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Wie Menschen in der Türkei zu Terroristen gemacht werden

8. April 2005

Am Beginn der Operation 1. April stand eine Erpressung!

Die Operation 1. April ist nichts als eine Aufeinanderfolge schmutziger und grober Tricks.. Schon am 17. Februar 2004 begann´s mit einem klassischen Polizeimanöver. Ein (auch namentlich bekannter) Jugendlicher wurde beim Anbringen von Plakaten der Angehörigenorganisation Tayad festgenommen. Diese Organisation existiert seit 19 Jahren, war also bereits kurze Zeit nach dem Putsch von 1980 aktiv. Sie ist dementsprechend weit bekannt, und beim Plakatieren helfen auch Leute, die keineswegs Aktivisten politischer Organisationen sind oder eine bestimmte politische Funktion innehaben. So war es auch bei diesem Jugendlichen. Wenn er in einer Dokumentation von Tayad (1) als „gewöhnlicher“ Jugendlicher bezeichnet wird, dann ist dies nicht als Abqualifizierung zu verstehen, sondern zielt auf die breite Beteiligung und Popularität des gut organisierten Vereins Tayad.

Dieser Jugendliche wurde von der Polizei unter Druck gesetzt, ihm wurde eine Liste von 148 Namen vorgesetzt, die er unterschreiben sollte. „Wenn du nicht unterschreibst, was wir dir angeben, dann bleibst du jahrelang im Knast, wir werden was gegen dich aufstellen, wir bringen dich um, wir hängen dich auf, wir radieren dich aus!“ Die Sprache der Exekutive eines Betrittslands. Wie der Zufall es wollte, umfasste die Liste mit den 148 Namen ausgerechnet die Crà¨me de la Crà¨me der Aktivisten und Vereine im menschenrechtlichen Bereich.

Was ist ein Verein?

Verein (dernek) ist vielleicht eine mißverständliche Übersetzung, das türkische Wort wird für progressive Anwaltsbüros, Menschenrechtsorganisationen, politische Dokumentationszentren verwendet oder auch für politische Kulturvereine, ist also von Vereinsmeierei oder fader Inzucht meilenweit entfernt. Natürlich ist uns das Wort auch von den zahlreichen Vereinen der türkischen Faschisten oder der islamistischen Rechten bekannt, von denen die Großstädte Europas wimmeln und die insgesamt an den türkischen Geheimdienst MIT, somit an die Interessen und die Nachrichtentätigkeit des türkischen Staates, angebunden sind.

In unserem Fall aber sind die Vereine und ihre Aktivisten eine andere Kategorie. Sie sind gegen das Regime, als zivile und, wie immer wieder betont werden muß, legale Organisationen, aber als regimegegnerisch Kräfte werden sie – wie in einer klassischen Diktatur – dem terroristischen Bereich zugeordnet. Es darf nichts existieren außerhalb des Kemalismus und seiner – in begrenztem Ausmaße wandelbaren – Oligarchien. Dass keine der im Verlauf der Operation 1. April kriminalisierten „Vereine“ (dernegi) auf irgendeiner der Schwarzen Listen stand, darauf sollte besonders hingewiesen werden.. In der Türkei werden Menschenrechtsorganisationen und Journalisten zu Terroristen. Die kriminalisierende Sonderbehandlung wird nur von den türkischen Behörden durchgezogen.

Die Aussagen des erpressten Jugendlichen wurden unter anderem dazu verwendet, Tekin Tangün, den Vorsitzenden des Tayad- (Angehörigenvereins) , also eine Person an der leitenden Stelle einer der wertvollsten und erfahrensten Organisationen der Türkei aus dem Verkehr zu ziehen.. Die Organisation Tayad deckt Misshandlung und Folter auf und soll zumindest, wenn sie nicht zum Schweigen gebracht werden kann, organisatorisch und personell geschwächt werden. Wie eine x-beliebige Mafiabande, so übt der türkische Staat „Rache“ an zivilen Organisationen.

Der jugendliche Helfer wird zu jemandem gemacht, der enorme organisatorische Kenntnisse hat und zahlreiche Personen kennt. „xx wurde zu jemandem gemacht, der jeden namentlich kennt. Sein Gedächtnis konnte schon mit Computern konkurrieren. .. Durch … (ihn) wird geradezu eine Organisation erschaffen und hinterher wird … (er) als die Person präsentiert, die Geständnisse ablegt“ vermerkt Tayad mit einer gewissen satirischen Verve, die bei politischem und humanitärem Engagement in der Türkei unweigerlich aufkommen muß.

Die Methode der türkischen Polizei ist so alt wie dreckig.

Die Razzia am 1.April fand lediglich gegen legale Institutionen statt. Daß ein politisches Präjudiz stattfand, erhellt daraus, daß bereits vor dem 1. April in der Türkei eine riesige Hetzkampagne gegen „Terroristen“ gestartet worden war. Die „Beweise“ allerdings, die manipulierten oder vollständig fingierten Disketten, wurden erst am 1. April beschlagnahmt und zwei Tage später, am 3. April, der Justiz übermittelt. Der politische Wille ist älter gewesen als der justizielle.

Auf diese Weise konnte man legale Menschenrechtsorganisationen und legale Presseorgane mit einer Organisation in eins setzen, die ein spezifisches und sehr weitgehendes Ziel verfolgt, nämlich die Oligarchie (und Neo-Oligarchie), die Gladio und den Einfluß der Amerikaner und insbesondere die türkische Mafia, deren Transportkanäle von Afghanistan über Wien bis nach Westeuropa reichen, auszuschalten und in der Türkei eine sozialistische Gesellschaft zu errichten. Ein allzu hochgestecktes Ziel.

Die so sehr europäische Türkei will uns weismachen, daß der – ja in Europa entstandene – Sozialismus in der Türkei.(die sich zu Europa zählt) nichts zu sagen hat.

Mit einem trickreichen und gleichzeitig primitiven Vorgehen werden diese zivilen Organisationen vorverurteilt und unters Terrorismusverdikt gestellt. Im polizeilichen Untersuchungsbericht vom 4. 4. 2004 rekurriert die Polizei auf vorangegangene Vorverurteilungen der Aufgelisteten. Was waren dies für Verurteilungen? Sie ergingen ausnahmslos wegen Teilnahme an legalen Aktionen. Dies wurde damals bereits als Staatsfeindlichkeit ausgelegt, und das damalige politische Präjudiz dient nun zur Rechtfertigung und Befestigung der im Verlauf der Aktion 1. April neuerlich ausgesprochenen Terrorverdikte. Etwas wird als terroristisch erklärt, die Vorverurteilung wird in der Presse und der manipulierten „öffentlichen“ Meinung bewußtseinsindustriell verfestigt und bei einem politischen Neuangriff wird auf den bereits bekannten terroristischen Charakter der Subjekte zurückgegriffen. Wer einmal Terrorist war, wird wohl auch dieses Mal terroristische Aktionen gesetzt haben. Ein unseriöses und widerrechtliches Verfahren.

Corpora delicti sind eine Reihe von vorgeblichen Mitteilungen zwischen AktivistInnen politischer und kultureller Organisationen.

Indizien für eine Fälschung

In der Folge wollen wir einige Hauptindizien, die auf massive Fälschungen hinweisen, zusammenfassen:

1. Der Inhalt zweier Dokumente ist beinahe identisch.

Dies läßt daran Zweifel aufkommen, daß mit der nötigen (und in einem Rechtsstaat vorauszusetzenden) Sorgfalt vorgegangen wurde. Zwei der vorgelegten „Dokumente“ sind tatsächlich miteinander identisch, mit der Ausnahme eines Elements, das in einem der Dokumente fehlt. Eine Nachlässigkeit, die zu korrigieren man sich nicht die Mühe macht! Dieses Vorgehen ist nichts als eine Art hastiges Schnellverfahren, das, fern von aller Professionalität, eine zweite, verborgene Message transportiert, die man mit folgenden Worten zusammenfassen könnte: „Wir machen uns nicht die Mühe, uns erst um Beweise zu kümmern. Unser Gegner ist so verächtlich, daß es uns auf eine korrekte Beweisführung nicht ankommt.“ Damit wird der Inkulpierte seiner Bürgerrechte entledigt und verhöhnt.

2. Willkürlich Getipptes ist in ähnlicher Fassung an mehreren Stellen aufzufinden.

Daß im Widerspruch zum vorgetäuschten reellen Einzelcharakter der Kommunikationen eine einzige Hand die Texte fabriziert, respektive weitgehend ummoduliert haben dürfte, darauf weist auch eine Reihe von Buchstaben hin, die am Rande von je zwei Diskettentexten stehen. Man kann dabei beobachten, daß in unterschiedlichen Textzusammenhängen fast dieselben Buchstaben auftauchen, so als ob sie – im Rahmen eines eingeschliffenen Reflexes – überall von einander selben Person getippt worden wären. Der Polizei zufolge wären dies bloß Sigel, die dazu dienen, der Dechiffrierung vorzubeugen.

3. Ständig angeführte Zuordnung von bürgerlichen Namen und politischen Decknamen.

Das stärkste Indiz für die Fälschung der Disketten ist, daß in den Mitteilungen der Vertreter politischer Organisationen sowohl Vornamen als auch Nachnamen politischer AktivistInnen völlig offen erwähnt werden – als müßten politische Organisationen in der Türkei nicht in jeglicher Situation darauf bedacht sein, der Polizei möglichst keine Einzelpersonen zuzuordnen Daten zu liefern!°

In einigen Fällen wird zusätzlich zu den Vor- und Nachnamen noch der Drittname angeführt, ein zwar offizieller und in der Geburtsurkunde angeführter, aber in den entsprechenden Fällen weder von Verwandten und Freunden gebrauchter und schon gar nicht in der Nachbarschaft und im sozialen Umfeld bekannter. Im politischen Bereich vermeidet man tunlichst eine derartige „Aufblattelung“ einer reellen Person. Sollte dies der Polizei nicht bekannt sein? Ist es denkbar, daß eine Person, die der radikal staatskritischen Opposition angehört, derart ausführlich und sorglos kommuniziert? Seit Aufkommen der Affaire Echelon wissen wir, daß sämtliche politisch relevanten E-Mails europaweit abgesaugt werden, in einer britischen Zentrale gesammelt und von dort an die US-amerikanische NSA weitergeleitet werden. Sollte dies für politische Kommunikation in der politisch äußerst „sensiblen“ Region, der die Türkei angehört, nicht gelten?

Es liegt die Vermutung nahe, daß die überdeutliche Nennung von Namen bloß eine möglichst eindeutige Identifizierung sichern soll. Das ist wohl die verborgene Hauptfunktion des Diskettenmanövers. Die Dokumente sind gefälscht und dienen als Instrumente der gesellschaftlichen Vernichtung.

Die These des Fälschungscharakters der Dokumente wird noch durch einige weitere, häufig auftretende Defizite bekräftigt.

4. Kommunikative Dürftigkeit versus Namens-Abundanz.

Zahlreiche Dokumente haben in sich selbst keine Konsistenz, sind inhaltlich nicht nur inkohärent, sondern durch und durch völlig sinnwidrig angelegt. So werden in eine Reihe von messages formelhafte Versatzstücke eingebaut, um den Charakter operativer Geschäftigkeit zu suggerieren. Es werden etwa in drei voneinander unterschiedlichen Dokumenten Berichte „über den letzen Stand“ angefordert, jeweils aus den Stadtvierteln, von einer Jugendorganisation und von Tayad, dem Angehörigenverein. Also von allem, was kriminalisiert werden soll.

Dabei fällt auf, daß keine Dokumente vorliegen, in denen denn tatsächlich Informationen „über den letzten Stand“ geliefert werden. Allerdings werden in diesen Anfragen „zum letzten Stand“ Vorsitzenden, Mitgliedern und Aktivisten politischer Vereine bestimmte Aufgaben zuerteilt, und das bietet wiederum die Möglichkeit, eine Reihe von konkreten Personen komplett mit Vor- und Nachnamen aufzulisten.

Die jeweils zu Beginn der jeweiligen Nachricht stehende inhaltliche Kennzeichnung („Zum letzten Stand“) hat kein inhaltliches Korrelat. Die „Botschaft“ erweist sich als das, was sie ist: als eine Proskriptionsliste.

5. Offene Zuordnung politischer Decknamen zu bürgerlichen Namen in vorgeblich politischen Mitteilungen.

Selbst politische Decknamen werden in diesen Dokumenten angeführt und reellen Namen zugeordnet. In einigen Dokumenten tauchen allerdings Namen auf, von denen von Anfang an nicht klar ist, ob sie reelle Namen oder Pseudonyme sind.

Bei politischen JournalistInnen in leitender Stellung aber wird mit aufsehenerregender Offenheit verfahren. Ausgerechnet der mit Namen angeführten Chefredakteurin der Zeitschrift Ekmek ve Adalet (von den derzeit in der Türkei insgesamt 19 inhaftierten Journalistinnen sind drei von Ekmek ve Adalet, einer davon ist in kompletter Isolation , wird auf einer Diskettenbotschaft ein Pseudonym zugeordnet. Stellt eine Organisation ihre eigenen Leute auf solche Weise bloß?

Dieser mit Namen und Pseudonym angeführten Chefredakteurin werden wiederum auf einer Diskettenbotschaft die Pseudonyme einer Reihe von konkret mit ihren offiziellen Namen angeführten Einzelpersonen mitgeteilt.

Kann irgendein Jurist Europas glauben, daß es sich hier um authentische und unverändert belassene Botschaften von Organisationen der radikalen Linken handelt? Diese Diskkette – wenn sie schon von realen AktivistInnen an die reale Chefredakteurin geschickt worden wäre – hätte von ihr außerdem – wenn sie denn tatsächlich erst, wie behauptet, in der Redaktion aufgefunden worden wäre – monatelang archiviert werden müssen, bis zum Zeitpunkt der von der Polizei verkündeten Auffindung.

Kann man sich vorstellen, daß die Chefredakteurin einer in einem so sensiblen Bereich aktiven Zeitschrift der radikalen Linken so extrem nachlässig verfährt und eine Fülle von internen Informationen unbekümmert längere Zeit in ihrer Redaktion lagert?

Wir dürften hier ein gigantisches Polizei-Konstrukt vor uns haben – und dieser Meinung sind auch die Anwälte, die der ersten Verhandlungsrunde im vergangenen Jahr beiwohnten. Was daran besonders krass auffällt, ist die Schamlosigkeit, die sich nicht einmal die Mühe macht, das stümperhafte Vorgehen wenigstens ein bißchen zu kaschieren. Es soll wohl so stümperhaft bleiben wie es ist.

Wird damit nicht signalisiert, daß für diese Justiz das Prinzip „Rechtsstaatlichkeit“ völlig irrelevant ist? In der Grobheit der Fälschung drückt sich der Hohn, der Haß und die machtbesoffene Verachtung gegenüber der eigenen Bevölkerung aus. Es wird von der „Justiz“ klar bedeutet, daß dem polizeilich-militärischen Kern des kemalistischen Staates Gewaltenteilung nichts gilt und demokratische Kontrolle am besten nicht existieren sollte. Das Istanbuler Diskettenkonstrukt ist der Beweis dafür, daß die Türkei nur eine mühsam aufgeputzte Diktatur ist.

Wer mit den Kriterien Recht und Gerechtigkeit die Legitimität der Diktatur in Frage stellt, der wird zum Terroristen, zur Terroristin erklärt. Deshalb ist Sandra im Gefängnis.

(1) In der Türkei gibt es kein Recht, Tayad-Kommitee, o. J. (1994)

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