von Aug und Ohr, Gegeninformationsinitiative
Anschließend an das 3. Internationale Symposium gegen Isolation, das vom 15. bis zum 18. Dezember in Berlin stattfand, gab es in Kreuzberg im IKAD (Verein gegen Rassismus und Völkerverständigung) eine Nachbesprechung. Bei dieser Gelegenheit berichtete Rechtsanwalt Pöll von der ersten Verhandlungsrunde im Schauprozeß gegen die radikale türkische Linke, die vom 25. 10. bis zum 5. 11. 2004 in Istanbul stattfand und der er mit anderen internationalen Beobachtern beiwohnte.
Die Schilderung vermittelt einen guten Einblick in die tagtägliche Realität bei türkischen Gerichtsverhandlungen.
Was bisher geschah.
Begonnen hatte alles mit einer der größten Polizeiaktionen der letzten Jahre, die am 1. April 2004, zwischen Europa und der Türkei koordiniert, sich über den ganzen Mega-Polizei-Staat Europa ausdehnte. Von der großkontinentalen Razzia waren türkische wie europäische Linke betroffen. (1)
Bei dieser „Operation 1. April“, die bis heute andauert, wurden in der Türkei insgesamt 64 Personen verhaftet. Am 25. 10. begann in Istanbul ein Sammelprozeß. Zu Beginn der Verhandlungen waren noch 42 Menschen in Haft, darunter 15 Frauen. Von denen, die bereits am 1. April festgenommen worden waren, waren zu Prozeßbeginn immer noch 21 in Haft, dies also bereits 7 Monate lang!
RA Martin Pöll war mit einer insgesamt 20-köpfigen Delegation bei diesem Scheinprozeß als Beobachter anwesend und ist zur Schlußfolgerung gelangt, dass die dort gehandhabte Praxis mit einem rechtsstaatlichen Verfahren nichts zu tun hat. An diesem Prozeß werde klar, dass die Rechtspraxis in der Türkei nicht den Anforderungen entspreche, die von Europa an die Türkei gerichtet werden, insbesondere nicht den politischen Kopenhagener Kriterien, die als Voraussetzung für einen EU-Beitritt der Türkei „institutionelle Stabilität, demokratische und rechtstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte“ einfordern.
Während der ersten vier Prozesstage fand die Anhörung statt. Am 5. 11. wurden 19 Personen freigelassen, 23 blieben in Haft. Eine weitere Verhandlungsrunde war für den 11. Februar 2005 angesetzt. An eben diesem Tag mußte die Angehörigenorganisation Tayad mitteilen, dass die Verhandlung erneut verschoben wurde – nunmehr auf den 16. Mai.
Die amerikanische Festung
RA Pöll berichtet:
„Wir kamen in der Früh zum Gericht, und unser erster Eindruck war der einer amerikanischen Festung. Vor dem Gericht befanden sich sehr viele Soldaten mit Maschinenpistolen und automatischen Gewehren, was auf die Diskussionsteilnehmer und die vor Ort anwesenden Leute, die ihre Solidarität bekunden wollten, eine einschüchternde Wirkung hatte.
Darüber hinaus wurden alle Anwesenden, sowohl die, die das Gerichtsgebäude betreten wollten, als auch die, die mit Transparenten davor standen, von der Polizei gefilmt.
Beim Betreten des Gerichtsgebäudes wurden wir untersucht, Taschen, Rucksäcke mussten geöffnet werden. Personalausweise, Reisedokumente mussten bei der Polizei abgegeben werden, wobei wir mit Sicherheit davon ausgehen konnten, dass die Reisedokumente photokopiert und aufgrund dieser Materialien Namenslisten angelegt werden.
Beamter kollabierte in einem Gerichtssaal ohne Fenster.
Der Gerichtssaal war für derartige Massenverfahren viel zu klein, es gab keine Entlüftung und keine Fenster.
Nach kurzer Zeit war aufgrund der vielen Anwesenden die Luft nicht mehr zu ertragen, was dazu führte, dass einer der Polizeibeamten zusammenbrach.
Kein ausreichender Platz. Einspruch der Verteidiger blieb unbeachtet.
Die Angeklagten, die Gefangenen waren durch zwei Reihen Polizei eingekesselt, sodaß wir als Zuschauer mit den Angeklagten kaum visuellen Kontakt hatten. Obwohl das Gericht von den Verteidigern darauf aufmerksam gemacht wurde, dass am Prozeß ein großes öffentliches Interesse vorhanden war, wurde den Prozeßbeobachtern nicht genügend Raum zur Verfügung gestellt.
Bei 42 Angeklagten war nur Platz für 15 bis 18 Zuschauer.
Angehörige wurden ausgesperrt.
Am 5. 11., dem letzten Prozesstag, wollte das Gericht den Angehörigen den Zutritt verwehren, nur Beobachter sollten hinein dürfen. Das konnte nicht durchgehalten werden, nachdem wir kurzerhand viele Angehörige zu Delegationsteilnehmern ernannt hatten.
Angeklagte wurden gefoltert.
Zu Beginn nahmen die Angeklagten zu den Vorwürfen Stellung. Die Anklage wurde von allen als Konstrukt zurückgewiesen. Alle Angeklagten berichteten ausnahmslos von Folter in verschiedenen Formen durch die Polizei.
Es geht bei diesem Prozeß um Namenslisten, die auf Disketten aufscheinen. Die Angeklagten berichten, dass sie bei der Vernehmung von der Polizei gezwungen wurden, diese Listen zu unterschreiben und dass sie, als sie das verweigerten, gefoltert wurden.
Die Nachricht, daß gefoltert wurde, hat das Gericht überhaupt nicht interessiert. Das merkte man daran, daß es keinerlei Nachfragen seitens des Gerichts gab.
Beweismittel wurden nicht vorgelegt.
Ein weiterer Punkt ist, dass diese Disketten – genaugenommen – nicht existieren. Die Verteidigung hat lediglich Ausdrucke erhalten, keine Disketten oder Kopien von Disketten.
Schmutzige Tricks.
Im Vorfeld dieses Prozesses war von der Verteidigung der Antrag gestellt worden, diese Disketten einsehen zu dürfen. Seitens des Gerichts hieß es zunächst, auch dort sei man an den Disketten interessiert, man werde sie beim Prozeß ansehen können. Als diese Disketten immer noch nicht vorlagen, wurde seitens der Verteidigung nachgefragt, wo sich die Disketten befänden. Die nunmehrige Antwort des Gerichts: Es sei nicht möglich, sie zu sehen, sie hätten keine Disketten, sie wüssten auch nicht, wo die Disketten seien.
Daraufhin wurde der Antrag gestellt, alle Angeklagten freizulassen, da keine Beweismittel vorhanden seien.
Vom Nichtvorhandensein der Disketten zeigte das Gericht sich schließlich derart überrascht, dass beschlossen wurde, den Prozeß bis zum 11. Februar zu unterbrechen (3).
Mit Teilentlassungen versucht das Gericht sein Gesicht zu wahren.
Es wurde dann doch ein Teil der Angeklagten, 19 Personen, freigelassen. Davon wurde aber mindestens eine Frau in der Nacht von der Polizei wieder festgenommen und dann wieder freigelassen. Mir ist nicht bekannt, wie lange sie festgenommen war.
Es finden sich auf den Ausdrucken mehrere inhaltliche Anhaltspunkte dafür, dass es sich um gefälschte Disketten handelt. Aber darüber ist bereits ausführlich berichtet worden. Ich werde daher nicht im Detail darauf eingehen (2).
Aus Angst vor Repression wehren sich türkische Anwälte nicht
gegen die Einschränkung ihrer Rechte.
Außerdem ist zu berichten, dass durch die bereits geschilderte Enge im Saal nicht nur eine breitere Öffentlichkeit verhindert wurde, sondern nicht einmal genügend Platz für Anwälte vorhanden war. Es war keineswegs gewährleistet, dass alle Anwälte beim Prozeß jederzeit anwesend sein konnten.
Nach unserem Eindruck hat das mit einem rechtsstaatlichen Verfahren überhaupt nichts zu tun. Man kann das bestenfalls mit einem Schauprozeß vergleichen.
Etwas noch zu dem Klima, das bei derartigen Gerichtsverhandlungen herrscht. Das Problem mit den zu kleinen Räumen hatten die Anwälte schon vorher dem Gericht mitgeteilt. Worauf ich die Verteidiger etwas verwundert gefragt habe, warum es denn bei Gericht keine weiteren Proteste gebe. Darauf wurde geantwortet: Man würde sich so was nicht trauen, denn dies hätte Repressalien zur Folge.
Was soll das für ein Prozeß sein, wenn die Anwälte sich nicht einmal trauen, ihre Rechte wahrzunehmen?“
Soweit Rechtsanwalt Pöll über den „EU-kompatiblen“ Schauprozeß in Istanbul.
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In der darauffolgenden Diskussion konnten einige Punkte vertieft werden.
Angst der Angehörigen vor Repression.
So berichtet Pöll auf eine Frage, was die Reaktion der Delegation war, als sich zeigte, dass die Angehörigen keinen Platz mehr fanden, dass die Angehörigen meinten, die Präsenz der Beobachter sei noch wichtiger. Außerdem aber fürchte man, dass sich etwaige Proteste auf die Angehörigen auswirken könnten.
Die Präsenz der Beobachter schien das Gericht überhaupt nicht zu beeindrucken. „Sie haben uns überhaupt nicht beachtet“, so Pöll. Ein türkischer Anwalt berichtet. „Einer dieser Richter hat grundsätzlich bei den Verhandlungen immer geschlafen; diesmal ist er wach gewesen. Das ist immerhin ein Erfolg eurer Delegation!“
Ob die Anwälte sich nur für diese Verhandlung zusammengeschlossen hätten, lautete eine weitere Frage.. RA Pöll: „Ich gehe davon aus, dass europaweit ein weiterer Austausch stattfindet … Ich war nicht in der Türkei, um einmal hinzufahren und es dann fallenzulassen.“
Sitzstreik gegen Teilnahmeverbot; Symposiumsteilnehmer an der Ausreise gehindert.
Ein weiterer Teilnehmer berichtet, dass ein Sitzstreik unternommen wurde gegen die Weigerung, alle zur Versammlung zu lassen. Es kam zu einer Auseinandersetzung mit der Polizei, aber es sei ein Befehl gekommen, nicht einzugreifen. Die Demonstranten wurden eingekesselt, es folgte eine Straßenblockade, sie wurden angebrüllt.
Ein Aktivist sei übrigens auf dem Weg nach Deutschland zum dreitägigen Symposium gegen Isolation am Flughafen in der Türkei aufgehalten worden. Ihm sei der Paß abgenommen worden, und als Argument dienten auch hier die gefälschten Disketten.
Manipulierung der Disketten
Zum Diskettenkonstrukt wird weiters betont, dass die Disketten nach der Untersuchung ans Gericht hätten weitergeleitet werden sollen, was aber nicht geschah.
Obwohl diese Disketten nicht ausgefolgt werden, werden dauernd Leute mit Hilfe dieses Konstrukts verhaftet.
Es wurden Dokumente versiegelt, und als sie aufgemacht wurden, konnte man sehen, dass etwa in Umschlägen, die mit der Aufschrift „Kulturzentrum“ versehen waren, sich die Unterklagen über Tayad (die Angehörigenvereinigung) befanden. Es war ein unglaubliches Chaos, nichts passte zusammen.
Daß diese Dokumente außerhalb jeglicher Kontrolle geöffnet wurden, wurde schließlich von Gericht bestätigt.
Istanbul, rechtsfreier Raum.
Ein Aktivist bemerkte hierzu: „Es ist wichtig, dass ihr wisst, dass nicht nur in Istanbul, sondern auch in anderen Städten so verfahren wird. In den anderen Städten lehnen die Richter das aber ab. In Istanbul herrscht politische Willkür. Wir befinden uns hier ausschließlich in einer politischen Dimension.“
RA Pöll betonte in diesem Zusammenhang, es seien zu Beginn die Rechtsanwälte gewesen, die daraufhin gewiesen hatten, dass es sich um gefälschte Dokumente handelt, als Beweismittel seien sie nicht zulässig. Aber jetzt befinden wir uns in einem Stadium, in dem das gerichtskundig ist. Der Gerichtsentscheid, mit dem die Öffnung der Dokumente verurteilt wurde, ist von eben dem Richter getroffen worden, der die Verhandlung leitet.
Die EU-Anpassungsgesetze (3) ermöglichen den Einsatz von ungesetzlichen Mitteln und die Verstärkung der Repression. Wir unternahmen alle denkbaren Anstrengungen, dieses Komplott aufzudecken. Es ist wichtig, außerhalb der Türkei mit Gruppen und Organisationen zusammenzuarbeiten, hieß es schließlich im Publikum.
In der Türkei wurden zehntausende Flugblätter über die Operation 1. April verteilt.
In Europa, dem Kontinent, aus dem das Isolations- und Folter-Know-How stammt, müßten es Hundertausende sein, meint AuO.
Aug und Ohr, Gegeninformationsinitiative
(1) Vgl. auch: Euro-türkischer Terror, 2 4. 2004, http://at.indymedia.org/newswire/display_any/41350
Euro-türkischer Terror! 2. Teil, 14 4. 2004, http://at.indymedia.org/newswire/display/42010/index.php
(2) Martin Pöll: Bericht der Istanbuldelegation, 11. 11. 2004, www.tayad.de/deutsch/Library/de_2004_11_11-1.htm
sowie insbesondere die Dokumentation des Tayad-(Angehörigen)Komitees: „In der Türkei gibt es kein Recht!“, o. D.
(3) Eine griffige Formulierung! Diese Gesetze versuchen, Teil- und Scheindemokratisierungen einzuleiten. So sind zum Beispiel die Kompetenzen des Nationalen Sicherheitsrates etwas reduziert worden., statt dass dieses diktatorische Organ endlich abgeschafft wird. Ein weiteres Beispiel sind die Reformen im Vereinsrecht. Das Strafmaß etwa bei Verbotsverfahren wird herabgesetzt. Wie sieht aber die Realität aus? Politisch Vereine werden verwüstet, ihre Aktivisten gefoltert oder ermordet. So sehen die EU-Anpassungsgesetze aus. Vgl. etwa: Konrad-Adenauer-Stiftung: Das 7. EU-Anpassungspaket
http://www.kas.de/druckansicht/dokument_druck.php?dokument_id=2298