Bericht aus der eingeschlossenen Stadt Qalqilya
Qalqilya, eine palästinensische Stadt an der Grünen Linie, ca. fünfzig Kilometer nordwestlich von Jerusalem. 45 000 Einwohner. Auf allen Seiten umgeben von der acht Meter hohen Apartheidmauer. Um rein- oder rauszukommen, brauchen die Bewohner einen Passierschein, ausgestellt von israelischen Behörden, kontrolliert von israelischen Soldaten an dem einzigen Checkpoint der Stadt. Israelischen Staatsbürgern und Ausländern ist es per Gesetz verboten die Stadt zu betreten.
Seit dem Mauerbau im Juni 2002 hat sich das Leben erheblich verändert. Die Zahlen an sich sind erschreckend: 3 000 Dunum Land wurde konfisziert, über die Hälfte der Stadtfläche. Vor dem Mauerbau sah die Sozialstruktur etwa so aus: Die Hälfte der Menschen lebte von der Landwirtschaft, etwa ein Viertel der Männer arbeitete in Israel, und ein Viertel in Qalqilya. Da die meisten Felder außerhalb der Mauer liegen und die Arbeit in Israel de facto unmöglich wurde, sieht die Lage jetzt trist aus. 60% leben unter der Armutsgrenze. Die Geschäfte haben zwar offen, doch gekauft wird nur das Allerwichtigste. Praktisch der einzige Arbeitsgeber ist die palästinensische Autonomiebehörde (PA), die dieser Aufgabe nur mäßig nachkommt. Polizisten, Verkehrsregler, Büroarbeit und Straßenkehrer sind die Arbeiten, die sie vergibt. Ein Straßenkehrer zum Beispiel bekommt zwanzig Schekel pro Tag, kann aber nur zwei Wochen im Monat arbeiten (Preisvergleich: eine Zigarettenpackung sieben Schekel, das sind ca. 1,32 Euro). Im Gegensatz dazu kostet ein Kilometer der Hi-Tech-Sicherheitsanlage eine Million Dollar. Qalqilya wird von 14 Kilometern Mauer umgeben. „Kümmere dich nicht um die Palästinenser. Sie können sich lange nur von Brot und Salz ernähren,“ sagt Hessian Abu Ali, 41, mit grimmigem Humor.
Doch obwohl das Überleben Tag für Tag schwieriger wird, sehe ich in der Stadt keinen einzigen Bettler und keinen Obdachlosen. Der Grund dafür liegt in der Hilfe von der Familie und der Nachbarschaft. Familien lassen in Lebensmittelgeschäften anschreiben und machen wenn möglich woanders Schulden. Ein 21-jähriger Student verrät mir einen anderen Überlebenstrick: 90% der Autos in Qalqilya sind von Israelis gestohlen. Sein Cousin hat gestern ein Polizeiauto hereingebracht. Es gibt auch internationale Hilfe, diese wird hauptsächlich von der PA verteilt. Doch diese sieht sich immer mehr der Kritik wegen Korruption und Verschwendung ausgesetzt.
Verglichen mit der Situation in Gaza ist Qalqilya noch gut dran. Hassan glaubt das Ziel der israelischen Apartheidpolitiker zu kennen: „Sie wollen die Einwohnerzahl auf 15 000 senken. Sie wollen ein Land ohne Leute.“ Und bislang scheint diese Politik Erfolg zu zeigen. Seit dem Mauerbau haben 10 000 Menschen Qalqilya verlassen. Doch was ist, wenn die Menschen ihre Heimat nicht verlassen wollen und sie trotz der miserablen Umstände verteidigen? Ein Kreislauf aus Ausgangssperren, Militärinvasionen, Bomben und Selbstmordanschlägen ist vorhersehbar. Dann wird Qalqilya das neue Gaza.
Franz Bortenschlager