Im Juni 2002 begann die Regierung Baraks mit dem Bau einer „Grenzmauer“ in den von Israel besetzten Gebiet. Als Rechtfertigung werden Sicherheitsgründe genannt. Selbstmordattentäter sollen keine Chance haben, nach Israel zu kommen. Die Fakten des Mauerbaus zeigen aber die wahre Intention: Höchstens elf Prozent verlaufen identisch mit der „grünen Linie“, der Waffenstillstandslinie von 1967. Die Mauer wird rund 687 Kilometer lang sein, und damit doppelt so lang wie die grüne Linie. Mindestens 14,5 Prozent des Westjordanlandes (ohne Ost-Jerusalem) wird de facto von Israel annektiert. Sie wird sich bis zu 16 Kilometer tief in palästinensisches Land hineinschlängeln. Genauere Angaben sind schwierig, da sich offizielle israelische Stellen mit Informationen zurückhalten.
Sicher ist, dass dies die größte Enteignungsaktion von PalästinenserInnen seit 1967 ist. Bei der Wahl der Route wurde darauf geachtet, dass möglichst viele der illegal in Palästina errichteten Siedlungen auf der israelischen Seite liegen. Ungefähr 142000 jüdische Siedler, das sind 63 Prozent der Siedlerpopulation, werden so nach Israel „transferiert“. Auf der anderen Seite werden über 160000 Menschen in zwölf Enklaven, die von allen Seiten von der Apartheidmauer umgeben sind, eingeschlossen sein. Ost-Jerusalem, das kulturelle und religiöse Zentrum Palästinas, wird für alle arabischen Nichtbewohner Jerusalems unerreichbar werden. Stattdessen wird es dort einen israelischen Korridor, gesichert durch Mauer und Siedlungen, nach Jordanien geben.
Die wahren Gründe für den Mauerbau dürften somit Land- und Wasserraub (Nordwestpalästina ist neben dem Jordantal die wasserreichste Gegend von Israel/Palästina), der Wunsch viele Siedlungen „israelisch“ zu machen und Jerusalem als rein israelische Hauptstadt sein. Sie dient nicht der Sicherheit, sie ist kein Beitrag zum Frieden. Im Gegenteil, durch die Mauer und die rund 150 illegalen Siedlungen wird die Aufteilung Palästinas in „Bantustans“, voneinander getrennte Gebiete, in denen PalästinenserInnen leben „dürfen“, vorangetrieben.
Die Apartheidmauer ist neben den Checkpoints, den unzähligen Straßenblockaden, den Ausgangssperren, der Haft ohne Gerichtsverfahren u.a. ein weiteres Mittel zur Unterdrückung der PalästinenserInnen, ein weiteres Mittel zur Vertiefung der Besatzung. Die erste Phase, die im April 2003 abgeschlossen wurde, zeigt, welches Ausmaß die Zerstörung, die nur die PalästinenserInnen tragen müssen, die Mauer mit sich bringt. 145 Kilometer im Norden, von Zubaba bei Jenin bis Masha im Salfit-Bezirk, wurden fertiggestellt. Das macht in etwa ein Fünftel der Gesamtlänge aus. 122000 Dunum (vier Dunum entspricht einem Hektar) liegen nun zwischen der Mauer und der grünen Linie. Dreißig Kilometer Wasserleitungen wurden zerstört, 102320 Bäume gefällt und nur für den Weg der Mauer wurden 14680 Dunum konfisziert.
Allein in Nazlet `Isa wurden 250 Geschäfte und sieben Häuser zerstört, sieben Häuser liegen jetzt auf der anderen Seite der Mauer. In Bethlehem wurde ein 1500 Jahre altes Kloster beschädigt, in Ar-Ram musste eine Waisenschule schließen, da 95 Prozent der LehrerInnen und SchülerInnen auf der anderen Seite der Mauer wohnen. In Beit Awwa wird die Mauer durch den örtlichen Friedhof verlaufen. Qalqilia, eine Stadt mit 40000 Einwohner, ist von allen Seiten von der Mauer umgeben und wurde so in eine Gefängnisstadt verwandelt. Zugang haben die Bewohner nur durch eine Straße im Osten, auf der israelische Soldaten einen Checkpoint errichtet haben.
Von den Verteidigern dieser Mauer ist oft zu hören, dass bloß ein kleiner Teil der Mauer wirklich eine Mauer ist. Die Mauer hat tatsächlich verschiedene Formen, undurchdringbar ist sie überall. In Qalqilia z.B. ist es eine acht Meter hohe tatsächliche Mauer, gesichert mit Wachtürmen und Videokameras, welche die Leute einsperrt. Auf unbebautem Gebiet besteht die Mauer aus zwei Reihen Stacheldraht, einem mit Strom geladenen Zaun, einer geteerten Strasse nur für Militärfahrzeuge, Überwachungskameras und feinen Sand, damit Fußspuren sichtbar werden. Die ganze Anlage ist vierzig bis hundert Meter breit. Alle paar Meter sind Schilder angebracht, die das Land als militärisches Sperrgebiet ausweisen und jeden, der sich nähert, warnen, dass dieser sein Leben gefährdet. Ein Kilometer dieser Hochsicherheitsanlage kostet unglaubliche zwei Millionen US-Dollar!
Trotz der existenzbedrohenden Tatsachen begann sich erst rund ein halbes Jahr nach Beginn des Mauerbaus eine Protestbewegung zu formieren. Dieser Widerstand ist gewaltlos, oft werden direkte Aktionen und Demonstrationen von palästinensischen, israelischen und internationalen Aktivisten gemeinsam gemacht. So versuchen Menschen etwa die Arbeiten an der Mauer aufzuhalten, indem sie sich Bulldozern in den Weg stellen. Oder sie seilen sich an von Abriss gefährdeten Häuser an und machen Sit-ins bei bedrohten Bäumen. Obwohl die Mauer sich unaufhaltsam immer weiter ins palästinensische Land hineinfrisst, gibt es für die Demonstranten einige Teilerfolge: In Jayyous konnte der Bau für ca. einen Monat aufgehalten werden. In Masha wurde rund dreieinhalb Monate lang ein Friedenscamp abgehalten, in dem Palästinenser, Israelis und Internationale gemeinsam gegen die Mauer protestierten. Ein akut vom Abriss gefährdetes Wohnhaus konnte so gerettet werden. In Budrus gab es in drei Monaten über vierzig Demonstrationen. So konnte der Bau nicht nur aufgehalten, sondern auch der Landraub durch die Mauer minimiert werden.
Doch Soldaten und Grenzpolizei reagieren hart auf die Demonstrationen. Sie verwenden Soundbomben, Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition, um den Mauerbau voranzutreiben. Sie schrecken selbst vor Mord nicht zurück: So wurden bei Protesten in Biddu fünf Menschen und in Beitunya ein 19-jähriger Junge erschossen, in Masha wurden einem israelischen Anarchisten zweimal gezielt in die Beine geschossen.
Doch der Widerstand geht weiter, nicht nur dort, wo die Mauer gebaut wird, sondern auch dort, wo sie schon steht. Diesen Sommer wurde ein „Freedom March“ organisiert, bei dem PalästinenserInnen, Israelis und Internationale gemeinsam entlang der Mauer marschierten, demonstrierten und Aktionen durchführen. Einen anderen Erfolg konnten die PalästinenserInnen vor dem Internationalen Gerichtshof am 23. Februar in Den Haag erzielen. Dieser entschied, dass die Mauer illegal ist. Israel müsste sie laut Gerichtsbeschluss niederreißen und die Opfer zu entschädigen. Die internationale Staatengemeinschaft ist aufgefordert, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um das Verbrechen des Mauerbaus zu verhindern.
Die Wirklichkeit schaut aber anders aus: Israel erkennt den Gerichtsbeschluss nicht an und ein Großteil der Welt schweigt dazu. Palästina bleibt als Opfer allein, obwohl es internationalen Schutz und Solidarität dringendst benötigt.
Franz Bortenschlager
Franz Bortenschlager lebt in Linz und verbrachte drei Monate als Aktivist in Palästina.