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Operation „Tage der Buße“

4. Januar 2005

Die israelische Militäroffensive im Gazastreifen

Am 29. September 2004 begann eine der schlimmsten Militäroffensiven der letzten Jahre im ohnehin schon seit längerem abgeriegelten und ausgehungerten Gazastreifen. Am 16. Oktober wurde sie offiziell für erfolgreich abgeschlossen erklärt. Unmittelbar darauf rückten Truppen im Süden gegen Rafah und gegen Khan Younis vor, wo bei einem einzigen israelischen Angriff zwölf Palästinenser getötet und fünfzig verletzt wurden. Der Alltag der Besatzung geht weiter – nach „mission accomplished“.

Tage der Sühne? Tage der Buße? Wofür mussten die Palästinenser im Gazastreifen büßen? Unmittelbarer Anlass war der Abschuss einer Kassam-Rakete auf die israelische Stadt Sederot, bei der zwei Kinder getötet wurden. Der Angriff auf Sederot muss im Kontext der Besatzung gesehen werden – als Teil des legitimen Kampfes gegen diese. Der Tod der beiden Kinder, der so traurig und bedauernswert ist wie der Tod von Zivilisten im Krieg überhaupt, wurde der Weltöffentlichkeit jedoch als singuläres Ereignis präsentiert, als Akt des Terrorismus, um jedes nachfolgende Mittel der Rache zu rechtfertigen, denn Kinder dürfen nicht getötet werden.
Kinder dürfen nicht getötet werden? In den 17 Tagen der Militäroffensive, in Gazas „Rotem Oktober“, wurden über 140 Palästinenser getötet, unter ihnen nach offiziellen israelischen Angaben zehn Kinder unter vierzehn Jahren. (Die israelische Tageszeitung Ha´aretz berichtet am 17.10.2004 von über dreißig getöteten Kindern.) Ist dies eine andere Kategorie von Kindern, deren Tod als „Kollateralschaden“ abgehakt werden kann? Nur wenige Tage nach dem Angriff auf Sederot, am 30. September, wurden acht palästinensische Kinder unter siebzehn getötet, als eine Panzergranate in eine überfüllte Straße abgefeuert wurde. „Eine Granate aus der Entfernung von nur wenigen Metern abzufeuern ist zur Gewohnheit geworden, legitim und ganz gefechtsmäßig, denn jene, die die Granaten abschießen, sind Israelis, geschützt in ihren Panzern, und die Ziele sind Palästinenser in ihren nackten Betonhäusern.“ (Amira Hass in der Ha´aretz vom 13.10.2004)
Ein israelischer Offizier stellte öffentlich in einer Fernsehdiskussion fest: „Alles was sich in der Zone (der Gefahrenzone) bewegt, und sei es ein dreijähriges Kind, muss getötet werden.“ (Aljazeera Net, 28.11. 2004) Was eine Gefahrenzone ist, ist nicht immer bekannt. Wann immer es den Soldaten opportun erscheint, können sie jedes Gebiet zur „closed military area“ erklären, die dann eine Gefahrenzone darstellt.

Am 5. Oktober wurde das verwundet am Boden liegende 13jährige palästinensische Mädchen Iman Alhamas aus nächster Nähe von einem israelischen Soldaten mit mehreren Schüssen getötet. Der Fall wurde von einer Untersuchungskommission der israelischen Armee behandelt, die zu dem Ergebnis kam, der Offizier habe „nicht unethisch gehandelt“. Dazu schreibt Gideon Levy in der Ha´aretz vom 17.10.2004: „Das Töten von Kindern ist nichts Besonderes mehr. … Mehr als dreißig palästinensische Kinder wurden in den ersten beiden Wochen der Operation „Days of Penitence“ im Gazastreifen [von israelischen Soldaten] getötet.“

Das Flüchtlingslager Jabaliya sowie die benachbarten Orte Beit Lahija und Beit Hanoun waren das Zentrum der Offensive, um einen neun Kilometer breiten Korridor – so weit reichen die Kassam-Raketen – an der Grenze zu Israel zu schaffen. Mit 60-Tonnen-Panzern und Apache-Hubschraubern ging die Armee zwei Wochen lang im Dauereinsatz gegen die 110.000 Einwohner von Jabaliya (eines der dicht besiedeltsten Gebiete der Erde) vor. Wer anders kann hier Opfer sein als Kinder, Zivilisten, Flüchtlinge, von denen viele in diesen Tagen des Terrors wieder zu Flüchtlingen gemacht wurden?
17 Tage lang waren etwa 50 000 Menschen von der Außenwelt abgeschnitten, also auch von der Versorgung mit Lebensmitteln, von Elektrizität und teilweise auch von Trinkwasser. Wie die UNO mitteilte, sind 91 Gebäude, in denen 143 Familien wohnten, zerstört worden und mehr als vierhundert beschädigt. Mehr als 90 Prozent der Betroffenen sind Flüchtlinge. Sie erhöhen die Zahl der Palästinenser, deren Häuser während der wenigen Jahre der gegenwärtigen Intifada dem Erdboden gleich gemacht wurden. Laut UNO sind 17 594 Menschen bis zum Mai 2004 Opfer dieser Zerstörungen geworden.
Die Frankfurter Rundschau lässt Said Abunon stellvertretend für viele in einem Artikel mit der Überschrift „Kein Stein steht mehr auf dem anderen“ vom 19.10.2004 zu Wort kommen: „Es war schlimmer als die Vertreibung von 1948. … Damals waren wir nur vier Leute. Heute sind wir zwanzig in meiner Familie und haben wieder alles verloren.“

Der Abzugsplan Israels aus dem Gazastreifen

Vor dem Hintergrund dieses Terrors und der Zerstörungen wurde von der Sharon-Regierung ein Abzugsplan präsentiert, der der Welt den guten Willen Israels auf dem Weg zum Frieden mit den Palästinensern demonstrieren soll.
Was ist der Inhalt dieses Plans? Die Siedlungen im Gazastreifen (und als symbolische Geste drei kleine unwichtige Siedlungen im Norden des Westjordanlandes) sollen aufgelöst werden, die Armee soll sich zurückziehen und den Gazastreifen den Palästinensern überlassen. Da dies oberflächlich betrachtet den Forderungen der israelischen Friedensbewegung nach Rückzug aus den besetzten Gebieten entspricht, unterstützen Teile der Friedensbewegung Sharons Plan. Für sie wäre die Maßnahme, 8200 Siedler aus dem Gazastreifen zu entfernen und somit 21 Siedlungen aufzulösen, ein Schritt in die richtige Richtung.
Unter der Oberfläche jedoch geht der Plan in eine gefährliche Richtung. An die vierzig Prozent der besetzten Gebiete insgesamt sind heute von Siedlungen und Siedlerstraßen, den „bypasses“, durchzogen und von Israel faktisch schon zu Israel gemacht worden. Es ist völkerrechtswidrig geraubtes Land, hauptsächlich im Westjordanland, wo der Großteil der 236 000 Siedler lebt. Die Siedlungen im Gazastreifen machen nur 1,5 Prozent aus, ein Anteil, der im Sinne des größeren Plans geopfert werden könnte. Abgekoppelt von Friedensverhandlungen und der Frage der Besatzung des Westjordanlandes könnte die isolierte Entscheidung über den Gazastreifen letztendlich verheerende Folgen für die Palästinenser haben. Denn Sharons Entwurf, ganz (oder fast ganz) Erez Israel in einen jüdischen Staat zu verwandeln, vom Jordan bis zum Mittelmeer, könnte hinter der Bühne des Abzugs aus dem Gazastreifen voran getrieben werden – mit der Zementierung des bisherigen Landraubs im Westjordanland und verstärkter Vertreibung der Menschen dort. Wenn man sich ansieht, wie schnell dieser Prozess in den Jahren seit Beginn des Baus der Apartheidmauer im Jahre 2002 vorangeschritten ist, kann man erahnen, was ein bis zwei Jahre Aufmerksamkeit für Israels „gute Absichten“ im Gazastreifen für die Landnahme im Westjordanland bedeuten könnten.

Für den Gazastreifen selbst beinhaltet der Abzugsplan folgendes:
Die israelische Armee wird an der Philadelphi-Achse als einer Barriere zwischen dem Gazastreifen und Ägypten festhalten und als Besatzungsmacht – denn das bleibt sie für Palästina nach wie vor – die Grenzen, die Küste und den Luftraum des Gazastreifens kontrollieren. Dadurch wird Israel auch die ökonomische und politische Kontrolle behalten. Im Bedarfsfall können jederzeit auch militärische Einsätze stattfinden, wenn es die „Sicherheit“ Israels erfordert. Weiters sieht der Plan Häuserzerstörungen an der Grenze zu Ägyten vor, wenn es erforderlich sein sollte die Bufferzone zu vergrößern. Seit 2000 wurden hier 1600 Häuser zerstört und es gibt Forderungen in der israelischen Regierung die Bufferzone zu verdoppeln. Das würde die Zerstörung eines Drittels des Flüchtlingslagers von Rafah bedeuten (Human Rights Watch, 29.10.2004).
Sharons Abzugsplan ändert also nichts an der entscheidenden Frage der Kontrolle über das Leben der Palästinenser – Israel will sie behalten und über die Hintertür des Abzugsplans aus dem Gazastreifen die militärische Besatzung im Westjordanland festschreiben.

Elisabeth Lindner-Riegler

Elisabeth Lindner-Riegler ist Aktivistin der Antiimperialistischen Koordination in Wien.

 

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