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Al-Bassa, das verlorene Dorf meines Vaters

5. Mai 2005

von Abu Shawki

Palästina vor 1948: Al Bassa ist die nordwestlichste Stadt des Landes und liegt schon knapp vor der Grenze zum Libanon. Zu Fuß erreicht man leicht Ras el Naqura; das ist genau der Punkt am Meer, an dem der Libanon sich mit Palästina trifft. Wenn man aus der Stadt nach Norden sieht, sieht man die Berge die man el Jabal el mushaqah nennt – sie sind wie von Menschenhand vom Tal bis zum Gipfel gespalten und wenn man auf der anderen Seite hinuntergeht, ist man schon im Libanon. „Früher gingen die Leute über die Grenze, einfach so – nur um sich mit Freunden zu treffen… Auf einen Abend,“ erzählt mir mein Vater über seine alte Heimat. Die Grenze, über die die Menschen vor 60 Jahren noch gingen um einen Abend oder ein Wochenende im Nachbarland zu verbringen, wird heute nicht einmal mehr von einem einfachen Brief oder Telefonat überquert. Sie ist seit 57 Jahren geschlossen.
Mit etwa viertausend Einwohnern im Jahr 1948 war Al Bassa ein typisches kleines Dorf: Es gab dort zwei Moscheen, zwei Kirchen, einen Marktplatz, ein paar Cafehäuser und Restaurants, zwei Schulen und ansonsten bloß einfache Wohnhäuser. Die Menschen waren meist in der Landwirtschaft tätig: Das kleine Dorf war besonders bekannt für den Anbau von Feigen, Mandeln und vor allem Olivenbäumen. Diese über hundert Jahre alten Bäume wurden 1948 nach der „Naqba“ (1) alle aus dem Boden gerissen und durch Bananenplantagen ersetzt.
Vor dem Jahr 1948 lebten dort Araber gemeinsam mit Juden. Der Boden war nach dem selbstverständlichen Prinzip des Eigentums geteilt und keiner versuchte den Anderen zu vertreiben. Der Boden Al Bassas war ungefähr zu 13% jüdisches und zu 85% arabisches Eigentum (2% öffentliches Eigentum). Man konnte tatsächlich von einem friedlichen Zusammenleben von Moslems, Christen und Juden sprechen. Mein Vater erzählt mir, dass die Juden zwar ein paar Kilometer außerhalb des Zentrums in drei nebeneinanderliegenden eigenen kleinen Siedlungen lebten, aber dass es nie wirkliche Probleme zwischen ihnen und den Arabern gab. Obwohl jede dieser Siedlungen bewaffnet war, gab es immer freundliche, ja sogar teilweise freundschaftliche Kontakte zu den Arabern. Als sich Gerüchte darüber breit machten, was wir heute „Al Nakba“ – die Katastrophe nennen, bot man sich sogar gegenseitige Hilfe an – diese wurde als es soweit war, dann doch nicht durchgesetzt.
Als wir vor einigen Jahren nach Palästina fuhren, nahm mich mein Vater mit an den Ort von dem wir sprechen – Al Bassa. Eine der beiden Kirchen war noch erstaunlich gut erhalten. Die andere ist so gut wie nicht mehr existent. Ein Haufen Steine, die noch irgendwie aufeinander stehen. Eine der Moscheen erkennt man an ihrer Kuppel noch als solche; von einem Dorf kann man aber nicht mehr sprechen. An vielen Stellen des ehemaligen Stadtzentrums wächst Unkraut, ausgetrocknete Pflanzen im staubigen Sand. Die Straße, die mein Vater jeden Tag zur Schule ging ist noch irgendwie als Straße identifizierbar, die Schule selbst allerdings nicht. Seit der Flucht 1948 hat dort niemand mehr gewohnt. Die zionistischen Immigranten ließen sich erst Jahre später ein paar Kilometer weiter nieder – noch auf dem Boden, der zu Bassa gehört. Heute heißt dieser Ort Schlomi. Manche Häuser sind aber doch ziemlich nah zum alten Stadtzentrum, so dass die heutigen Einwohner von Schlomi von ihren Häusern aus auf die Zerstörung blicken können, die der Preis dafür war, dass sie heute dort leben können. Fragen sie sich überhaupt, was diese alten Häuser denn sind, oder sehen sie einfach darüber hinweg? Wenn sie wissen, was sich dort abgespielt hat, wie können sie dann noch dort leben wollen? Die traurige Wahrheit ist leider, dass sie es alle wissen; man hat ihnen aber beigebracht, dass es eine heilige Mission ist, dieses Land zu besiedeln – sie halten das scheinbar für richtig.
„Hier stand unser Haus.“ Mein Vater erinnerte sich noch sehr gut an alles. Er sprach von vielen Details, von denen man heute überhaupt nichts mehr erkennen konnte. Dann erzählte er mir irgendwann vom Tag, an dem sie geflüchtet sind. Schon vor der offiziellen Ausrufung des Staates Israel am 15. Mai 1948 war Al Bassa, so wie die meisten anderen Dörfer, fast leergeräumt. Die Familie meines Vaters floh am 21. April 1948, keine zwei Wochen nach dem bekannten Massaker von Deir Yassin am 10. April. In dieser Stadt in der Nähe von Jerusalem ereignete sich an diesem Tag ein so schreckliches und beängstigendes Blutbad, dass die Leute im ganzen Land daraufhin ihre Familien nahmen und einfach flüchteten. „Ich erinnere mich noch, dass meine Großmutter zu uns kam und zu meiner Mutter sagte: `Bist du wahnsinnig? Was machst du noch hier? Nimm deine Kinder und verschwinde von hier! Die zionistischen Milizen werden mit uns das selbe machen wie in Deir Yassin!`“ So nahmen meine Großeltern meinen Vater und seine Geschwister und gingen über den Berg in den Libanon. Die Menschen dachten nicht an einen Staat, der ganz einfach anstelle von Palästina kommen wird. Man dachte eher an einen kurzfristigen Zustand, vor dem man seine Familie lieber beschützen sollte. Nachdem die Familie in Sicherheit war, wollte mein Großvater – diesmal alleine – in die Heimat zurückkehren; schließlich würde das Leben dort ja bald wie gewohnt weitergehen. Als er auf dem Weg nach Hause an der libanesischen Grenze angehalten wurde, sagte man ihm, dass die Grenze jetzt geschlossen sei; niemand geht mehr dort hinüber. Das ist bis heute so geblieben.
Die Menschen, die nicht aus Al Bassa flüchteten, wurden später alle vertrieben oder ermordet: Man wollte keine Araber mehr in der Nähe der Grenzen haben. Sie hatten Angst, man würde sich mit Kämpfern aus dem Ausland zusammentun und Widerstand leisten.
Wie so viele andere Dörfer wurde Al Bassa 1948 als Heimat tausender Menschen zerstört. Die Durchsetzung des Zionismus nahm ihren grausamen Lauf – und genau so wie das Dorf, wurde diese Tatsache von den meisten mit den Jahren vergessen oder verdrängt. Doch in der Erinnerung mancher Menschen wird keines dieser beiden Dinge jemals in Vergessenheit geraten.
Die Geschichte von Palästina ist gezeichnet von solchen Schicksalen einzelner Menschen. Auch wenn die gesamte Welt es nicht wahr haben, uns nicht zuhören will oder sich nicht dafür interessiert: Wir werden nicht vergessen und schon gar nicht hinnehmen was der Preis für die Verwirklichung des Staates Israel war.
Ich spreche hier nicht von Tatsachen, die ich in Geschichtsbüchern gelesen habe, oder von irgendwelchen Erzählungen; das ist die Geschichte meines eigenen Vaters, der das alles selbst erlebt hat. Andere Bekannte und Verwandte, die die selbe Geschichte, den selben 21. April 1948 erlebt haben, erzählen das Gleiche, sprechen vom gleichen Dorf; Al Bassa ist da keine Ausnahme – die Erzählungen könnten sinngemäß auch aus diversen anderen palästinensischen Städten und Dörfern stammen. Ist es denn jetzt etwa zu viel verlangt, dass jemand in seinen Geburtsort zurückkehren kann? Nach all dem wird uns das Rückkehrrecht noch verwehrt – genau das gleiche Rückkehrrecht, das dem palästinensischen Volk in der UNO-Resolution 194 gewährt wurde.

Verlangt man jetzt wirklich von mir, diesen Staat als einen gerechten und legitimen anzuerkennen? Nachdem ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, was mit der Heimat meines Vaters gemacht wurde… Nachdem ich dort gestanden habe und auf die Steine gestarrt habe, auf die mein Vater gezeigt hat und sagte „Das war unser Haus“. Wer glaubt, das von mir verlangen zu können? Wer glaubt, das von den Menschen verlangen zu können die 1948 selber auf ihren eigenen Beinen von dort weggegangen sind, die alles zurückgelassen haben? „Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“? Wer will diese Lüge noch glauben?

Abu Shawki

(1) Naqba wird üblicherweise mit „Katastrophe“ übersetzt und bezeichnet die Vertreibung des Großteils der palästinensischen Bevölkerung.

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