israel inzwischen eine Diskussion darüber gibt, ob das Milizsystem zugunsten einer Profi-Armee aufgelöst werden soll. Jüngste Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Bei der Einberufung von Reservisten erscheinen durchschnittlich nur ein Siebentel aller Verpflichteten.
Diese Art des In-Frage-Stellens des zionistischen Systems hat aber keine Entsprechung auf der politischen Ebene. Die Leute wollen nicht mehr mitmachen, aber bei den Wahlen stimmen sie trotzdem für Sharon. Dennoch glaube ich, dass man an diesem Widerspruch ansetzen kann, an diesem Wunsch der Leute, normal leben zu können.
Sie sprechen öfter davon, dass Sie jede Form von Nationalismus ablehnen, sowohl den israelischen als auch den palästinensischen. Können Sie das näher erklären?
Ich halte das Konzept der Nation oder des Volkes für eine Fiktion. Die einzige haltbare Definition von Nation ist eine Gruppe von Menschen, die sich selbst als Nation betrachten. Das ist eine Tautologie (circular definition). Nation ist für mich ein Beispiel für einen Entfremdungsprozess, ähnlich der von Marx für den Arbeitsprozess beschriebenen Entfremdung. Nationalistische Bewegungen sind für mich wie eine Art Ersatzreligion.
Die nationalistische Bewegung der Juden richtet sich nicht nur gegen die Palästinenser und ihre Rechte, sondern ist auch für die Juden selbst schädlich. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Rolle der Jewish Agency während des deutschen Faschismus. Sie führte im Wesentlichen nur Rettungsaktionen durch, wenn diese im Sinne ihres nationalistischen Projektes waren. Sonst sabotierte sie große Rettungsmöglichkeiten oder kollaborierte sogar mit den Nazis.
Die palästinensische nationale Führung hat einen wichtigen Aspekt mit den Zionisten gemeinsam, wenn letztere auch weitaus effizienter sind: Sie verraten beide die Interessen des „Volkes“ (ein Begriff, den ich für gewöhnlich unter Anführungszeichen setze). Ich sehe hier ein grundsätzliches Problem des Nationalismus. Nicht die Interessen des Menschen stehen im Zentrum, sondern die eines abstrakten Wesens, der Nation bzw. einer bestimmten Clique. Der antikoloniale „nationale“ Kampf zum Beispiel reicht einfach nicht aus, um die Menschen von Unterdrückung zu befreien.
Der Widerstand des palästinensischen Volkes hat historisch die Form eines nationalen Befreiungskampfes angenommen. Das ist eine Realität. Kann man diesem Kampf die Unterstützung verwehren, weil er eben diese Formen angenommen hat?
Sehen wir uns die Erfahrungen mit nationalen Befreiungskämpfen im Trikont an. Es gibt meines Wissens keinen Fall, in dem diese Kämpfe auch tatsächlich zur Befreiung des „Volkes“ geführt haben. Ich unterscheide hier zwei Hauptmodelle, Algerien, wo der „nationale“ Kampf (mit dem Ziel: „Kolonialisten weg!“) letztendlich nicht in die Befreiung des „Volkes“ gemündet ist, und Südafrika. In Südafrika hat der Befreiungskampf eine andere anti-kolonialistische Form angenommen, fortschrittliche Teile aller Bevölkerungsschichten haben den Apartheidstaat zu Fall gebracht. Es gibt in Südafrika auch keinen schwarzen Nationalismus in diesem Sinn. Ich halte das südafrikanische Modell für besser.
Die Frage für mich als Linken stellt sich einfach, ob man blind den existierenden Kräften folgen soll, weil sie den Kampf der Bevölkerung anführen, oder ob man eine kritische Form der Solidarität anwenden soll. Ähnlich gelagert ist für mich die Tatsache, dass der palästinensische Kampf immer mehr im Zeichen des Islam geführt wird. Natürlich ist es eine Tatsache, dass es die islamischen Kräfte sind, die heute den Kampf anführen, nicht die Linken, und ich finde es auch wichtig und positiv, dass sie den Kampf nicht aufgeben. Aber ihren Zielen kann ich nicht folgen.
Ich glaube, dass unsere Aufgabe die einer kritische Solidarität ist. Das bedeutet auch, die Kritik vieler Palästinenser an ihrer eigenen Führung zu unterstützen. Wenn beide Seiten, Juden und Palästinenser, auf ihre nationalistische Konzeption bestehen, ist die Katastrophe vorprogrammiert.
Ihre Auffassung von Nationalismus zeigt Ähnlichkeiten mit jener der Antideutschen.
Ich kenne diese Strömung, kann ihre Positionen aber nicht teilen. Ich kann zwar nachvollziehen, dass man den Nationalsozialismus und als Konsequenz daraus den deutschen Nationalismus ablehnt, aber das augenscheinliche Grundprinzip der Antideutschen „Wir sind für immer Täter, die Juden für immer Opfer“ ist einfach nur falsch. Das ist Rassismus. Während die Antideutschen Nationalismus im Allgemeinen ablehnen, akzeptieren sie ausgerechnet eine der schlimmsten heute existierenden nationalen Bewegungen und/oder Ideologien, nämlich den Zionismus.
Mein Konzept für die Lösung des Konfliktes in Palästina ist eher der südafrikanische Weg. Damit meine ich nicht, dass dieser ein politisch-theoretisches Modell im Sinne einer linken Utopie darstellen würde, die es anzustreben gilt. Ich sehe darin vielmehr auf pragmatischer Ebene einen konkret gangbaren Weg, der für die Palästinenser auf jeden Fall einen Fortschritt gegenüber ihrer aktuellen Situation wäre.
Entscheidend ist heute jedoch nicht die theoretische oder ideologische Auseinandersetzung, beispielsweise die Frage des Nationalismus, sondern die Praxis, und zwar die konkrete Frage, wie die ethnische Säuberung gestoppt werden kann.
Sie sprechen oft von einer israelischen Eskalationspolitik.
Ja. Wir sehen in Palästina Tag täglich, nicht nur dass diese Säuberungen existieren, sondern auch, dass sie von Tag zu Tag schlimmer werden. Das ist eine Art der gezielten Eskalationspolitik. Die entscheidende Frage heute ist auch nicht die Mauer, die Mauer ist nur ein Symptom. Wir haben es mit einer stillen Volksvertreibung zu tun, einer Volksvertreibung, über die es zu wenig Wissen und Bewusstsein gibt. Es werden auch keine Studien gemacht und es gibt nur sehr wenig zuverlässiges Datenmaterial darüber. So können wir nur annehmen, dass etwa die Zahl jener Palästinenser, die seit Beginn der zweiten Intifada durch Fehlernährung oder verseuchtes Wasser gestorben sind, ungleich höher ist, als man ahnt. Es scheint auch, dass seit Anfang der Intifada im Jahr 2000 über eine halbe Million Palästinenser ihre Häuser verlassen haben.
Die Frage ist, wie man diese Katastrophe stoppen kann. Die israelische herrschende Clique versteht es, gezielt Ängste zu schüren und damit zu verhindern, dass sich immer mehr Israelis weigern könnten, bei der Unterdrückungsmaschinerie mitzumachen und diese sogar sabotieren. Es gibt in Israel eine „Todeskultur“, die Bestandteil der israelischen Propaganda ist. Das ist gezielte Manipulation. Beispielsweise sterben bei Verkehrsunfällen zwischen 500 und 600 Israelis pro Jahr, was eine viel höhere Opferzahl ist, als jene, die bei Terroranschlägen ums Leben kommen. Die israelischen Medien behandeln jedoch qualitativ und quantitativ die beiden Kategorien der Todesfälle sehr anders. Wenn die gleiche Berichterstattungsart in beiden Fällen verwendet worden wäre, so zählte das Auto zu den meist gehassten und gefürchteten Dingen und wäre kein Objekt der Begierde. Diese Propagandamaschinerie muss man der israelischen Bevölkerung bewusst machen und ihr etwas entgegensetzen. Dazu ist die Zusammenarbeit zwischen Israelis und Palästinensern eine wichtige Voraussetzung.
Man muss auch sehen, dass es für die israelische Bevölkerung viel leichter ist aktiv zu werden, als für die palästinensische. Die Palästinenser werden von der israelischen Armee praktisch in Geiselhaft gehalten. Nach jedem erfolgreichen Attentat steigert sich die Reaktion der israelischen Armee. Das kann hin bis zu einer zweiten Naqba, also einer neuen Massenvertreibung gehen. Die israelische Linke ist daher aufgefordert, sich mit aller Kraft gegen diese Politik der ethnischen Säuberungen einzusetzen. Ihre Verantwortung ist besonders groß, denn sie ist nicht durch einen solchen Gewaltmechanismus eingeschränkt, wie die palästinensische Bevölkerung.
Vielen Dank für das Gespräch.