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Eine neue Organisation im Irak

23. Januar 2005

von Aug und Ohr

Die Nationale Konferenz für einen Unabhängigen und Freien Irak entstand unter der Führung von Scheich Jawad al Khalisi am 8. Mai 2004 auf einer dichtbesuchten Veranstaltung in einem Hotel in Bagdad. Dieses Sammelprojekt unterstützt den bewaffneten Widerstandskampf, versteht sich aber in erster Linie als politische Plattform gehen die Besatzung. An ihr sind Akademiker, Intellektuelle, Freiberufliche, Stammesführer, Vertreter politischer und religiöser Organisationen sowie eine Reihe von Exponenten des arabischen Nationalismus (1) beteiligt. Khalisi war 2003 nach 23 Jahren Exil zurückgekehrt und hat sich vom Tag seiner Rückkehr an für den Aufbau der Organisation eingesetzt.

Die Konferenz wird durch Personen geprägt, die entweder gegenüber der Regierung Saddam Hussein eine unabhängige Position vertraten oder zu ihr in radikaler Opposition standen und die gleichzeitig gegen das Embargo und die amerikanische Besatzung sind. Bei der in der nächsten Zeit geplanten politischen Basisarbeit – Flugblattaktionen und Versammlungen in Moscheen wird systematisch darauf Wert gelegt werden, schiitische, sunnitische und laizistische Kräfte zusammenzuführen. Die Aktivitäten sollen quer durch die (von den Amerikanern forcierten) ethnischen und religiösen Trennlinien gehen (2).

Großes Gewicht hat in der irakischen Gesellschaft, daß es sich bei Jawad al Khalisi um den Enkel von Mahdi al Khalisi handelt, einer Schlüsselfigur des antiimperialistischen Widerstands gegen die Engländer im Jahre 1920.

Moqtada al Sadr hat der Organisation seine Unterstützung ausgesprochen, gehört ihr aber formal nicht an (2).

Kluge und deutliche Worte

In einem Interview mit Stefano Chiarini vom manifesto bezeichnet Jawad al Khalisi (3) die gegen die Besatzung gerichteten militärischen Aktionen offen und unmißverständlich als „völlig legitim“. Wahlen seien erst dann möglich, wenn die Regierung Allawi abgesetzt sei. In den Tagen vor Weihnachten sprach Khalisi auf Einladung der „Italienisch-Irakischen Freundschaftsgesellschaft“ auf einer Reihe von Veranstaltungen in Italien.

„Man kann keine echten Wahlen abhalten, wenn vorher kein Prozeß der nationalen Einigung stattgefunden hat, und der ist undenkbar ohne den Rücktritt der Regierung Allawi und die Bildung einer Übergangsregierung, die das Vertrauen der Bevölkerung besitzt und für die Wahlen verbindliche Kriterien aufstellt, die die Akzeptanz aller finden.“ stellt Khalisi gegenüber dem manifesto fest. (4)

Auf die Frage, welche Bedingungen er für die Teilnahme an den Wahlen gestellt habe, antwortet Khalisi:

„Einfach die, dass es sich um freie und transparente Wahlen handelt, an der alle unter der Aufsicht glaubhafter internationaler arabischer und moslemischer Organisationen teilnehmen können. Daß die militärischen Operationen gegen irakische Städte eingestellt werden und sich die Truppen aus den Städten zurückziehen.“

Was dann auf dem „flachen Land“ passieren soll, darüber äußert er sich nicht (5).

Gegenüber der Regierung Allawi verteidigt er jedoch ein striktes Unvereinbarkeitsprinzip: „Wir lehnen es ab, bei Institutionen mitzuwirken, die direkt oder indirekt von den Amerikanern ins Leben gerufen worden sind und ebenso, mit der proamerikanischen Regierung Beziehungen aufzunehmen. Der erste Punkt unseres Programms sieht denn auch die Abschaffung aller Gesetze, Normen und Einrichtungen vor, die nicht vom irakischen Volk beschlossen wurden.“

„Ist im Irak eine authentische Widerstandsbewegung am Werk oder handelt es sich um terroristische Akte?“ lautet eine weitere Frage Stefano Chiarinis.

„Es besteht kein Zweifel, daß wir es mit einem Widerstandskampf auf breiter Basis zu tun haben, der sich in sei´s aktiver sei´s passiver Form gegen die Besatzung richtet, andererseits aber auch mit Aktionsformen suspekter Terrorgruppen, die von den USA unterstützt werden und deren Aufgabe es ist, klare Fronten zu verwischen und dem Widerstandskampf Schaden zuzufügen.“

Auf die berühmte Frage (der auch Stefano Chiarini – wohlbewußt – nicht ausweicht), was denn im Falle des Abzugs der Besatzer auf das Land zukäme, ob denn dann nicht ein Bürgerkrieg ausbrechen würde, stellt er kategorisch fest:

„Der Bürgerkrieg, die Gewalt, der Terrorismus haben erst mit der Ankunft der Besatzer ihren Aufschwung genommen und werden bei ihrem Abzug zum großen Teil wieder enden. Wir sind bereit, unsere Verantwortung zu übernehmen. Eine echte irakische Polizei und ein echtes irakisches Heer könnten in wenigen Tagen die Ordnung wiederherstellen, denn sie würden sich auf das Vertrauen des Volkes stützen.“ Und dann meint er: „Und schließlich besteht nach wie vor die Möglichkeit eines Einsatzes von UNO Truppen.“

Keine interessante Entwicklung, in der nicht auch etwas Faules ist.

„Was sollte in den kommenden Monaten geschehen?“

„Das irakische Volk will eine Verstärkung des Widerstandskampfes in allen seinen Formen, auf der bewaffneten, völlig legitimen, und auf der politischen Ebene, die unser Bereich ist. Dann werden sich die Vereinigten Staaten entscheiden müssen: Entweder sie ziehen einseitig ab, oder sie nehmen Verhandlungen mit denjenigen auf, die reell das irakische Volk vertreten. Weitere Optionen gibt es nicht.“

Es wird sich in Bälde zeigen, daß die gemäßigte europäische Linke versuchen wird, fundamentale Anliegen dieser neuen politischen Formation zu instrumentalisieren und zu verwässern.

Überlegungen

Eine Großfraktion der irakischen Bourgeoisie hat also eine in nuce Konstituierende Nationalversammlung gegründet. Ein proletarisches Forum ist es nicht. In ihr haben sich bürgerliche Kräfte aller Schattierungen gesammelt. Zu diesem Zweck wurde auch eine Reihe von Ideologen aufgeboten denn jede Klasse braucht ihre Ideologen.

Es sind zum großen Teil – aber nicht nur – moslemische Ideologen. Die drei Haupttendenzen der Konferenz werden durch die panarabische Irakische Nationalpartei, die von Exilbaathisten geprägte Demokratische Reformpartei und die wichtige Vereinigung Moslemischer Gelehrter gekennzeichnet (6). Das bedeutet Zusammenarbeit von Kräften, die auf die größten Traditionen der arabischen Völker zurückblicken können und sie durch den Kampf – möglicherweise – erneuern werden. Unter den Sprechern finden sich hochstehende humanistische Persönlichkeiten, die auf gewachsene intellektuelle und politische Traditionen zurückblicken können (7) und deren ernstes und messerscharfes gegen die Amerikaner gerichtetes Urteil anerkannt werden muß, im Falle der moslemischen Geistlichen auch von Laizisten und Linken.

Allen diesen Kräften sind drei Grundforderungen gemein:

1. Kollaborateure, im religiösen wie laizistischen Bereich, sind weitgehend ferngehalten und ausgeschlossen

2. Sie sind gegen die Besatzer und sprechen sich für deren (weitgehenden) Abzug aus

3. Sie erkennen, als politische Sammelbewegung, den bewaffneten Widerstandskampf an: implizit räumen sie damit ein, daß er die Vorbedingung für die umfassende wirtschaftliche, politische und kulturelle Souveränität ist, die sie zu ihrem Hauptthema gemacht haben.

Der verschwundene Abduljabbar Al Kubaysi ist einer der unbestechlichsten und schärfsten Analysts. Wenn er von einer indirekten US-Steuerung spricht, so muß doch gesagt werden, dass der Gesamtcharakter der Kräfteakkumulation, wie sie sich in der Konferenz präsentiert, doch durch eine widerständige Dynamik gekennzeichnet ist im Sinne der radikalen Widererringung nationaler Souveränität – also einer Politik, die quer zu den Interessen der Amerikaner steht.

Es ist allerdings durchaus denkbar, dass die USA sich ihr entgegengesetzter Kräfte zu bedienen versucht und eine völlig neue Camouflagepolitik initiiert. Keine Aufstandsbewegung, die von der Reaktion nicht verschmutzt wird! Es sollte zumindest geklärt werden, ob das Andockmanöver zu Beginn des Projekts oder im Verlaufe seiner Entwicklung stattfand. Die Behauptung Al Kubaysis bleibt bis dato abstrakt.

Gravierender allerdings ist der Vorwurf der Präsenz Chalabi- und Talabani affiner Kräfte. Da müsste es die Aufgabe der radikalen Linken sein, wenn so etwas geortet wird, darauf zu bestehen, daß diese Kräfte entfernt werden, und wenn dies nicht gelingt, müssen sie die Konferenz bloßstellen.

Das Thema Fremdsteuerung ist sehr ernst, braucht uns aber nicht zu verblüffen. Auch zu Ende des Zweiten Weltkrieges haben die US amerikanischen Geheimdienste die nicht-kommunistischen Flügel der europäischen Widerstandsbewegungen infiltriert, gesteuert, neutralisiert, wenn sie sie nicht geschaffen haben.

Die radikale Linke in den Metropolen muß also abwägen zwischen diesen und anderen verschmutzenden Elementen und der Generaltendenz. Faktum ist, dass die antiimperialistische Linke sich jetzt auf eine sehr große Versammlung von Kräften stützen kann, die das offen aussprechen, was sie selbst bald nach Beginn des Widerstandskampfes in den Metropolen als erste und isoliert zu formulieren wagte, nämlich das Gebot der Solidarität mit dem bewaffneten Widerstand im Irak.

Der Terror-EU wird es schwerfallen, die Konferenz auf die Schwarze Liste zu setzen, und es wird ihr schwerfallen, die zu kriminalisieren, die sich mit ihr bedingt solidarisieren.

Aufgabe der radikalen (kommunistischen) Linken muß es sein, lebendige, humane, progressive Kräfte auch im Lager des bürgerlichen nationalen Widerstands auszumachen – aber das muß nicht notwendigerweise im Widerspruch stehen zur Anfangsoption für die Irakische Patriotische Allianz, und in ihr wiederum für die kommunistischen Erneuerer, die sich gegen die verräterische IKP (die Irakische Kommunistische Partei (8) ) stellen, die mit dem Geschäftsmann Baier verbunden ist, wie wir alle wissen.

Es kann sein, daß dieser Versuch einer Einschätzung morgen schon nichts mehr gilt, denn die Dinge sind im Fluß. Morgen kann es schon sein, dass diese Konferenz (nicht nur, wie bereits jetzt schon, von den moderaten (ex)kommunistischen Parteien Europas, sondern auch) von den Sozialdemokraten umarmt und erstickt wird.

Was bürgerlich ist, das fällt um. Die sogenannte Sozialistische Internationale hatte bereits auf einem Riesenkongreß in Rom alle Spitzenleute der früheren irakischen Quisling-Regierung eingeladen und damit eindeutig und unwiderruflich dokumentiert, dass die Sozialdemokratie auf der Seite des Völkermords steht.

Ebenso ist sie fähig, neuentstehenden Bewegungen den Kopf abzuschlagen, wie wir am Beispiel der Sozialforenbewegung sehen können.

Derzeit aber scheint die Konferenz ein bedingter Verbündeter der radikalen Irak-Solidarität zu sein.

Aug und Ohr
Gegeninformationsinitiative

(1) Nach der Einschätzung Al-Kubaysis, des Führers der Irakischen Patriotischen Allianz, wäre die Initiative durch Kräfte getrübt, die mit Talabani oder Chalabi kollaborieren. Es handle sich außerdem um eine Operation des Königs von Bahrain im Dienste der USA. (Willi Langthaler: Aufstand und Volksmacht in Falludscha: Wer unterstützt den Widerstand im Irak? Interview mit Abduljabbar Al Kubaysi, Vorsitzender der Irakischen Patriotischen Allianz (IPA), junge Welt, 22. 5. 2004
http://www.jungewelt.de/2004/05-22/018.php

(2) Stefano Chiarini: Chi sono Jawad al Khalisi e il suo movimento, manifesto, 19. 12. 2004

(3) Betonung auf der ersten Silbe; das kh wird etwa wie deutsches ch ausgesprochen

(4) Stefano Chiarin: Iraq: vincere una battaglia e perdere una guerra, il manifesto, 19. 12. 2004
(5) Es soll aber nicht aktiv gegen diejenigen vorgegangen werden, die sich an der Wahl beteiligen: „Wir haben das irakische Volk dazu aufgefordert, die Wahlfarce vom 30. Januar zu boykottieren, gleichzeitig aber lassen wir all jenen freie Hand, die wählen möchten. Wir wollen nämlich den USA keine Möglichkeit bieten, politische, ethnische und konfessionelle Gruppen gegeneinander auszuspielen. Ihr Ziel ist nicht die Meinungsfreiheit, sondern die Legitimierung der Besatzung. Sie wollen den Gegensatz, der heute zwischen dem irakischen Volk und den Besatzern besteht, in die irakische Bevölkerung hineintragen.“ (4).Vgl. dazu den Text des Wahlboykotts: Statement by the Iraqi National Foundation Congress on the Elections, 15. 10. 2004 (http://www.idao.org/INFC-elections.html). – Iraqi National Foundation Congress ist ein Synonym für National Conference for an Independent and Unified Iraq.
Die Entscheidung, die Wahl zu boykottieren, ist das Resultat eines langen Prozesses, der noch nicht ganz abgeschlossen ist. In einem Interview mit Jonathan Steele vom Guardian sagte Scheich Khalisi im Juli des vergangenen Jahres noch wörtlich: „An den Wahlen im Januar werden wir jedenfalls teilnehmen.“ (Jonathan Steele: A peaceful alternative for Iraq, Taipeh Times, 20. 7. 2004). In einer Erklärung vom 3. November werden, parallel zum bereits erfolgten Boykottaufruf, als Voraussetzung für die Teilnahme an den – von den US-Besatzern geplanten – Wahlen weitgehende Forderungen aufgestellt Unter anderem soll eine unabhängige Wahlkommission eingerichtet werden, die Besatzungstruppen sollen mindestens einen Monat vor den Wahlen vollständig aus den Städten zurückgezogen werden, alle politischen Gefangenen müssen freigelassen werden. (Joachim Guilliard: „Vermittlung abgelehnt“, junge Welt, 10. 11. 2004, www.jungewelt.de/2004/11-10/005.php – 22k; Genaueres unter: Iraqi National Found!
ation Congress statement on elections (http://deadmenleft.blogspot.com/2004/11/iraqi-national-foundation-congress.html).
(6) vgl. Karl Vick: Battle Near, Iraqi Sunnis Make Offer, Washington Post, 6. 11. 2004 In diesem Artikel werden auch die beinahe durchgehend ablehnenden, zum kleinen Teil aber auch instrumentalisierenden Reaktionen der US-Amerikaner beschrieben.

(7) Eine detaillierte Charakterisierung der politischen Kräfte, aus denen die Konferenz zusammengesetzt ist, findet sich bei: Occupation Watch, The National Conference for an Independent and Unified Iraq
http://www.occupationwatch.org/article.php?id=3534

(8) vgl. hiezu:

Aug und Ohr: Zweiter Offener Brief an die KPÖ 28 8. 2003
http://austria.indymedia.org/newswire/display/29049/index.php

Aug und Ohr: Über die letzten Lügen der Volksstimme, 29.10.2003 http://ch.indymedia.org/itmix/2003/10/15202.shtml

Rede von Ahmed Karim zum Widerstand, 6.11.2003
http://switzerland.indymedia.org/de/2003/11/15363.shtml

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