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Palästina – der Alltag im besetzten Westjordanland

24. September 2004

Erfahrungen und Eindrücke einer Reise

Im Rahmen der Aktivitäten des International Solidarity Movement (ISM) hatte ich im Juli/August 2004 die Möglichkeit, für knappe vier Wochen in Jenin und Umgebung zu erfahren, was der Alltag unter israelischer Besatzung bedeutet. Das Zentrum des militärischen Terrors sind nun schon seit einiger Zeit der völlig abgeriegelte Gazastreifen und Nablus – Nachrichten von der Ermordung palästinensischer Kinder und Jugendlicher in den letzten drei Wochen in Balata/Nablus oder die Bombardierung von Beit Hanun im Gazastreifen erreichen manchmal die internationalen Medien. Oder es ist die Apartheidmauer, die ab und zu Schlagzeilen macht. Was sich jedoch auf den sogenannten Nebenschauplätzen abspielt (die wie Jenin jederzeit wieder zu einem Hauptschauplatz werden können), scheint in grausamer Weise zu wenig spektakulär um Medienaufmerksamkeit zu bekommen. Und doch ist es dieser Krieg niedriger Intensität, der die Palästinenser tagtäglich trifft, der das einfache Überleben so schwierig macht, der ermüdet und dem Widerstand den Rücken brechen soll. Ich möchte mit diesem Bericht all den palästinensischen Frauen, Kindern und Männern, die mir auf verschiedenste Weise gezeigt haben, wie sie dem tagtäglichen Terror die Stirn bieten und an einer Zukunft in einem freien Palästina festhalten, danken, und mein Versprechen einlösen, ihnen eine Stimme zu geben.
Der Weg nach Jenin ist kein leichter. Da es kaum möglich ist, in eine „closed military zone“ (zu der praktisch jede größere Stadt im Westjordanland erklärt wurde) durch die Checkpoints auf den Hauptstraßen zu kommen, ist eine stundenlange Fahrt auf Nebenstraßen und durch die Berge notwendig. In Jenin selbst ist es zur Zeit relativ ruhig. Das heißt nur, dass israelische Panzer, Jeeps und Heckenschützen bei Tag in der Stadt kaum sichtbar sind. Am 10. Juli allerdings dringen sie ein, erschießen Nu´man Tahaina (einen vermutlichen Kämpfer der Hamas) in seinem Haus und verhindern drei Stunden lang das Eintreffen eines Ambulanzfahrzeugs. Während dieser drei Stunden fahren sie durch die Straßen, provozieren Jugendliche, bis die Steine fliegen, um dann mit Tränengas und Kugeln zu antworten. Als ihr Opfer nach drei Stunden verblutet ist, ziehen die Soldaten ab.
Fast jede Nacht sind Jeeps und Schusswechsel aus dem nahen Flüchtlingslager Jenin zu hören. Am 20. Juli frühmorgens werden wir Zeugen der Demolierung der Wohnung von Abu Ali, der in Jenin ein kleines Geschäft betreibt. Während des Massakers in Jenin 2002 wird sein Haus zerstört und sein Schwiegersohn als „Terrorist“ verhaftet. Am 10. Juli wird seine sechzehnjährige Tochter Ame Muhammad Yunis Owis verhaftet – ohne Angabe von Gründen – am 22. Juli seine zweite Tochter Amani Mohammed Yunis Owis, Mutter von zwei kleinen Kindern. Tagelang versuchen wir herauszufinden, wo die Töchter überhaupt sind und warum sie verhaftet wurden. Die Besatzer geben keine Begründung – sie demonstrieren Macht, die die anderen ohnmächtig machen soll. Abu Ali, der auch an diesem Tag von sechs Uhr morgens bis elf am Abend in seinem kleinen Geschäft steht, gibt uns seine Erklärung: „Sie wollen, dass wir verschwinden. Entweder sie töten uns oder sie machen das Leben unerträglich. Verschwindet! Wandert aus! Ich hätte nie gedacht, dass sie mich fast soweit bringen. Warum meine Töchter?“ Zwei Tage vor ihrer Verhaftung sagte mir Amani, deren Mann 2002 mit dem Urteil „lebenslänglich“ verhaftet wurde: „Es ist schwer, wir verloren alles. Aber ich bleibe stark, wegen meiner zwei Kinder.“
Ich arbeite auch mit den Kindern im Flüchtlingslager, die im Sommer in einer UNRWA-Schule sogenannte betreute Workshops besuchen können. Viele der Kinder sind stark traumatisiert. Sie haben das Massaker im Jahre 2002 in Jenin erlebt, sie erleben die nächtlichen Überfälle des israelischen Militärs. Die Hilfe, die diese Kinder bekommen, ist gar keine. In Riesengruppen von vierzig bis fünfzig Kindern, mit ungeschulten Betreuern so wie ich es bin, leben die einen bei den Ausländern ihre starken Gefühle aus, die anderen sind verschlossen, wieder andere bringen ihre Geschenke – Patronenhülsen, die im Lager herumliegen. Einige Kinder geben mir auch Zeichnungen von der al-Aqsa-Moschee und fragen, ob ich es möglich machen könnte, dass sie sie sehen könnten. Diesen Kindern ist ein Rest an Vertrauen geblieben, das in diesem Fall leider auch enttäuscht wird.
20. Juli in Barta´a. Die Grüne Grenze verläuft mitten durch die Stadt, die Apartheidmauer tief in palästinensischem Gebiet – 3,6 bis acht Kilometer von der Grünen Grenze entfernt. Der palästinensische Teil von Barta´a ist also eingeschlossen von zwei Grenzen und im Nordosten von vier israelischen Siedlungen. Familien wurden getrennt, soziale Kontakte zerrissen. Am 20. Juli wird die Trennung noch einmal vollzogen – die Häuser, Geschäfte und eine kleine Bekleidungsfabrik entlang der Grünen Grenze werden zerstört – insgesamt werden 120 Arbeitsplätze von den Bulldozern niedergewalzt, in einer Region, wo es kaum mehr Arbeit gibt. Die offizielle Begründung ist „keine Baubewilligung“, ungeachtet der Tatsache, dass die Leute verzweifelt ihre Genehmigungen in die Höhe halten. Es ist kein Zufall, dass die Häuser und Geschäfte auf der Grünen Grenze liegen. Ein weiterer Grenzzaun ist geplant, der die Teilung Barta´as zementieren soll. Der Widerstand, der Zorn und der Wille, das Bisschen, was noch da ist, zu verteidigen, ist ungebrochen, obwohl es schon zehn Verletzte durch Gewehrfeuer gibt. Die ohrenbetäubenden „sound bombs“ machen den Weg für die Bulldozer jedoch wieder frei. Das nächste Ziel, ein freistehendes Haus. Der Besitzer ist völlig außer sich, Männer und Jugendliche kommen ihm zu Hilfe. Es fliegen Steine, denen zuerst Gummigeschosse, dann heftiges Gewehrfeuer von Seiten der Soldaten folgt. Was hier in Barta´a geschieht, ist der Alltag der Besatzung.
Den meisten Städten und Dörfern in der Region Jenin, die nicht unmittelbar von der Apartheidmauer betroffen sind, wird das Leben durch die Roadblocks, die unbemannten Straßensperren, erschwert. Felsblöcke oder riesige Erdwälle blockieren die Straßen, weil in der Nähe entweder eine Siedlerstraße ist oder einfach aus Schikane. Praktisch bedeutet es, dass man mit keinem Fahrzeug zu den Olivenhainen kommt und dass für jeden Schritt hinaus Umwege auf unwegsamen Wegen in Kauf genommen werden müssen. Die Palästinenser nutzen immer wieder die Gegenwart von Ausländern, diese Sperren zu beseitigen, denn die Anwesenheit von Ausländern kann ihrer Ansicht nach in manchen Fällen die Brutalität des israelischen Militärs zügeln.
Die sieben Sperren auf der Straße von Ramin können tatsächlich vom Bulldozer beseitigt werden – für wie lange? Die Freude ist trotzdem groß, als das erste Auto entlang fährt. Die Hauptstraße nach Nablus ist schon seit langem zu, die, die wir gerade räumten, war es seit sechs Monaten. Wer immer vom Dorf Ramin nach Nablus wollte – zu Studienzwecken oder wegen eines Arztbesuches – war statt einer Stunde mehrere Stunden auf unwegsamen Wegen und Straßen unterwegs. Nach all der Mühsal dauerte und dauert es wieder Stunden, um nach Nablus hineinzukommen, denn durch die Hauptcheckpoints ist es kaum möglich – „closed milirary zone“! An einem Nebencheckpoint im Norden, den auch ich einmal benutze, kommt man, wenn man Glück hat, durch – wenn man kein palästinensischer Mann oder Jugendlicher unter 30 ist. Die werden nämlich aus „Sicherheitsgründen“ stundenlang angehalten und oft nicht durchgelassen. Aus „Sicherheitsgründen“ erschossen die Soldaten am 25. Juli dort einen jungen Mann mit gültigen Papieren, der sich gegen die Schikanen wehrte, die Soldaten beschimpfte und dann davonlaufen wollte.
Unser Taxifahrer erträgt es mit erstaunlicher Geduld, dass wir über eine Stunde warten müssen, obwohl nur zwei Autos am Checkpoint sind. Die Soldaten haben es nicht eilig und demonstrieren ihre Macht.
In Saffarin, wo auch eine Straße geöffnet werden soll, erklärt das Militär diese als militärisches Sperrgebiet (in der Nähe führt eine Siedlerstraße vorbei), was soviel heißt, dass sie tun können, was sie wollen. Die Dorfgemeinschaft ist gegen eine Konfrontation – die Sperre bleibt.
In Ya´bad, einer Stadt mit sehr kämpferischen Menschen, gibt es keine Warnungen oder Erklärungen mehr. Sobald wir uns der Straßensperre nähern, werden Unmengen an Tränengaskanistern in die Menschenmenge geworfen. Drei Menschen werden verletzt, Steine fliegen und irgendwann ist die Belastung durch das Tränengas so groß, dass der Rückzug erfolgt. Als Bestrafungsaktion dringt das Militär am nächsten Tag ein und verhaftet willkürlich Menschen. Das israelische Militär muss keine Gründe dafür angeben – bis zu sechs Monaten ist es nach ihrem Gesetz möglich, Palästinenser ohne Angaben von Gründen einzusperren. In Ya´bad und anderswo erzeugt all dieser Terror immer neuen Widerstand – eine von den guten Erfahrungen nach so viel Machtdemonstrationen der Besatzer.
Am 25. Juli dringen Undercover-Einheiten in Tulkarm ein. Sie erschießen zwei Mitglieder der al-Aqsa-Brigaden und vier unbeteiligte Passanten. Sie lassen für eine halbe Stunde keine Hilfe oder Rettungsmannschaften durch. Das Gewehrfeuer ist einseitig – es ist nur ihres. Die offizielle Version dieser Militäraktion in der Ha´aretz dazu ist, dass sechs Terroristen, die einen Anschlag planten, getötet wurden – der Sicherheit Israels wegen.
Ich nehme in den ersten Tagen am „Freedom March“ teil, einer zwanzigtägigen Demonstration gegen und entlang der Apartheidmauer, von Zububa ganz im Norden des Westjordanlandes bis Jerusalem. Überall begleitet uns die jeweilige einheimische Bevölkerung für bestimmte Etappen – voller Gastfreundschaft und Freude, dass ihr Kampf gegen die illegale Mauer anerkannt und weitergeführt wird.
Große Abschnitte im Norden sind keine Mauer, sondern ein Zaun. Das heißt konkret: ein rund zwei Meter hoher Rasierklingenstacheldrahtzaun, dann ein tiefer Graben, dann eine Piste für die Militärfahrzeuge, zuletzt noch der elektrische Zaun mit Überwachungskameras, und wieder eine Straße, auf der ich an all den Tagen kein einziges anderes Fahrzeug gesehen habe als die Jeeps. Abgesehen vom Landraub durch den Verlauf der Mauer tief im palästinensischen Gebiet ist dieser Grenzzaun, der etliche Meter Land über viele Kilometer beansprucht, ein besonders perverses koloniales Monster.
Ob in Zububa, Umm Dar, Tayba oder Tura – wir stehen mit den Menschen auf ihrer Seite des Zaunes und sie zeigen uns die Häuser von Verwandten auf der anderen Seite, oder das Weideland für ihre Schafe und Ziegen, oder ihre Olivenhaine. Alles, ohne irgendeine Art von Entschädigung, fiel dem Landraub der Israelis anheim. Was jetzt, ca. ein Jahr nach Fertigstellung der Mauer in vielen Grenzorten als lebensbedrohlich angesehen wird, ist die Unmöglichkeit, aus diesem Gefängnis heraus zu den früheren Arbeitsstätten zu gelangen. Zububa steht stellvertretend für viele der Orte – keine Arbeit mehr. Früher war es eine zehnminütige Fahrt zur Arbeitsstelle in Israel. Jetzt würde es bedeuten, den ganzen mühseligen Weg durchs Westjordanland bis Jerusalem und durch Israel auf der anderen Seite zurück in die israelische Stadt zu fahren, die praktisch vor der Haustür liegt. Eine Tagesreise! Was bleibt? Auswandern? Verhungern? Von Hilfslieferungen abhängig sein? Kämpfen?
Ob es dieser Würgegriff um die palästinensische Gesellschaft ist, ob es die Verhaftungen und Erschießungen sind – die palästinensische Bevölkerung soll auf all diese Arten „hinausgesäubert, dezimiert“ werden. Diese ethnische Säuberung soll den Platz schaffen für mehr israelische Siedlungen, für mehr Einwanderer, für den mörderischen Traum von Großisrael.
Es lebe die Intifada!

Elisabeth Lindner-Riegler
Elisabeth Lindner-Riegler ist Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination in Wien

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