Interview mit Ghayasuddin Siddiqi, Moslemisches Parlament, Großbritannien
Sie sind Vorsitzender des Moslemischen Parlaments in Großbritannien. Können Sie diese Institution näher beschreiben?
Ghayasuddin Siddiqi: Das Moslemische Parlament ist ein Community Forum, also eine Plattform für die moslemische Gemeinde Großbritanniens, das dazu dient, wichtige Fragen der Gemeinde zu diskutieren. Es gibt dabei keine inhaltliche Einschränkung. Manchmal handelt es sich um Fragen der Gesetzgebung, um soziale oder kulturelle Belange. Seit September 1998 führen wir auch einige spezifische Aktivitäten hinsichtlich der Antiterrorismusgesetzgebung durch, denn zu jenem Zeitpunkt wurde zum ersten Mal öffentlich diskutiert, ob der Gültigkeitsbereich dieser Gesetzgebung von Nordirland auf das gesamte Gebiet Großbritanniens ausgeweitet werden sollte. Das war also noch vor dem 11. September 2001. Unsere Überlegung damals war, dass das Gerede vom Problem des islamischen Terrors, der nicht existierte, angesichts all der Diskriminierung, Benachteiligung, Arbeitslosigkeit und sozialer Marginalisierung der Muslime in Großbritannien dieses Phänomen erst schaffen würde. Wenn man nichts gegen die Ausgrenzung und Marginalisierung tut, wenn die Leute weiterhin in ihre Gettos eingesperrt bleiben, dann wird es natürlich irgendwann Demagogen geben, die diese Situation ausnützen. Und das ist geschehen.
Wir haben also Kampagnen gegen die Antiterrorismusgesetze durchgeführt und dabei mit vielen anderen Organisationen zusammengearbeitet. Andere Aktivitäten innerhalb der moslemischen Gemeinde waren Maßnahmen und Kampagnen zur Gleichstellung der Geschlechter, gegen Gewalt in der Familie und erzwungene Heiraten. Wir waren die erste Vertretung einer Minderheit, die ihre Stimme gegen diese Probleme erhoben hat. Ein weiteres Anliegen unseres Forums ist es, dass unsere Kinder, die staatliche Schulen besuchen, eine bessere Schulbildung genießen. Die große Mehrheit der muslimischen Kinder gehen auf staatliche Schulen, die in verarmten Regionen oder Stadtvierteln liegen, und die Qualität dieser Schulen ist meist sehr niedrig. Die Schulabgänger haben keine Qualifikationen und können nur schwer Arbeit finden. Das wiederum führt viele arbeitslose Schulabgänger dazu, entweder in die Drogenszene abzugleiten, oder in die Kriminalität.
Neben diesen sozialen Aktivitäten beteiligen wir uns seit dem 11. September 2001 und der Invasion von Afghanistan außerdem aktiv an der Antikriegsbewegung. Das Moslemische Parlament versteht sich insgesamt als eine Lobbying-Gruppe im Interesse der moslemischen Bevölkerung Großbritanniens. Es existiert seit Februar 1992.
Gab es damals irgendeinen spezifischen Anlass, der zur Gründung des Parlaments führte?
Ja, es war in gewisser Weise die Folge eines Ereignisses von hohem Bekanntheitsgrad, nämlich der Rushdie-Affaire. Die moslemische Gemeinde nahm Rushdies Buch „Satanische Verse“ mit sehr gemischten Gefühlen und Betroffenheit auf. Es gab auch viele Demonstrationen. Innerhalb der moslemischen Gemeinde kamen wir zu dem Schluss, dass wir eine junge Gemeinde in Großbritannien waren und keine Strukturen hatten, um uns auszutauschen und zu diskutieren und auch keine Stimme, mit der die Gemeinde ihre Ansichten in der Öffentlichkeit ausdrücken könnte.
Wie ist die Situation der moslemischen Gemeinde in Großbritannien nach dem 11. September, der zu verschärfter Repression gegenüber den Muslimen geführt hat?
Es gibt zwei Antiterrorismusgesetze, das erste wurde im Jahr 2000 erlassen, das andere im Jahr 2001. Sie beinhalten eine Reihe von wesentlichen Punkten. Zunächst wird die Solidarisierung mit Widerstandsbewegungen im Ausland zu einer illegalen Handlung erklärt. 25 Organisationen, die außerhalb Großbritanniens aktiv sind, werden ebenfalls für illegal erklärt. Der zweite wichtige Punkt ist, dass Terrorismus so breit gefasst wird, das praktisch jede von der offiziellen Regierungsposition abweichende Ansicht in diese Definition hineinpassen würde. Das ist also eine klare Attacke auf politische Opposition. Gemeinden von nationalen Minderheiten werden kriminalisiert. Ein Ergebnis dieses Gesetzes war, dass nun die Polizei das Recht hat, jede beliebige Person auf der Straße aufzuhalten und zu durchsuchen, die ihr verdächtig vorkommt. Und tatsächlich sind Tausende von jungen Männern im ganzen Land aufgehalten, durchsucht, verhaftet, eingeschüchtert und auch belästigt worden. Eine kürzlich erschienene Statistik besagt, dass in jedem sechsten moslemischen Haushalt eine Person auf diese Art und Weise aufgehalten und belästigt wurde. Sie können daran ablesen, wie breit diese Vollmachten dazu verwendet werden um unsere jungen Leute einzuschüchtern.
Unsere Position gegenüber unseren Jugendlichen war immer, dass dir nichts passieren wird, wenn du das Gesetz beachtest. Doch nun sagen unsere Jugendlichen zu Recht: „Ich habe doch gar nichts gemacht und wurde trotzdem aufgehalten und durchsucht.“ Unter unseren jungen Leuten macht sich immer mehr ein Gefühl der Erniedrigung breit.
Bezeichnend ist auch, dass jedes Mal, wenn eine Gruppe junger Moslems verhaftet wird, das groß in allen Medien erscheint. Wenn sie aber drei Tage später wieder freikommen, erfährt das niemand. Damit wird unter der Bevölkerung der Eindruck erweckt, dass jeder junge Moslem auf der Straße ein potentieller Terrorist ist. Die gleiche Situation hatten wir in den 70er Jahren mit den irischen Leuten. Es gab einige Fälle, dass Iren verhaftet und später auch verurteilt wurden, auf Grundlage falscher Polizeiaussagen, nur weil irgendwo irgendetwas passiert war. Die jungen Iren blieben unter Umständen für viele Jahre im Gefängnis.
Heute werden viele Tausende von jungen Muslimen aufgehalten und durchsucht, aber nur einige wenige Hunderte verhaftet. Die Verurteilten sind wiederum nur eine Handvoll. Die Statistiken besagen auch, dass diese wenigen Verhaftungen in den allermeisten Fällen auch durch geheimdienstliche Nachforschungen hätten zustande kommen können. Es ist nicht notwendig dafür die gesamte muslimische Gemeinde zu kriminalisieren und zu dämonisieren.
Ein Ergebnis dieser Kampagnen ist ein rapides Anwachsen der Islamfeindlichkeit, die insbesondere seit dem Beginn des Krieges gegen den Irak stark ist. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass die Antiterrorismusgesetze gegen die islamische Gemeinde benützt wurden, um den Krieg gegen den Irak zu rechtfertigen. Es ging auch darum Stimmung zu machen als eine Art Rückversicherung für die Regierung. Falls im Irak irgendetwas schief gehen sollte, so könnte man so dennoch versichern, dass die Gewaltanwendung notwendig war, da es sich bei den Moslems um extrem gefährliche Menschen handelt. So erfüllen diese Gesetze zwei Funktionen: Erstens wird eine Gruppe von Menschen als Feind abgestempelt und zweitens kann dadurch beim Rest der Bevölkerung die eigene Politik besser verkauft werden. Ein Nebeneffekt war auch, dass die gesamte Bewegung für die demokratischen Grundrechte in Großbritannien eingeschüchtert wurde. Um ein Beispiel zu nennen: Als einige Aktivisten gegen eine Waffenschau demonstrierten, wurden sie auf Grundlage der Antiterrorismusgesetzgebung verhaftet. Man fragt sich natürlich, was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Man hört, dass vielen der moslemischen Verhafteten ihre demokratischen Rechte vorenthalten werden, z. B. dass ihre Familie nicht von ihrer Verhaftung informiert wird und sie nicht mit ihren Anwälten sprechen dürfen.
In Großbritannien gibt es meines Wissens dreizehn oder vierzehn Moslems, die ohne Anklage auf unbestimmte Zeit inhaftiert wurden. Als die Antiterrorismusgesetzgebung verabschiedet wurde, wollte die Regierung einige Verhaftungen von Ausländern vornehmen, doch die Europäische Menschenrechtskonvention besagt, dass niemand ohne Anklage verhaftet und ohne Gerichtsverfahren gefangen gehalten werden darf. Die britische Regierung hat daher den Ausnahmezustand erklärt. In Großbritannien gibt es natürlich keine Ausnahmesituation, das Leben geht normal weiter wie zuvor, doch der Ausnahmezustand erlaubte es der Regierung einen Großteil der Bestimmungen der Menschenrechtskonvention außer Kraft zu setzen. Es gibt daher diese Fälle, dass sich Menschen in Haft befinden, ohne zu wissen, wessen sie angeklagt sind und ohne dass ihre Familien wissen, ob sie jemals wieder lebend das Gefängnis verlassen werden. Und alle diese Inhaftierten sind Moslems. Das verstärkt natürlich den Eindruck unter unseren jungen Leuten, dass es sich nicht um einen Krieg gegen den Terrorismus handelt, sondern um einen Krieg gegen den Islam und gegen die Moslems.
Man kann davon sprechen, dass wir unser Mini-Guantánamo in Großbritannien haben, abgesehen davon, dass auch einige Mitglieder unserer Gemeinde tatsächlich in Guantánamo sind, die ohne Anklage verhaftet wurden und im Grunde nicht wissen, warum sie dort sind. Vier Guantánamo-Häftlinge wurden bisher freigelassen und sie haben die Zustände und die Behandlung dort als grauenhaft und unvorstellbar beschrieben. Folter war an der Tagesordnung und oft wurden falsche Aussagen unter Folter erpresst. Es kam vor, dass später durch Zufall einige dieser erpressten Aussagen untersucht wurden und es sich herausstellte, dass die Inhaftierten die ihnen zur Last gelegten Verbrechen niemals begangen hatten.
Wie war die Reaktion der islamischen Gemeinde in Großbritannien auf das französische Gesetz, welches das moslemische Kopftuch in öffentlichen Schulen verbietet?
In Großbritannien gibt es keinerlei Restriktion des Rechtes von moslemischen Frauen, ein Kopftuch in der Schule, an der Universität oder am Arbeitsplatz zu tragen. Wir betrachten es als das Recht der Frauen zu entscheiden, ob sie ein Kopftuch tragen möchten oder nicht. Die moslemische Gemeinde in Großbritannien ist daher besorgt über die französische Gesetzgebung und sieht darin eine massive Einschränkung der demokratischen Grundrechte muslimischer Frauen.
Das Moslemische Parlament ist seit dem 11. September Teil der britischen Antikriegsbewegung. Wie wurde der Angriff auf den Irak und der so genannte internationale Krieg gegen den Terror in der moslemischen Gemeinde aufgenommen?
Wir nahmen am Gründungstreffen der späteren Antikriegskoalition teil. Wir haben uns nach dem 11. September gegen die Taliban-Regierung in Afghanistan und gegen al-Qa…‘ida ausgesprochen, haben aber vehement die Invasion von Afghanistan durch amerikanische Streitkräfte verurteilt. Unserer Ansicht nach hatte diese Invasion nichts mit einem wie auch immer gearteten Krieg gegen den Terrorismus zu tun, sondern es ging darum die Kontrolle über die Öl- und Gasvorkommen in Zentralasien zu erlangen.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion versuchen die USA eine monopolare Weltordnung aufzubauen und selbst die Rolle der alleinigen Supermacht zu übernehmen. Die Neokonservativen in den USA scheinen den Zeitpunkt gekommen zu sehen, die Welt im Namen der Interessen amerikanischer Großkonzerne zu erobern und auszubeuten. Zu diesem Zweck müssen natürlich die wichtigsten Ölvorkommen kontrolliert werden.
Darüber hinaus ist die Kontrolle über Zentralasien auch aus strategischen Gründen für die USA wichtig, um ein Auge auf China, Indien und Russland zu haben. Natürlich können somit auch alle potentiellen Rivalen von den wichtigen Ölquellen in Zentralasien und im Irak ferngehalten werden. Insgesamt kann man diesen Krieg als Versuch bezeichnen, das Schicksal der Menschheit zu kontrollieren.
Wir haben uns seit Beginn an allen Aktivitäten der Antikriegskoalition beteiligt. Das war nicht bei allen moslemischen Organisationen so. Zwei Tage vor Beginn der Invasion in Afghanistan lud der britische Premierminister Tony Blair alle moslemischen Organisationen zu einem Tee ein. Er war schlau genug, irgendwo ein Blatt Papier herumliegen zu lassen, das diese Organisationen unterschreiben sollten, die natürlich keine Ahnung davon hatten, dass der Angriff bevorstand. Auf diesem Blatt stand geschrieben, dass sie jede Handlung der britischen Regierung unterstützen würden, die notwenig sei, um den Terrorismus zu bekämpfen und ähnliche Dinge. Zwei Tage später fielen die Bomben und diese Organisationen erkannten, dass sie getäuscht worden waren. Zum Glück war das Moslemische Parlament nicht in die Falle gegangen, wir waren diesem Besuch bei Blair ferngeblieben und beteiligten uns stattdessen am Aufbau der Antikriegskoalition. Es war diese Bewegung, welche die moslemischen Organisationen unter Druck setzte und sie darauf hinwies, dass sie einen Fehler begangen hatten. Aufgrund dieses großen Druck schlossen sie schließlich alle moslemischen Organisationen der Antikriegsbewegung an. Der Druck kam auch von innen, von den Basismitgliedern dieser Organisationen.
Für uns war es das erste Mal, dass wir uns im politischen Bereich engagierten und wir haben uns auch dazu entschlossen, um unseren jungen Leuten die Möglichkeit zu geben ihrem Ärger und ihrer Enttäuschung auf legale Weise Luft zu machen. In den letzten Jahren haben sich viele tausend Menschen uns angeschlossen.
US-amerikanische moslemische Organisation beklagen wiederholt antiislamischen Rassismus innerhalb der Antikriegsbewegung. Haben Sie damit auch in Großbritannien zu kämpfen?
Als die ersten Demonstrationen in London stattfanden, waren alle über die zahlreiche Beteiligung der Moslems überrascht. Es dauert eine Weile, bis sich die Linke an die veränderte Situation gewöhnt hatte. Immerhin hatte die Linke mit diesen Leuten, die nun kamen um sich an ihren Mobilisierungen zu beteiligen, nie Kontakt gehabt. Es gibt natürlich viele Diskussionen, einige Strömungen der Linken hatten allerlei Einwände gegen Teilorganisationen der islamischen Gemeinde, weil diese in der Vergangenheit Verbindungen zu islamistischen Organisationen im arabischen Raum gehabt hatten. Doch letztendlich war der Linken klar, dass man die moslemischen Gemeinde nicht aus der Bewegung ausschließen konnte. Alle würden es für falsch halten, Menschen, die sich der Bewegung anschließen möchten, die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Danke für das Gespräch.